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       # taz.de -- Im Norden Russlands: Idyll der Greise
       
       > Die Provinz Archangelsk beherbergt viele isolierte oder halb isolierte
       > Dörfer. Im Sommer kommen Kinder auf Besuch zu Oma und Opa.
       
   IMG Bild: Seltener Besuch?
       
       Seit zwei Stunden stehen wir in der Schlange vor dem Supermarkt. Sehr
       geduldig, denn er ist ja der Höhepunkt der Woche für viele in Nishma, einem
       winzigen Dorf im äußersten Norden Russlands. Die alten Frauen haben die
       Bank okkupiert, die Dorfjugend steht lässig im Kreis, Kinder spielen mit
       der leidensfähigen Katze. Nishma ist außerhalb des Winters nur per Boot
       erreichbar, und Supermarkt gibt es einmal die Woche, wenn ein Pärchen vom
       Festland vorbeikommt und sorgsam die mitgebrachten Waren aufbaut.
       
       Die Provinz Archangelsk beherbergt viele isolierte oder halb isolierte
       Dörfer: teils uralte Siedlungen wie Nishma, teils Orte, die erst zu
       Sowjetzeiten gegründet wurden, mit damals günstiger Helikopter-Anbindung.
       Nach dem Zusammenbruch des Regimes wurde diese unerschwinglich und
       irgendwann abkömmlich. Es entstand eine völlig eigene, langsame,
       abgeschiedene Welt. Der Soziologe Artemi Posanenko sagte einmal, von fast
       der Hälfte aller Einwohner wisse die russische Regierung heute nicht, wovon
       sie leben.
       
       Im Grunde haben uns die Bären hierher gebracht, genauer: nicht auftauchende
       Bären. Mit dem Truck waren wir über schlammige Wege immer weiter ins Nichts
       auf die Onega-Halbinsel gefahren. Weil wir in der Provinzhauptstadt vor
       Bären gewarnt worden waren, fragten wir beim Wandern sicherheitshalber an
       einem Holzfällerposten nach.
       
       ## Gastfreundschaft gilt viel
       
       Die Frage klärte sich schnell: „Das sind Großstadtmärchen von Leuten, die
       keine Ahnung haben“, verkündete der alte Mann. Er bestand darauf, uns
       direkt nach Nishma zu bringen. Opa eins rief dann jemanden an, der ein Boot
       hatte. Opa zwei, der ein Boot hatte, rief jemanden an, der in dem Dorf eine
       Datsche hatte. Opa drei, der mit der Datsche, rief seinen Neffen an, sich
       dort um uns zu kümmern, und vertraute uns sein Haus an, „solange ihr
       wollt“.
       
       Geld wollte niemand haben. Die große Gastfreundschaft der Isolation. Auf
       die irritierte Frage von Opa zwei, was denn jemand in Nishma wolle, sagte
       Opa eins nachsichtig: „Das sind Touristen. Touristen wollen alles sehen.“
       
       Still und betörend hübsch war Nishma, Holzhäuser mit Steg an einer
       tiefblauen Seenlandschaft in zeitloser Ruhe. Ähnlich wie in anderen
       abgelegenen Dörfern, wo wir landeten, lebten die meisten als
       Selbstversorger, von Jagd, Beeren, Pilzen und Fischfang.
       
       Im Häuschen eines Freundes von Opa drei erfuhren wir, dass hier einst ein
       blühender Ort stand mit Schule, Kolchose, Krankenstation. „Heute ist alles
       zerfallen.“ Die Schule und die Krankenstation wurden geschlossen, die alten
       Straßen zum Dorf sind unbefahrbare Schlammlöcher. Familien gibt es in
       Nishma nur noch in den Sommerferien, auf Besuch bei Oma und Opa. Ansonsten
       ist es ein Dorf der Greise.
       
       29 Dec 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alina Schwermer
       
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