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       # taz.de -- Identitätspolitik in linken Szenen: Das Normale ist politisch
       
       > Identitätspolitik ist vielen zuwider, weil sie sich nicht betroffen
       > fühlen und als „normal“ sehen. Über das Verhältnis linker Milieus zu
       > Normalität.
       
   IMG Bild: Bunte Kleidung war in K-Gruppen tabu, sie wollten Normalo-Look: Demo gegen den Vietnamkrieg 1968
       
       Ein breitbeiniger Satz: „Ich bin mittlerweile zum Symbol geworden für viele
       normale Menschen, die ihre Lebensrealität nicht mehr gespiegelt sehen in
       der SPD, die unsicher sind, was sie noch sagen dürfen und wie sie es sagen
       dürfen.“
       
       Autor dieser Worte ist [1][Wolfgang Thierse, 77, ehemaliger Präsident des
       Deutschen Bundestages] und Sprecher des Arbeitskreises Christen in der SPD.
       „Wissen Sie eigentlich, dass normale Leute mir danken für meinen Mut?“,
       fragt er im Zeit-Magazin und beglückwünscht sich selbst für seinen Feldzug
       gegen eine der größten Geißeln der Menschheit: das *.
       
       „Große Teile der Arbeiterschaft haben wir schon verloren“, warnt Thierse.
       „Wollen wir jetzt auch noch alle die ausschließen und verlieren, die das
       Gendersternchen nicht mitsprechen wollen und können?“ Thierse, einst
       Kämpfer gegen die DDR-Diktatur, hat erkannt, wer heute unsere Freiheit
       bedroht: Sprachpolizisten und Tugendterroristen mit ihrem Gender-Newspeak.
       „Jeder soll so reden können, wie ihm der Schnabel gewachsen ist“, befand
       dagegen, nein, nicht Thierse, sondern Kretschmann, Winfried, 72, im Sommer
       im Spiegel.
       
       Polemiken gegen Minderheitenromantik und identitätspolitischen
       Regulierungswahn markieren den Höhepunkt einer neuen Rhetorik des Normalen.
       Die „Normalität“ erlebt eine Renaissance, nicht nur bei Old-school-Sozis.
       Das Normale ist immer statisch gedacht und wird beschworen, um
       Veränderungen zu verhindern – und um das Unnormale, das Andere zu
       markieren, auch „Othering“ genannt.
       
       „Die AfD macht die Unsichtbaren sichtbar“, erklärte im Dezember der
       Soziologe Klaus Dörre dem Tagesspiegel. Die Partei gebe den Arbeitern das
       Gefühl, eine Stimme zu haben, „der Maßstab für Normalität zu sein“.
       
       ## Vom Sponti zum Normalo
       
       Diese neue Normalitäts-Erzählung vernimmt man schon eine ganze Weile. Als
       eine Pionierin kann Cora Stephan gelten. Bereits im Jahr 2017 beugt sich
       die in der Frankfurter Spontiszene großgewordene Autorin runter und lauscht
       den Stimmen der Normalen. In der Neuen Zürcher Zeitung [2][weiß Stephan
       damals die normative Kraft] des Faktischen auf ihrer Seite. „So sieht sie
       halt aus, die Wirklichkeit, egal, ob das den kulturellen Eliten passt oder
       nicht“, schrieb Stephan.
       
       „Der Normalo will seine Ruhe und möchte im Übrigen nicht dauernd beleidigt
       werden. Er macht seine Arbeit, zahlt Steuern, pflegt Hobbys und ein wenig
       Gemeinschaftssinn. Er muss sich nicht jeden Tag neu erfinden und will sich
       auch nicht ständig über alles den Kopf zerbrechen. Die tägliche Revolution?
       Nein danke. Das Private ist politisch? Bitte nicht.“
       
       Die NZZ, auf der Suche nach neuen Zielgruppen, nutzt den angeblich
       unpolitischen Normalo für ihre Zwecke – und hofft so auf Leser vom Typus
       Hans-Georg Maaßen. [3][Der ehemalige Präsident des Bundesamts] für
       Verfassungsschutz lobte das ehedem liberale Blatt mal als Korrektiv zur
       linksgrün gleichgeschalteten BRD: „Für mich ist die NZZ so etwas wie
       Westfernsehen.“
       
       Den Normalo als Verteidiger des Status quo gegen unliebsame Neuerungen
       aufzurufen, das ist aber keine Spezialität von Christen in der SPD, rechten
       Schweizer Zeitungen oder Schwarzgrünen in Baden-Württemberg. Auch von
       traditionsverbundenen Linken wird er reaktiviert.
       
       Der Normalo, das ist eigentlich überflüssig zu erwähnen, tritt stets als
       Mann auf, eine Normala ist nicht normal. Das kennen wir seit Otto
       Normalverbraucher und Erika Mustermann.
       
       Oder schon mal gehört von Mehmet Normalverbraucher? Fatma Musterfrau? Auch
       die taz greift zum N-Wort: „Mit einer Biografie als schwuler, urbaner
       Migrant lässt sich auf den Aufmerksamkeitsmärkten mehr Kapital generieren
       als mit einem Dasein als Normalo in Eisenhüttenstadt.“ [4][Schrieb in
       dieser Zeitung Stefan Reinecke], mit dem mich, so viel
       Sprechpositionstransparenz muss sein, eine längere Geschichte verbindet.
       
