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       # taz.de -- Illegale Abtreibungen in den 70ern: Ihr Codewort war „Picknick“
       
       > Eine Gruppe junger Linker nahm in den 70ern illegale Abtreibungen vor.
       > Erstmals reden nun vier der Frauen darüber.
       
   IMG Bild: Christiane war in den 70ern Medizinstudentin
       
       Anfang der siebziger Jahre wurden Schwangerschaftsabbrüche in der
       Bundesrepublik verfolgt. In einer westdeutschen Universitätsstadt gründeten
       junge Linke eine Gruppe, die heimlich Abtreibungen vornahm. Sie trafen sich
       dafür in WG-Zimmern, benutzten Codewörter und umgebaute Fahrradpumpen.
       Vierzig Jahre später haben wir vier Frauen der Gruppe zusammengebracht:
       Dora und Christiane, die damals Medizin studierten – und Gela und Beate,
       die einen Abbruch bei ihnen hatten. Zum ersten Mal sprechen sie öffentlich
       darüber.
       
       Die Frauen möchten anonym bleiben. Dora und Christiane, die als Ärztinnen
       gearbeitet haben, sind heute im Ruhestand. Trotzdem fürchten sie noch, ihre
       ehemaligen KollegInnen in Bedrängnis zu bringen: Die Zahl der ÄrztInnen,
       die heute Schwangerschaftsabbrüche durchführen, nimmt ab. Und viele
       derjenigen, die Abbrüche vornehmen, sind Anfeindungen von
       AbtreibungsgegnerInnen ausgesetzt.
       
       Als wir uns im Juni in der Wohnung einer der vier Frauen treffen, sprechen
       wir fast sechs Stunden. Auf dem Wohnzimmertisch sind Erinnerungsstücke
       ausgebreitet: medizinische Instrumente, Schwarzweißfotos und Hefte mit
       Aufzeichnungen über den weiblichen Zyklus.
       
       Gela: Als ich 1970 das erste Mal schwanger wurde, war ich 20. Ich war in
       der Ausbildung und viel zu jung, mein Freund war Student, ich wollte das
       Kind nicht. Die Gruppe um Dora und Christiane gab es noch nicht. Aber ein
       Arzt in der Nähe machte Abbrüche. Man wusste, dass es solche Ärzte gab,
       aber offizielle Sprechstunden hatten die natürlich nicht. Alles war ganz
       mysteriös.
       
       Christiane: Für eine Abtreibung drohte ja nicht nur den Schwangeren eine
       Strafe, auch auf Durchführung und Beihilfe standen mehrere Jahre Gefängnis.
       
       Gela: Ich bin da also mit dem Kindsvater hin, und der Arzt sagte, er könne
       momentan gar nichts machen, er sei unter Beobachtung.
       
       Dora: Ich weiß noch, dass ich irgendwann Mitte der Siebziger vorm Bahnhof
       stand und Flugblätter verteilt habe. Damals war genau dieser Arzt
       erschossen worden, und alle hatten Angst, dass jetzt die Kartei mit den
       Namen seiner Patientinnen gefunden wird.
       
       Gela: Ich hab dann meiner Mutter erzählt, dass ich keinen Ausweg weiß. Sie
       war sehr solidarisch mit mir, sie hatte nach dem vierten Kind selbst
       abgetrieben, mit einem alten Hebammentrick, wie es hieß. Ihre Mutter hatte
       ihr dabei geholfen. Das haben wir bei mir also auch probiert.
       
       Christiane: Als Medizinstudentinnen wussten wir damals, dass immer mal
       wieder Frauen nach einer illegalen Abtreibung in die Kliniken kamen.
       Frauen, die einen Abbruch hatten, der nicht vollständig war, oder eine
       Gebärmutterentzündung.
       
