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       # taz.de -- IT-Experte wird angezeigt: Kein Dankeschön, sondern Polizei
       
       > Erneut wird ein IT-Experte angezeigt, nachdem er auf eine
       > Sicherheitslücke hinwies. Datenträger wurden beschlagnahmt, der CCC
       > verurteilt das Vorgehen.
       
   IMG Bild: Wer in Deutschland auf Sicherheitslücken hinweist, wird oft kriminalisiert
       
       Die Causa um IT-Expert:innen, die Unternehmen und Parteien auf
       Sicherheitslücken aufmerksam machen und dann selbst kriminalisiert werden,
       geht in die nächste Runde. Ein Programmierer, der im Juni 2021 ein großes
       Datenleck bei der Firma Modern Solution entdeckte, wurde angezeigt, seine
       Firma von der Polizei durchsucht und Geräte beschlagnahmt, [1][wie die
       Tech-Website Golem.de schreibt]. Potenziell waren von der Sicherheitslücke
       700.000 Kund:innen bei großen Online-Marktplätzen wie Check24, Otto oder
       Kaufland betroffen. Transaktionen ließen sich bis zum Sommer 2018 einsehen
       inklusive Anschriften und dazugehöriger Bankverbindungen.
       
       Modern Solution ist ein sogenannter Schnittstellendienstleister, über den
       sich Einzelhändler an Marktplätze im Netz anbinden lassen können. Dafür
       nutzen die Händler eine Software des Unternehmens, die alle Bestellungen in
       Datenbanken auf den Unternehmensservern erfasst. Der IT-Spezialist stieß
       auf die Sicherheitslücke, weil er für einen Einzelhändler bei Modern
       Solution ein technisches Problem beheben sollte. So waren alle für den
       Serverzugriff notwendigen Zugangsdaten im Klartext in der Software
       gespeichert und bei Modern Solutions herunterladbar, und
       Kund:innendaten waren seit Jahren nicht entfernt worden.
       
       Im Sinne [2][des responsible disclosure], also jenes Verfahrens,
       Sicherheitslücken an die zuständigen Stellen weiterzuleiten und erst dann
       öffentlich zu machen, wenn sie behoben sind, kontaktierte der Programmierer
       den Blogger Mark Steier, dessen Webseite [3][wortfilter.de] sich auf
       Onlinehandel spezialisiert hat. Laut Golem.de habe er Modern Solution per
       Mail und Telefon kontaktiert, das Unternehmen hätte die Sicherheitslücke
       allerdings abgestritten und auf weitere Anfragen nicht mehr reagiert.
       
       Daraufhin wand sich Steier [4][in einem Post vom 23. Juni] an die
       Öffentlichkeit, Anfang Juli [5][berichtete auch Spiegel Online]. Laut
       Steier hätte Modern Solution erst nach der Veröffentlichung und Beschwerden
       durch die Händler reagiert. Der Versandhändler Otto stellte jedoch fest,
       dass das System weiter unsicher war, auch nachdem Modern Solution
       vorgegeben hatte, die Lücke gefixt zu haben.
       
       ## Hausdurchsuchung als Dankeschön
       
       Am gleichen Tag wurde Steier eine von Modern Solution [6][für seine
       Kund:innen geschriebene Stellungnahme] zugespielt. Darin wird der
       Programmierer indirekt beschuldigt, Daten abgegriffen zu haben und die
       eigene Verantwortung an der Sicherheitslücke negiert: „Inwiefern eine
       Weitergabe oder weitere Nutzung dieser Daten durch den,ethischen Hacker'
       erfolgt ist und ob es zu weiteren Zugriffen gekommen ist, ist uns derzeit
       nicht bekannt.“
       
       Am 15. September durchsuchte schließlich die Polizei die Firma des
       Programmierers. Fünf Notebooks, drei externe Festplatten, zwei USB-Sticks
       und ein Rechner wurden beschlagnahmt. Auch das Smartphone des Betroffenen
       wurde eingezogen. Ob Modern Solution den Programmierer angezeigt hatte, ist
       anzunehmen, aber nicht belegt. Die Ermittlungen laufen. Um einen Prozess
       finanzieren zu können, wurde eine Fundraising-Aktion aufgesetzt, in kurzer
       Zeit sollen bereits mehr als 5.000 Euro gesammelt worden sein.
       
       Der Chaos Computer Club verurteilt das Vorgehen gegen den Programmierer:
       „Was wir hier sehen, ist leider nur zu alltäglich in Deutschland“, sagt
       Dirk Engling, Pressesprecher des Chaos Computer Clubs. „Statt sich im
       Vorfeld nach Stand der Technik um die Sicherheit der eigenen Infrastruktur
       zu sorgen, simulieren die Betreiber schlecht gepflegter Systeme im
       Nachhinein Aktivität, indem sie Überbringer schlechter Nachrichten
       drangsalieren.“ Es könne laut Engling nicht im Interesse der IT-Sicherheit
       hierzulande sein, ehrenamtlich wirkenden Sicherheitsforschern mithilfe der
       Staatsmacht hinterherzusteigen.
       
