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       # taz.de -- Identitätspolitik und Cancel Culture: Kritische Verweigerung
       
       > Vom Elend des Mainstream-Universalismus und von exklusiver
       > Identitätspolitik. Was KritikerInnen nicht sehen wollen.
       
   IMG Bild: Ein Argument in der Debatte um Identitätspolitik: die Sorge um den Zusammenhalt in Deutschland
       
       In den vergangenen Monaten haben sich immer mehr Personen des öffentlichen
       Lebens gegen die „Identitätspolitik“ ausgesprochen. Sie verweisen auf die
       Gefahren einer „[1][Cancel Culture]“ (Absagekultur) und zunehmender
       Anfeindung, insbesondere durch People of Color (PoC), FeministInnen und
       [2][LGBT]+ AktivistInnen. Sie sind alarmiert über die feindseliger werdende
       Debattenkultur und den Konformitätsdruck. Und sie sorgen sich um den
       gesellschaftlichen Zusammenhalt Deutschlands.
       
       Ein Netzwerk von 70 deutschsprachigen AkademikerInnen hatte sich
       bereits im Februar 2021 zusammengeschlossen, um sich der „Cancel Culture“
       und Political Correctness entgegenzustellen, dem sie ausgesetzt seien. Die
       Mitgliederzahl dieses [3][Netzwerks Wissenschaftsfreiheit] hat sich nun
       mehr als verdreifacht. Auch im [4][deutschen Feuilleton], in der SPD und
       den sozialen Medien werden dazu momentan sehr hitzige Debatten geführt.
       
       Der oftmals exklusive Charakter linker Identitätspolitik wird zwar zu Recht
       kritisiert. Dennoch lassen KritikerInnen oft die wichtigsten Lehren
       dieses Denkansatzes außer Acht: die Sichtbarmachung, Verurteilung und
       Bekämpfung von Marginalisierung, struktureller Diskriminierung und
       mangelnder gesellschaftlicher Teilhabe benachteiligter Einzelgruppen. Daher
       erkennen viele von ihnen auch die Hauptproblematik der Identitätspolitik
       nicht.
       
       Letztere vernachlässigt erstens die Bedeutung von Intersektionalität
       (Verflechtung unterschiedlicher Diskriminierungskategorien) sowie die
       Wichtigkeit identitätsunabhängiger Fachkompetenz. Ihr fehlt zweitens Kritik
       an kapitalistischen Strukturen und identitätsübergreifenden
       [5][sozioökonomischen Ungleichheiten], die ein ganzheitliches Verständnis
       von Diskriminierung und Emanzipation erst ermöglichen.
       
       ## Marginalisierung sichtbar machen
       
       In den letzten Monaten haben diverse öffentliche Personen zu Recht darauf
       hingewiesen, dass (Selbst-)Zensur produktive Diskussionen gefährde; dass
       universelle Werte inklusiver und emanzipatorischer seien als die
       Verteidigung von Partikularinteressen und dass die freie Meinungsäußerung
       nicht an Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Überzeugungen usw. geknüpft
       werden sollte. Dennoch vergessen zahlreiche KommentatorInnen oft, ihre
       Kritik zu kontextualisieren und zu historisieren.
       
       Nur wenige [6][kritische BeobachterInnen] haben die zentralen
       Dimensionen postkolonialer, antirassistischer und feministischer Kritik am
       Mainstreamdiskurs erfasst, nämlich Fragen asymmetrischer
       Herrschaftsverhältnisse, Zwang, Positionalität, mangelnde Anerkennung,
       Repräsentation und Partizipation. Um einige Beispiele zu nennen:
       
       Es ist weithin bekannt, dass das geschlechtsspezifische Lohngefälle in
       Deutschland etwa 20 Prozent beträgt, und es ist anerkannt, dass
       geschlechtsneutrale Sprache Diskriminierung entgegenwirken soll. Die Kritik
       an Sexismus, Misogynie, Patriarchat und Geschlechterungleichheit ist
       zweifellos wesentlich im Kampf für Emanzipation.
       
       Im Bereich der Institutionen haben sich die Geschlechterverhältnisse
       infolge der Kämpfe feministischer und LGBT+-AktivistInnen und
       fortschrittlicher sozialer Bewegungen kontinuierlich verbessert. Obwohl
       noch viel mehr getan werden müsste, gibt es immer mehr Frauen in
       Führungspositionen und Frauenrechte in der Gesetzgebung.
       