       Gela: Meine Mutter hat einen runden, ummantelten Gummi besorgt, mit dem man
       eigentlich die Arme und Beine von Puppen an deren Körpern befestigt hat.
       Ich hab versucht, den Gummi in meinen Muttermund reinzudrücken. Bestimmt
       vier Stunden lang, immer wieder, das war wirklich grausam. Die Theorie war:
       Wenn der Muttermund durch den Gummi geöffnet wird und so Luft reinkommt,
       löst sich der Embryo ab. Es hat nicht funktioniert, alles war wund. Ich war
       wirklich verzweifelt.
       
       Christiane: Es gab auch Gynäkologen, die illegale Abbrüche technisch gut
       gemacht haben, als Typen aber unmöglich waren. Die haben die Frau zur Sau
       gemacht oder gequält.
       
       Gela: Ich bin dann zum Asta gegangen und hab gefragt, wo die Frauen
       hingehen, die ungewollt schwanger werden. Das waren nur Männer dort, die
       getan haben, als sei ich ’ne Schwerverbrecherin. Sie sagten, da gibt es
       zwei Möglichkeiten: die teure Variante England und die günstige Variante
       Jugoslawien, ein sozialistisches Land, wo Abtreibungen eigentlich
       unproblematisch waren. Holland kam erst später.
       
       Dora: Dort konnten ungewollt Schwangere aus Deutschland ab 1971 eine
       Abtreibung bekommen.
       
       Gela: Meine Mutter und ich sind also nach Jugoslawien gefahren. Ljubljana
       war wirklich crazy. Der Typ hat uns im Dunkeln vor der Klinik getroffen und
       wollte als Erstes das Geld. Ich sollte am nächsten Tag ohne meine Mutter
       wiederkommen, hat er gesagt, und das Gesicht von dem Menschen, der den
       Abbruch macht, dürfe ich nicht sehen. Der trage so eine Art Maske. Meine
       Mutter hat gleich gesagt, das machen wir nicht. Wir hatten noch eine zweite
       Adresse in Zagreb, wo ein Paar in seiner Praxis Abtreibungen gemacht hat.
       Ich hatte eine Vollnarkose, aber hab noch was mitbekommen. Mir ist die
       ganze Zeit irgendwas unten rausgetropft, vielleicht war es Gewebe, das
       ausgeschabt wurde. Ich hab das Geräusch noch im Ohr, das war so ein dunkles
       Blubb-blubb.
       
       Christiane: Grausig.
       
       Gela: Zusammen hat das bestimmt drei, vier Tage gedauert und viel Geld
       gekostet. Danach war ich einfach nur glücklich, dass es vorbei war. Meine
       Mutter hat gesagt, jetzt musst du langsam machen, dich schonen und so. Aber
       ich dachte, nee, nee, und bin mit meinem Freund direkt in die Disko.
       
       Christiane: Wir haben im Winter 1975 mit den Schwangerschaftsabbrüchen
       angefangen. Damals war ich 23 und studierte Medizin. Dora und ich hatten
       uns an der Uni kennengelernt, dort bin ich auch in die politischen Gruppen
       reingerutscht. Ich war eher so auf der Sponti-Seite. In den Semesterferien
       hab ich zum Geldverdienen in der Gynäkologie gearbeitet, als
       Pflegehelferin. Wir wussten natürlich, dass die Abbrüche ein Risiko waren:
       Unser künftiger Beruf als Ärztinnen stand auf dem Spiel. Außerdem war der
       Paragraf zur Bildung einer kriminellen Vereinigung ständig Thema. Es war ja
       die Zeit der RAF-Verfolgung.
       
       Dora: Natürlich macht es was mit einem, dass man illegal arbeitet. Ich
       hatte schon paranoide Gedanken, dass wir mal auffliegen. Wir kannten die
       Frauen ja nicht, die zu uns kamen. Wir hatten Angst, abgehört zu werden,
       und haben nur Telefonzellen benutzt, um mit den Frauen zu sprechen.
       Gleichzeitig fühlten wir uns eingebettet in die linke Bewegung. Ich dachte,
       wenn was passiert, stehen die Massen vor dem Gefängnis und rufen: „Lasst
       die Dora frei!“
       
       Christiane: Wir waren die Generation der Nach-68er und ständig auf Demos.
       Vietnam war noch nicht lange her, Krieg, Atomkraft, Überbevölkerung … Wir
       lebten im Überfluss, während anderswo die Menschen hungerten.
       
