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       # taz.de -- Illegale Einreise mit Behördenhilfe: Ein Schleuser-Skandal verplätschert
       
       > In Hannover wird ein türkischer Unternehmer zu einer Geldstrafe
       > verurteilt. Der eigentliche Skandal um die „grauen Pässe“ spielt in der
       > Türkei.
       
   IMG Bild: Ganze Reisegruppen wurden mit falschen „grauen Pässen“ eingeschleust
       
       Hannover taz | Am Ende hat ihn das Ganze eine Menge Geld gekostet und
       nichts als Ärger eingebracht: Ersin K. aus Hannover ist am Freitag wegen
       der versuchten Einschleusung von Ausländern zu einer Geldstrafe von 90
       Tagessätzen verurteilt worden und sieht dabei erleichtert aus.
       
       Der 39-jährige Bauarbeiter ist – so stellt er es mit Hilfe seiner gleich
       drei Verteidiger jedenfalls dar – das Bauernopfer in einer Affäre, die viel
       größere Kreise gezogen hat und vielleicht nie vollständig aufgeklärt wird.
       
       K.s Vergehen: Er hat auf dem Briefbogen seiner Trockenbaufirma im Sommer
       2020 eine Einladung ausgestellt für 53 Menschen aus der Türkei. Er hat so
       getan, als wären sie zu einer Art Tagung eingeladen, zu Umweltthemen, als
       würde er für Unterkunft und Programm sorgen.
       
       Dass, sagt die Staatsanwaltschaft, war von Anfang an eine Lüge, es gab kein
       Programm, keine Reservierungen, gar nichts. Tatsächlich reisten 46 Personen
       in einem Reisebus ein, von denen aber schon nicht alle in Hannover ankamen.
       Hier soll K. für eine Nacht für eine Unterkunft im Hotel gesorgt haben.
       
       ## Der größte Teil der Gruppe ist bis heute untergetaucht
       
       Innerhalb der nächsten zwei Tage verstreute sich die Reisegruppe – nur zwei
       Teilnehmer reisten ordnungsgemäß in die Türkei zurück, fünf Teilnehmer
       tauchten wieder auf, weil sie Asylanträge in verschiedenen Städten in
       Deutschland stellten. Der Rest ist untergetaucht, ihr Verbleib bis heute
       unklar. Und genau das, wirft die Staatsanwältin dem Angeklagten vor, sei ja
       auch der Plan gewesen.
       
       Nicht ganz, sagen seine Verteidiger, nachdem sie in einer Unterbrechung der
       Hauptverhandlung für ihren Mandanten die Einigung auf eine Geldstrafe
       ausgehandelt haben. Die Pläne hätten wohl ganz klar andere gemacht. K.
       gesteht, die Einladung ausgestellt zu haben. Er sei vom stellvertretenden
       Bürgermeister der Gemeinde Ordu Kongar an der Schwarzmeerküste im Urlaub
       angesprochen worden und habe diesem schlicht einen Gefallen tun wollen.
       Sehr viel weiter habe er das nicht durchdacht und auch nichts daran
       verdient, erklären die Anwälte.
       
       Das haben – so munkelt man – andere, wobei der Umfang nach wie vor unklar
       ist. [1][Im Frühjahr 2021 kam] aufgrund von Medienberichten und Anfragen
       der Oppositionsparteien in der Türkei ans Licht, dass es wohl einen
       schwunghaften Handel mit den sogenannten „Grauen Pässen“ gegeben haben
       muss.
       
       Diese Servicepässe sind eigentlich für türkische Beamte und sonstige
       Staatsbedienstete bestimmt, die damit zu dienstlichen Zwecken einreisen
       können – also zum Beispiel um an Tagungen, Kongressen oder Fortbildungen
       teilzunehmen – ohne das übliche Visa-Prozedere durchlaufen zu müssen.
       