       Im Vergleich dazu hat sich der institutionelle Rassismus zum Beispiel auf
       dem Arbeits- und Wohnungsmarkt kaum verbessert, ganz zu schweigen von der
       globalen Reservearmee der Non-Citizens – das heißt „AusländerInnen“ oder
       Geflüchteten ohne bürgerliche Rechte, wohl die am stärksten diskriminierten
       Menschen in der „entwickelten Welt“. In der Geschichtsfakultät, in der ich
       bis vor Kurzem noch arbeitete, gab es zwar relativ viele angestellte
       Frauen, dennoch war ich der einzige nicht weiße Lehrende der Fakultät.
       
       Es gibt viele sozial- und geisteswissenschaftliche Institute in Deutschland
       und Europa, wo dies genauso ist. In Stellenanzeigen wird zwar häufig darauf
       hingewiesen, dass Frauen und Menschen mit Beeinträchtigungen bei gleicher
       beruflicher Eignung bevorzugt berücksichtigt würden. Dies ist angesichts
       der langanhaltenden Diskriminierung auch notwendig. Aber nicht weiße und
       sozial benachteiligte Menschen werden nur selten vorrangig berücksichtigt.
       Das ist ein klares Defizit.
       
       ## Institutioneller Rassismus ist unverändert
       
       Wenn der [7][SPD-Politiker Wolfgang Thierse] nun die Praxis des Blackfacing
       verteidigt, während der [8][Philosoph Markus Gabriel] postuliert, dass
       weiße SchauspielerInnen die Rolle eines schwarzen Freiheitskämpfers wie
       Martin Luther King spielen dürfen sollten, verkennen sie, dass nicht weiße
       AkteurInnen bereits sozial benachteiligt und in deutschen Theaterhäusern
       sowie anderen Institutionen hochgradig unterrepräsentiert sind.
       
       Aus dem Zusammenhang gerissene und enthistorisierte Phrasen im Gewand des
       aufklärerischen Universalismus wurden in den letzten Jahren des Öfteren
       gegenüber feministischen und antirassistischen Bewegungen angeführt. Als
       Antwort auf den Slogan [9][Black Lives Matter] fragten einige
       selbsternannte UniversalistInnen: „Aber müssten wir nicht sagen, dass alle
       Leben wichtig sind?“ Die politische Aktivistin Angela Davis, hat im Jahr
       2016 darauf erwidert:
       
       „Wenn tatsächlich jedes Leben von Bedeutung wäre, müssten wir nicht
       nachdrücklich verkünden, dass Black Lives Matter?“ Interessant an der
       jüngsten Kritik zur Identitätspolitik ist auch die opportunistische und
       heuchlerische Verteidigung humanistischer Werte durch viele Rechte und
       Linksliberale. Diese verteidigen die Meinungsfreiheit häufig nur, wenn sie
       die eigenen Überzeugungen betrifft.
       
       Kaum ein:e dieser KommentatorInnen sträubte sich gegen die Sperrung
       der Twitter- und Facebook-Konten von Trump, die Sperrung des YouTube-Kanals
       des „Verschwörungstheoretikers“ [10][Ken Jebsen] oder das Auftrittsverbot
       von antizionistischen und israelkritischen AktivistInnen, MusikerInnen
       und Intellektuellen. Die Schriftstellerin Evelyn Beatrice Hall, die 1906
       Voltaire wie folgt paraphrasierte:
       
       „Ich lehne ab, was Sie sagen, aber ich werde bis auf den Tod Ihr Recht
       verteidigen, es zu sagen“, würde sich vermutlich im Grab umdrehen. Oder mit
       den Worten der Revolutionärin Rosa Luxemburg: „Freiheit ist immer Freiheit
       des anders Denkenden.“ Allerdings gibt es auch gravierende Mängel innerhalb
       der linksliberalen Identitätspolitik. Das wichtigste Problem scheint mir
       die antiemanzipatorische Ideologie eines erheblichen Teils der
       AnhängerInnen dieser Strömung zu sein.
       
       ## Meinungsfreiheit? Nur wenn es um die eigene geht
       
       Zahlreiche weiße FeministInnen beispielsweise setzen sich kaum für die
       Menschen- und Bürgerrechte nicht weißer Frauen, geschweige denn
       marginalisierter Gruppen wie ImmigrantInnen ein. Darüber hinaus lassen
       selbst diejenigen, die Intersektionalität befürworten, oft die Kategorie
       der Klasse unberücksichtigt und umgekehrt.
       