       Dora: Die Welt war schlecht, und wir waren alle ein bisschen depressiv. Das
       war so die Grundstimmung unter den Linken: hängende Mundwinkel.
       
       Christiane: Viele sagten, in diese Welt muss man nicht noch Kinder setzen.
       
       Beate: Aber aus den Schlechtigkeiten ist viel entstanden, die Frauen-,
       Schwulen- und die Anti-Atom-Bewegung, Wohngemeinschaften, Krabbelgruppen.
       Und unser Kampf um den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen.
       
       Dora: Anfangs haben wir bloß Frauen beraten und sie mit Klinikadressen in
       Holland versorgt. Irgendwann dachten wir: Warum jede einzeln? Also haben
       wir Busfahrten organisiert. Der erste Bus 1975 war wie eine Demo, mit
       Plakaten und von der Presse begleitet.
       
       Christiane: Aber dafür musstest du Verbindungen haben, du musstest Geld
       haben. So ein Abbruch in Holland hat damals 200 bis 300 Mark gekostet. Du
       musstest Zeit haben, wegzufahren.
       
       Dora: Wir haben dann einmal die Woche etwa 20 Schwangere aus der Region
       nach Holland gebracht. Das war Stress, man musste um vier Uhr aufstehen.
       Wir sind in eine Tagesklinik gefahren, in der Nähe von Den Haag. Während
       wir auf die Frauen gewartet haben, konnten wir manchmal für zehn Minuten
       die Füße ins Meer hängen. Irgendwann sagten einige in der Gruppe: Das
       müssen wir doch auch selbst können.
       
       Christiane: Unser Codewort für die Frauen war „Picknick“. „Am Samstag um 11
       Uhr, wir treffen uns bei dir.“ Der Korb mit unseren Instrumenten war der
       „Picknickkorb“. Das war so ein großer geflochtener Handarbeitskorb, den
       konnte man aufklappen, da war das ganze Zeug drin. Die Instrumente, die
       Schüssel für das Gewebe, das hat ganz schön geklappert beim Transport.
       
       Dora: Diese Horrorgeschichten mit den Stricknadeln, die Frauen in ihre
       Gebärmutter einführen, um selbst abzutreiben, waren da schon nicht mehr so
       präsent – es gab dann ja Holland.
       
       Christiane: Uns ging es um Frauengesundheit, wir wollten konservativen
       Frauenärzten etwas entgegensetzen.
       
       Dora: Ich war der Meinung, die Frauenbewegung braucht Frauenärztinnen. Wir
       hatten Verbindungen zur linksradikalen Frauengruppe „Gruppe Brot und Rosen“
       nach Berlin, und zu Consciousness-Rising-Gruppen in Deutschland und den
       USA.
       
       Christiane: Wir haben uns also selbst untersucht, mit dem Spekulum, haben
       Aufzeichnungen gemacht und Tabellen geführt.
       
       Beate: Ich habe noch alte Tagebücher, in denen ich mir genau notiert habe,
       wie mein Zyklus abgelaufen ist. Zum Beispiel: Der Muttermund ist leicht
       geöffnet, weißer Schleim.
       
       Christiane: Es ging darum, einen Zugang zum eigenen Körper zu bekommen. Wir
       haben das in der Gruppe gemacht, saßen zusammen auf dem Boden oder auf
       Matratzen. Der weibliche Körper war noch tabu, man hat nicht so genau
       hingeguckt, und die Gynäkologen waren überwiegend Männer.
       
       Dora: Es gab überhaupt keine Worte. Man hat nur „da unten“ gesagt.
       