       ## Der Aufklärungsehrgeiz scheint sich in Grenzen zu halten
       
       Mehrere Gemeinden in der Türkei sollen diese Pässe aber auch an andere
       Personen ausgegeben haben – auffällig oft an junge Leute aus
       strukturschwachen ostanatolischen Gebieten. Zwischen 6000 und 8000 Euro
       sollen Betroffene für die visafreie Einreise bezahlt haben, heißt es in
       türkischen Medienberichten. Eine parlamentarische Untersuchung der
       Angelegenheit verweigerte die Regierungsmehrheit aber, berichtet [2][die
       Deutsche Welle Türkei ] unter Berufung auf Abgeordnete der oppositionellen
       CHP.
       
       Diese argwöhnt, der Ehrgeiz, die Hintermänner zu ermitteln, könnte sich
       auch deshalb in Grenzen halten, weil Bürgermeister aus Erdogans AKP in die
       Angelegenheit verwickelt sind. Aus Hannover, [3][berichtet die HAZ], seien
       gar zwei Mitarbeiter des Generalkonsulats abgezogen und nach Ankara zurück
       beordert worden, die allzu sehr auf Aufklärung drängten.
       
       Auf [4][eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Gökay Akbulut] hin,
       räumte die Bundesregierung im April ein, über die Praxis der
       missbräuchlichen Verwendung von Grauen Pässen im Bilde zu sein. Die
       Bundespolizei habe entsprechende Warnhinweise an die Grenzkontrolleure
       ausgegeben – wenn man auf Reisegruppen stößt, deren Angaben unstimmig sind,
       werden diese zurückgewiesen.
       
       Eine belastbare Aussage darüber, wie viele Menschen auf diesem Weg nach
       Deutschland gelangt sind, sei nicht möglich, heißt es in der Erklärung
       weiter. Auch in Weiden in der Oberpfalz wird gegen mehrere Personen
       ermittelt, die mindestens 200 Menschen mit grauen Pässen über die Grenze
       geholfen haben sollen.
       
       ## Der Schleuser aus Hannover bezieht mittlerweile Hartz IV
       
       Im Fall des hannoverschen Einladers Ersin K. sind es weniger, aber
       „immerhin eine Busladung voll“, wie es der Richter tadelnd ausdrückt. Das
       sei keine Kleinigkeit. Er hält dem Angeklagten letztlich zu Gute, dass er
       wohl nichts an diesem Geschäft verdient hat, nicht vorbestraft und
       geständig ist.
       
       Unklar sei ja auch, erklärt Strafrichter Björn von Bargen, ob diese
       Einladungen überhaupt so ausschlaggebend gewesen seien. Möglicherweise
       hätten die Service-Pässe ja auch unter einem anderen Vorwand ausgestellt
       werden können. Deshalb wird der Angeklagte auch nur für den Versuch
       verurteilt, nicht für vollendeten Menschenschmuggel, der eine
       Gefängnisstrafe nach sich gezogen hätte.
       
       Die Geldstrafe fällt mit 900 Euro (90 Tagessätze à 10 Euro) deshalb so
       gering aus, weil der Angeklagte angibt, mittlerweile Hartz-IV-Empfänger zu
       sein. Die Firma hätte zwar seinen Nachnamen getragen, aber nicht wirklich
       ihm gehört, sondern der Familie.
       
       Er lebe mit zwei seiner insgesamt fünf Kinder in einer Bedarfsgemeinschaft,
       die anderen drei Kinder bei seiner Ex-Frau. Neben der Geldstrafe werden ihm
       auch die Kosten des Verfahrens auferlegt – und das Geld für die
       Unterbringung der Reisegruppe für eine Nacht hat er angeblich auch nie
       wieder gesehen.
       
       6 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/tuerkei-menschenschmuggel-101.html
   DIR [2] https://www.dw.com/de/menschenschmuggel-mit-dienstp%C3%A4ssen-t%C3%BCrkisches-schleuser-netzwerk-entdeckt/a-57434709
   DIR [3] https://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Schleuseraffaere-um-graue-Paesse-Konsularen-aus-Hannover-droht-Versetzung
   DIR [4] https://goekay-akbulut.de/2021/04/21/meine-frage-an-die-bundesregierung-30/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nadine Conti
       
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