       Daher ist es nicht ungewöhnlich, dass viele FeministInnen, LGBT+- und
       PoC-AktivistInnen die weiße ArbeiterInnenklasse selten als
       potenzielle Verbündete betrachten, während die ArbeiterInnenbewegung
       und die „Alte Linke“ es häufig versäumt haben, bedeutende Kategorien wie
       race, Geschlecht und Religion in ihren Kampf mit einzubeziehen.
       
       Hinderlich ist auch, wenn ExpertInnen abgelehnt werden, die nicht zu der
       Gruppe gehören, zu der sie arbeiten. Anders gesagt, wenn ein Mann über
       Frauen schreibt, ein weißer Autor Texte einer schwarzen Person übersetzt,
       oder eine reiche Person eine arme Person im Theater spielt, sollte dies
       zulässig sein, solange diese Person es nicht an Empathie und Qualifikation
       vermissen lässt. Gleichzeitig müssen die Betroffenen endlich angemessen
       vertreten sein.
       
       Zu guter Letzt trägt die Klassenblindheit gewisser Teile
       identitätspolitischer AktivistInnen zu einer verkürzten Analyse der
       sozioökonomischen Strukturen und Herrschaftsverhältnisse bei. Man nehme als
       Beispiel die berühmt-berüchtigte „kulturelle Aneignung“: Eine nicht
       unerhebliche Anzahl von „[11][Critical Whiteness]“- und postkolonialen
       AktivistInnen und AkademikerInnen verurteilt scharf, wenn weiße
       Menschen Dreadlocks, „ethnische“ Kleidung oder Accessoires tragen.
       
       ## Empathie und Qualifikation vorausgesetzt
       
       Das Konzept der kulturellen Aneignung verfehlt jedoch die Quintessenz der
       Problematik. Die Crux liegt darin, dass der Kapitalismus auf
       Kommodifizierung (Warenförmigkeit), Verwertung und Kommerzialisierung
       basiert. Somit wird alles, was verkauft werden kann, einschließlich
       „exotischer“ Produkte und Stile, kommerzialisiert, um bestimmte
       VerbraucherInnenbedürfnisse zu befriedigen und Profite zu
       generieren.
       
       Diese destruktive Tendenz zur Kommerzialisierung und Kapitalisierung sowie
       zum naturzerstörerischen Konsumismus geht mit imperialistischen und
       ungleichen globalen Macht- und Herrschaftsverhältnissen einher. Dies
       impliziert, dass die – meist weißen – Wohlhabenden sich die Aneignung
       „exotischer“ Waren und Lebensstile leisten können, oft auf Kosten der
       Superarmen.
       
       Im Allgemeinen sollte die freie Meinungsäußerung, einschließlich
       künstlerischer Freiheit, für alle Individuen und Gruppen gleichermaßen
       gelten, unabhängig von Inhalt, Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, Klasse und
       religiösem Glauben. Dazu gehört das Recht auf Blasphemie. Kein Mensch
       sollte ausgeladen oder von Medienplattformen verbannt werden. Jede/r soll
       öffentlich auftreten dürfen.
       
       Ausnahme bildet dabei Gewaltandrohung sowie extrem diskriminierende
       Verleumdung, Beleidigung, Volksverhetzung, Hassrede und die Verbreitung von
       Lügen. Aber Themen wie Marginalisierung, strukturelle Diskriminierung,
       Positionalität, fehlende Anerkennung und Repräsentation sowie die Forderung
       nach Teilhaberechten sollten ernst genommen werden. Das ist ein
       Hauptverdienst linker Identitätspolitik.
       
       Auf der anderen Seite sollten AnhängerInnen der neuen (links-)liberalen
       Identitätspolitik die politische Ökonomie von Ausbeutungs- und
       Klassenverhältnissen besser berücksichtigen. Ihr häufiger Ausschluss weißer
       (männlicher) Verbündeter, vor allem innerhalb der ArbeiterInnenklasse
       (aber auch umgekehrt) geht zulasten von Emanzipationsprozessen. Wie Karl
       Marx bereits 1844 betonte, sind „alle Bedingungen zu stürzen, in denen der
       Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein
       verächtliches Wesen ist.“
       
       21 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Identitaetspolitik-und-Kritik/!5752621
   DIR [2] /Sexuelle-Identitaet-soll-ins-Grundgesetz/!5597468
   DIR [3] /Netzwerk-Wissenschaftsfreiheit/!5747691
   DIR [4] https://www.zeit.de/2021/09/pressefreiheit-journalismus-gesellschaft-spaltung-politik
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