       Beate: Es gab total viele Auseinandersetzungen zwischen Männern und Frauen.
       Da ging es um die Entwicklung einer eigenen Identität, um Selbstbewusstsein
       und Selbstbehauptung. Die Frauen haben ihre Meinung gesagt, wurden aber
       einfach übergangen. Ständig gab es Diskussionen mit den Männern, auch den
       Liebschaften, die man hatte. Die Frauengruppen waren dazu da, dass wir uns
       frei äußern konnten.
       
       Gela: Männer hatten damals eine absolute Übermacht. Die waren überall,
       saßen in allen wichtigen Positionen. Alles, was wir durften, war Zuhören.
       
       Christiane: Abtreibungen machen war natürlich viel sensibler als
       Selbstuntersuchungen. Wir haben uns sehr zurückhalten müssen und konnten
       nicht laut sagen, was wir tun. Es gab kein Internet, kein Handy, nur
       Mundpropaganda. In den entsprechenden Kreisen waren wir bekannt, sonst
       hätten die Frauen uns ja nicht gefunden. Meist haben wir die Abbrüche zu
       dritt gemacht, dazu natürlich die Frau und eine Freundin von ihr.
       
       Beate: Ich weiß nicht mehr viel von meinem Abbruch, nur, dass es in meiner
       WG war. Das war gut für mich, ein guter Ort. Es ist eine Entscheidung, so
       eine Schwangerschaft abzubrechen. Ich hatte schon den Wunsch, eine
       dauerhafte Beziehung mit einem Mann aufzubauen, aber mit dem damaligen war
       das nicht möglich. Wir hatten in der WG keine eigenen Zimmer, sondern haben
       alles gemeinsam genutzt. Man konnte in jedem Zimmer schlafen. Ein Zimmer
       war vom Bett her am geeignetsten für den Abbruch, von der Position her.
       
       Christiane: Ich war bei Beate auf jeden Fall dabei. Aber ich weiß nicht
       mehr, ob ich den Abbruch selbst gemacht oder nur geholfen habe. Da sieht
       man, wie tief ich das verdrängt habe.
       
       Beate: Eine meiner Mitbewohnerinnen hat mir fest die Hand gedrückt.
       
       Dora: Wir hatten eine Fahrradpumpe, eine Frau musste neben dem Bett stehen
       und auf Kommando pumpen. Mal mehr, mal weniger. Das war so eine Pumpe, auf
       der man stehen konnte, wir hatten die umgebaut. Die war mit einem Schlauch
       verbunden, der in eine Flasche mit zwei Öffnungen führte, an der anderen
       Seite war der Absaugschlauch. Das Gewebe floss dann in die Glasflasche oder
       eine Schüssel mit Wasser. Das haben wir uns hinterher genau angesehen, um
       sicherzustellen, dass die Fruchtblase vollständig und die Plazenta raus
       ist. Dann musste man fühlen, ob die Gebärmutter ganz leer ist.
       
       Beate: Man wurde gefragt, ob man sich das ansehen möchte. Ich hab es mir
       angeschaut, ich hab darüber auch Abschied genommen.
       
       Dora: Am Ende haben wir das Gewebe ins Klo gekippt. Wir haben Abbrüche bis
       zur zehnten Woche gemacht. Ganz genau konnte man das gar nicht bestimmen,
       manchmal war die Schwangerschaft doch weiter. Dann wurde es schwer mit dem
       Absaugen, wenn die Kanülen nicht weit genug waren.
       
       Christiane: Die Instrumente haben wir teils aus den Kliniken geklaut, die
       Spekula, Zangen und so. Irgendwer hat immer irgendwo etwas abgegriffen. Die
       Kanülen haben wir in den USA bestellt. Das war schwierig, wir konnten ja
       nur wenige bestellen. Die waren teuer, und es sollte nicht auffallen. Wir
       haben sie also sterilisiert und mehrfach benutzt. Erst wenn sie rau wurden,
       haben wir sie weggeschmissen. Das finde ich heute problematisch und würde
       es unter hygienischen Aspekten nicht mehr machen. Zur Dehnung des
       Muttermunds haben wir Bougierstifte verwendet, die zur Harnröhrenweitung
       bei Männern benutzt werden. Die Instrumente haben wir vor dem Einsatz mit
       Alkohol übergossen und abgebrannt, das Plastikmaterial in desinfizierende
       Lösungen gelegt.
       