       ## Der Fall Lilith Wittmann
       
       Der Fall des angezeigten Programmiers erinnert an den Fall Lilith Wittmann.
       Die IT-Sicherheitsexpertin hatte im Mai 2021 [7][gravierende
       Sicherheitslücken in der CDU-Wahlkampf-App „CDUconnect“ entdeckt] und den
       zuständigen Behörden weitergeleitet: dem Bundesamt für Sicherheit in der
       Informationstechnik, der Berliner Datenschutzbeauftragten und den
       verantwortlichen Stellen in der Union. Daraufhin zeigte die CDU Wittmann
       an, zog nach massivem öffentlichen Druck die Anzeige aber schließlich
       zurück und entschuldigte sich.
       
       Die Staatsanwaltschaft Berlin ermittelte trotzdem weiter gegen die
       Sicherheitsexpertin wegen eines Verstoßes gegen den Paragrafen 202a/b/c
       StGB. Den von der Zivilgesellschaft kritisierten sogenannten
       Hackerparagrafen hatte die Große Koalition 2007 eingeführt. Er stellt das
       Überwinden von Sicherheitshürden etwa durch das Hacken von Passwörtern oder
       selbstgeschriebene Programme unter Strafe. Im September [8][stellte die
       Staatsanwaltschaft das Verfahren schließlich ein, weil der Hackerparagraf
       nicht griff]: Die Daten waren schlicht nicht gesichert, sondern öffentlich
       abrufbar.
       
       ## Ein „totaler Gummiparagraf“
       
       Wegen der mangelnden Datensicherung schaltete sich die Berliner
       Landesdatenschutzbeauftragte ein und untersuchte, ob die CDU-App womöglich
       gegen die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) verstößt. Die Prüfung läuft
       noch (Stand: 15.10.2021). Der Partei droht ein Bußgeld von bis zu 20
       Millionen Euro oder bis zu 4 Prozent des Jahresumsatzes.
       
       [9][Im Interview mit der taz] kritisierte Wittmann den Hackerparagrafen als
       „totalen Gummiparagrafen“, weshalb es in Deutschland auch keine Kultur der
       responsible disclosure gäbe. „In Deutschland ist nicht mal das Rechtssystem
       auf responsible disclosure ausgelegt. Potenziell begehe ich immer, wenn ich
       eine Sicherheitslücke finde, eine Straftat“, sagte Wittmann. Ob das dann
       tatsächlich so angesehen werde, hänge aber vom technischen Verständnis und
       der Interpretation der Staatsanwaltschaft ab.
       
       Das Beispiel des Programmiers und Modern Solution zeigt, „wie dringend wir
       hier eine Veränderung im Rechtsverständnis – weg von der Verfolgung derer,
       die die Lücken finden, hin zu einer Verfolgung der Verursacher – brauchen“,
       sagt die Sicherheitsforscherin.
       
       Nachdem Wittmann [10][auf Twitter auf die Causa um Modern Solution hinwies]
       und implizit forderte, man brauche eine Übersicht für Unternehmen, „die
       sich dauerhaft für responsible disclosures disqualifiziert haben“, bauten
       zwei Hacker:innen die Webseiten „[11][Unverantwortli.ch“] und
       „[12][better save then sorry“], auf der jene Unternehmen und Organisationen
       aufgeführt werden, die sich weigern, am responsible disclosure-Verfahren
       teilzunehmen. Das Unternehmen Modern Solution und die CDU sind vorerst
       Spitzenreiter.
       
       Der Text wurde um ein Statement des Chaos Computer Clubs ergänzt. Letzte
       Aktualisierung: 15.10.2021, 15:14 Uhr
       
       15 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.golem.de/news/nach-datenleck-hausdurchsuchung-statt-dankeschoen-2110-160269.html
   DIR [2] https://en.wikipedia.org/wiki/Responsible_disclosure
   DIR [3] https://wortfilter.de/
   DIR [4] https://wortfilter.de/warnung-datenleck-beim-jtl-partner-modern-solution-gmbh-co-kg/
   DIR [5] https://www.spiegel.de/netzwelt/web/online-marktplaetze-it-experte-entdeckt-informationen-von-700-000-kaeufern-a-7626137c-1d68-4fa2-978e-5d3b60ea8389
   DIR [6] https://wortfilter.de/wp-content/uploads/2021/06/moso-1.pdf
   DIR [7] /Verstoss-von-CDUconnect-gegen-DSGVO/!5791754
   DIR [8] /Moeglicher-Verstoss-gegen-Datenschutz/!5802205
   DIR [9] /Lilith-Wittmann-ueber-Wahlkampf-Apps/!5802119
   DIR [10] https://twitter.com/LilithWittmann/status/1448737265849704452
   DIR [11] https://unverantwortli.ch/
   DIR [12] https://better-save-then-sorry.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Denis Gießler
       
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