       ## Normal ist spießig
       
       Er schreibt seit den 80ern für die taz, war in den 90ern mein Redakteur
       beim Freitag und ist vier Jahre jünger als ich. Gut möglich, dass ein
       schwuler, urbaner Migrant auf den Aufmerksamkeitsmärkten mehr Kapital
       generieren kann – aber auch möglich, dass ein schwuler, urbaner Migrant um
       seine Unversehrtheit fürchten muss, wenn er in Eisenhüttenstadt unter
       Normalos gerät. Ganz zu schweigen von queeren Menschen, Nonbinary- oder
       Transgender Personen – und wie die alle heißen in der nervigen
       Nicht-Normalo-Abkürzungskette: LGBTQxyz…
       
       Historisch betrachtet ist die Renaissance des Normalen ein verblüffendes
       Phänomen. In der 68er-Linken galt der Normalo als uncool: autoritärer
       Charakter, angepasst, bieder, spießig. Das änderte sich mit dem Boom der
       zahlreichen maoistischen Parteien, die aus den Spaltungsprozessen der
       Revolte hervorgingen.
       
       Die Männer aus den K-Gruppen (Frauen gab es da kaum) traten betont normal
       auf, um ihr revolutionäres Subjekt (Objekt wäre präziser) nicht zu
       verschrecken – die Arbeiterklasse. Lange Haare, bunte Klamotten, Rockmusik,
       Drogen, damit wollte die deutsche Working Class nichts zu tun haben. Mit
       ostentativ zur Schau gestellter Normalität glaubten die Politniks von KPD,
       KPD-ML & KBW das Proletariat für die Revolution gewinnen zu können.
       
       Beim Kommunistischen Bund Westdeutschlands absolvierte auch Winfried
       Kretschmann ein paar Jahre lang Schulungen in Normalismus, von denen er bis
       heute profitiert. Nicht zuletzt einer grundnormalen Ausstrahlung verdankt
       der Ex-Maoist seine Popularität. Den Wahlkampf gewannen die Grünen mit
       einem Plakat, das nur Kretschmann zeigt, dazu drei Worte: „Sie kennen
       mich.“ Die Cleverle-Variante der Erkenntnis, nach der der Bauer nichts
       frisst, was er nicht kennt.
       
       Im Abwehrkampf [5][gegen die pauschal so genannte „Identitätspolitik“] mit
       ihrer Pauschal-„Cancel Culture“ berufen sich Kretschmann, Thierse und Co
       auf die Normalos, ganz so wie einst paternalistische Linke auf „die kleinen
       Leute“ oder „den Arbeiter“. Der Normalo fungiert in diesem Manöver – das
       natürlich selbst ein zutiefst identitätspolitisches ist, aber eben eines
       von oben – als Stellvertreter einer tradierten Übersichtlichkeit, einer
       Ordnung ohne Gender- oder Migrations-Trouble.
       
       ## „Modisch“ ist wieder da
       
       Komplementär zum Neuen Normal feiert derzeit ein anderes Adjektiv ein
       Comeback, das länger aus der Mode war: „modisch“. Beim guten alten
       Kulturmagazin Perlentaucher vergeht kein Tag ohne das Lamento über „die
       modische antirassistische Linke …“, „die modische Linke mit ihrem Kult der
       allerkleinsten Differenz“, „die modische Identitätslinke“ oder die
       „modischen akademischen Linken und ihre identitären Ideen“. Der
       Begriffscontainer „modisch“ suggeriert: verführbar, manipulierbar,
       oberflächlich, ich-schwach. Wie das Adjektiv „normal“ hat auch „modisch“
       eine wechselhafte Karriere hinter sich.
       
       In den 60ern und 70ern gehörte es zur Grundausstattung einer schlichten,
       moralisierenden Kapitalismus- und Konsum-Kritik, wie sie unter K-Gruppen
       verbreitet war. Pop und Fashion galten als Teufelszeug, das bloß dem
       großen, systemstabilisierenden Verblendungszusammenhang diene. Jahrzehnte
       später recyclen ältere (Ex-)Linke „(neu)modisch“ als Abwertung gegen das
       lästige „Gedöns“ (Gerhard Schröder) der sogenannten Identitätslinken.
       
       Das Beschwören einer fiktiven Normalität und die pauschalisierende
       Denunziation neuerer, komplizierter Diskurse mit dem Popanz-Wort
       „Identitätspolitik“ hat in diesen alt- und exlinken Milieus offenbar eine –
       Achtung! – identitätsstiftende Funktion. Sie verhindert eine kritische
       Auseinandersetzung mit den vielen Facetten, Irrungen und Wirrungen der –
       nennen wir es mal pauschal: Antidiskriminerungspolitiken. Gerne auch „Woke
       Politics“.
       
       Aus vielen Wortmeldungen dieser [6][doch noch erstaunlich ungecancelten
       Speaker] (Thea Dorn, Svenja Flaßpöhler, Gesine Schwan und Co dürfen sich
       mitgemeint fühlen) spricht der notdürftig als Gedanke getarnte Wunsch,
       diese Mode möge rasch vorüberziehen. Und wir könnten zurückkehren zur –
       Normalität.
       
       1 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Debatte-um-Minderheiten/!5752570
   DIR [2] https://www.nzz.ch/feuilleton/gesellschaft-und-konventionen-ein-lob-auf-den-spiesser-ld.1289391
   DIR [3] /Ehemaliger-Chef-des-Verfassungsschutzes/!5746249
   DIR [4] /Die-taz-die-Polizei-und-der-Muell/!5696446
   DIR [5] /Identitaetspolitik-und-Kritik/!5752621
   DIR [6] /Identitaetspolitik-und-Cancel-Culture/!5756669
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus Walter
       
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