       Dora: Wir haben uns in Lehrbüchern kundig gemacht, wann Bakterien
       absterben, wie lange es dafür wie heiß sein muss.
       
       Christiane: Bei jedem Eingriff musste eine Person dabei sein, die
       medizinisch vorgebildet war. Ich war einmal in der Woche an der
       gynäkologischen Ambulanz, da habe ich bei einer sehr netten Kollegin viel
       gelernt – zum Beispiel, wie man sicher untersucht. Das war sehr wichtig.
       Oder auch das Anhaken des Uterus mit der Zange, damit er nicht wegrutscht.
       Ich erinnere mich, dass ich das unangenehm fand, das tut ja auch der Frau
       weh.
       
       Dora: Und dieses „Klack“-Geräusch …
       
       Christiane: Wir wollten von den Ausschabungen weg. Es gab ja jetzt die
       schonendere Absaugmethode und wir haben nicht eingesehen, dass die für
       Frauen in Deutschland nicht zugänglich sein sollte. Dora und ich sind im
       März 1976 nach Rom gefahren, um da in einer Gruppe zu lernen, die mit den
       italienischen Linken von Lotta Continua verknüpft war. Da gab es einmal die
       Woche Veranstaltungen, bei denen Frauen sich anmelden konnten, um dann auf
       verschlungenen Wegen in irgendwelche alten Villen gefahren zu werden, in
       denen die Abbrüche gemacht wurden.
       
       Dora: Was wir gemacht haben, war okay. Obwohl ich inzwischen so viele Jahre
       unter dem Einfluss der Schulmedizin hinter mir habe, schaue ich nicht mit
       Entsetzen auf meine Vergangenheit. Wir hatten Regeln und Standards und ich
       denke: Ja, das kann man machen.
       
       Christiane: Die Angst, dass etwas schiefgeht, war trotzdem immer da.
       
       Dora: Wir hatten nur eine einzige medizinische Komplikation. Eine aus
       unserer Gruppe, die den Eingriff damals gemacht hat, hat etwas getan, das
       gegen unsere Regeln verstieß: einen Abbruch bei einer Frau, die seit
       mehreren Tagen blutete. Weil ja auch medizinische Laiinnen in der Gruppe
       waren, war Konsens, dass wir nur etwas machen, wenn alles in Ordnung ist.
       Wenn die Frau schon blutet, kann es sein, dass die Gebärmutter so
       butterweich ist, dass man etwas kaputt macht. So war es dann: Sie hat die
       Gebärmutterwand durchstoßen, und die Frau musste ins Krankenhaus. Für die
       Frau aus unserer Gruppe, der das passiert ist, war das so schlimm, dass sie
       keine Abbrüche mehr machen wollte.
       
       Christiane: Die Frau, die den Abbruch hatte, hat das überstanden. Aber
       wegen solcher Risiken waren wir sehr streng in der Auswahl, wer bei uns
       eine Abtreibung bekommen kann. Es durfte keine Komplikationen gegeben
       haben, und wir haben die Frauen gründlich untersucht: Wie groß ist die
       Gebärmutter, wo liegt sie. Ultraschall gab es noch kaum. Wenn wir nach dem
       Tastbefund und der Anamnese der Meinung waren, dass wir es nicht risikolos
       machen können, haben wir es nicht gemacht.
       
       Beate: Nach meinem Abbruch wurde ich selbst Teil der Gruppe. Das war der
       Wunsch, das Konzept: dass wir das selbst lernen, auch die medizinischen
       Laien. Ich fand das gut. Später habe ich selbst Abbrüche gemacht, das war
       natürlich ein Lernprozess – die Zange in den Muttermund zu setzen, ihn zu
       weiten, und dann das Absaugen. Das ging ganz langsam, wir mussten ja am
       lebenden Objekt lernen. Es war auch eine Entscheidung, zu sagen, jetzt
       fühle ich mich sicher genug. Beim ersten Mal hatte ich das Gefühl, eine
       sehr, sehr große Verantwortung zu tragen.
       
       Gela: Ich hatte noch ein zweites und drittes Mal selbst einen Abbruch, da
       war ich schon Teil der Gruppe. Mit der Pille hatte ich im Zuge der
       Frauenbewegung wegen der Nebenwirkungen aufgehört und hab mit Diaphragma
       verhütet oder mit Kondomen. Die hat man aber selten eingefordert. Die
       Männer haben von sich aus nichts getan, das war Frauensache. Man hat
       überhaupt nicht darüber gesprochen. Als die zweite Schwangerschaft passiert
       ist, wusste ich genau, heute kann ich keinen Sex haben, aber ich hab mich
       nicht getraut zu sagen, dass er ein Kondom nehmen muss. Christiane war bei
       beiden Abbrüchen dabei. Beide haben in meinem Zimmer stattgefunden, in
       einer gemischten Achter-WG. Im Vergleich zu Jugoslawien war alles
       wunderbar. Die Männer haben etwas Schönes gekocht, die Frauen die
       Abtreibung gemacht.
       
       Christiane: Der Mann durfte nur dabei sein, wenn die Frau das wollte und
       wir ein gutes Gefühl mit ihm hatten. Es gab ja auch Frauen in
       Gewaltsituationen. Einmal hatten wir richtige Probleme, weil es länger
       dauerte. Plötzlich kam der Mann und wollte in die Wohnung, er hat an die
       Tür gehämmert – durfte aber auf keinen Fall wissen, was da gerade
       passierte. Wir machten eine Pause, waren ganz still und haben so getan, als
       ob niemand da wäre. Wir hatten fürchterliche Angst.
       
       Gela: Mir ist vor lauter Schreck eine Linse aus dem Auge gesprungen. Wir
       hatten auch Angst, dass er die Polizei ruft.
       
       Christiane: Irgendwann verschwand er, und wir konnten den Abbruch noch
       beenden.
       
       Beate: Für viele Frauen, die keinen Zugang zu Gruppen wie unserer hatten
       oder kein Geld, waren ungewollte Schwangerschaften eine Katastrophe.
       Alleinstehend schwanger, und das vielleicht noch auf dem Land –
       Katastrophe. Wenn du Geld hattest, gab es wenigstens noch Holland, aber das
       merkt in so einem Dorf ja jeder, wenn du drei Tage weg bist. Oder du bist
       halt in die nächste Kleinstadt gefahren und hast dir einen gesucht, der das
       auf dem Küchentisch gemacht hat, wie es hieß. Aber das war nicht nur
       illegal, sondern auch gefährlich; scheiße.
       
       Christiane: Später hab ich eine Zeit lang als Ärztin bei Pro Familia
       gearbeitet. Da musste ich mich sehr zurückhalten, wenn über illegale
       Abbrüche und über feministische Aktivistinnen diskutiert wurde. Denn wir
       haben ja auch illegale Abtreibungen gemacht. Aber anders als viele Pfuscher
       im Hinterzimmer haben wir versucht, es für die Frau so gut wie möglich zu
       gestalten. Es war geheim, aber die Frauen durften aussuchen, wer dabei war,
       wann und wo es passiert.
       
       Dora: Wir haben immer sauber und steril gearbeitet. Wir haben keine
       Infektionen verursacht, kannten die Anatomie und wussten, wo wir mit dem
       Röhrchen rein- und wann wir aufhören müssen. Das ist bei den
       Küchentischabtreibungen oft schiefgegangen. Ein anderer wichtiger
       Unterschied war, dass die Entscheidung der Frau, jetzt kein Kind zu wollen,
       in unserer Gruppe akzeptiert war.
       
       Gela: Und dass es umsonst war. Also auf Spendenbasis, weil die Kanülen ja
       bezahlt werden mussten. Ich selbst hab dann nur eine einzige Abtreibung
       gemacht, aber ich war bei ungefähr zehn dabei.
       
       Dora: Ich hab vielleicht 20, 30 illegale Abbrüche gemacht.
       
       Christiane: Wir haben sehr umfassend aufgeklärt und den Frauen gesagt,
       worauf sie achten müssen. Wir haben allen Antibiotika gegeben, und für den
       Fall, dass sie Fieber bekommen hätten, hätten sie gewusst, was sie wann
       nehmen sollten. Wir kannten an zwei oder drei Krankenhäusern linke Ärzte,
       an die hätten wir uns in Notfällen wenden können.
       
       Dora: Am Folgetag und zwei Wochen später haben wir dann noch mal
       telefoniert. Getroffen haben wir die Frauen allerdings nicht noch mal. Es
       sei denn, sie wollten in der Gruppe mitmachen.
       
       Christiane: Direkt hinterher haben wir aber immer noch zusammengesessen und
       etwas gegessen. Das war schön für alle. Das war so ein Moment des
       Aufatmens.
       
       Gela: Ich find toll, was wir gemacht haben. Trotzdem war ich froh, als es
       1978 dann vorbei war. Das war trotz allem belastend.
       
       Dora: Du konntest ja auch nur mit ausgewählten Freunden darüber reden, nur
       mit ganz wenigen. Den meisten Menschen konntest du gar nicht erzählen,
       womit du dich beschäftigst.
       
       Gela: Die Gruppe ist dann einfach eingeschlafen.
       
       Dora: Es gab ja so langsam auch bei den Ärzten in Deutschland bessere
       Methoden, das Absaugen setzte sich mehr und mehr durch. Und vor allem war
       ab 1976 ein straffreier Schwangerschaftsabbruch auch bei sozialer Notlage
       der Frau möglich. Vorher ging das nur aus medizinischen Gründen, nach einer
       Vergewaltigung oder bei einer Behinderung. Pro Familia stieg in die
       Schwangerschaftskonfliktberatung ein, und allmählich konnten Frauen einen
       guten Abbruch in einer angemessenen Zeit bekommen.
       
       Christiane: Als wir aufgehört haben, hatten wir noch die Kanülen. Wir
       hatten Angst, dass sie jemand im Müll entdeckt, wenn wir sie einfach
       wegwerfen. Also haben wir die peu à peu zerschnitten. So tief saß die
       Angst, doch noch erwischt zu werden. Wir haben danach auch nie darüber
       gesprochen.
       
       Dora: Aber heute denke ich: Wir können das doch nicht mit ins Grab nehmen.
       
       Christiane: Dass ich mich so schlecht erinnere, liegt ja nicht nur an den
       vierzig Jahren, die seitdem vergangen sind. Ich musste meine illegale Zeit
       verdrängen. Bei Pro Familia gab es Leute, bei denen ich gern gewollt hätte,
       dass sie es wissen – aber es wäre eine Katastrophe gewesen, wenn das
       rausgekommen wäre. Dann war es lange nicht mehr so ein relevantes Thema für
       mich. Nur bei Umzügen habe ich mich immer mal gefragt, wo ich jetzt diesen
       Picknickkorb hintue. Er stand noch lange hinten im Schuppen. Vor zehn
       Jahren habe ich ihn weggeschmissen.
       
       Dora: Politisch waren wir natürlich ein bisschen naiv. Wir dachten, wir
       fangen an, und dann breitet sich das aus, und irgendwann machen alle selbst
       Abtreibungen. Das war die Stimmung, davon waren wir getragen. Wir waren
       Teil der Bewegung, die den Paragrafen 218 abschaffen wollte.
       
       Gela: Ein radikaler Teil.
       
       Dora: Ein klandestiner Teil.
       
       Beate: Ich liebe es, aktiv etwas anzupacken.
       
       Dora: Frauen nehmen ihr Leben selbst in die Hand – das war die Devise.
       
       7 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Patricia Hecht
   DIR Dinah Riese
       
       ## TAGS
       
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
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