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       # taz.de -- Indien ist poliofrei: Eine seltene Erfolgsgeschichte
       
       > Vor 30 Jahren steckten sich jeden Tag 1.000 Kinder in Indien mit dem
       > Poliovirus an. Seit zwei Jahren gibt es die Kinderlähmung dort nicht
       > mehr.
       
   IMG Bild: Reisende aus Pakistan können gleich auf dem Bahnhof eine Polio-Schluckimpfung erhalten.
       
       Sachitannands Beine haben den Umfang seiner Unterarme, selbst seine
       Kniegelenke sind noch breiter. Seine Füße stehen diametral vom Körper ab.
       Der 26-Jährige liegt auf einem einfachen Bett im St.-Stephen-Krankenhaus in
       Delhi. Es ist das einzige Krankenhaus des Subkontinents, das eine eigene
       Abteilung für die Operation von Poliopatienten hat.
       
       Sachitannand zählt zu den jährlich 200.000 Menschen, die sich Ende der
       achtziger Jahre mit Poliomyelitis angesteckt haben. Täglich waren es um die
       1.000 Kinder, die die Kinderlähmung traf. Mit etwas Glück wird der junge
       Mann nach einigen Operationen seine Beine wieder bewegen und seine Knie
       wieder strecken können. Mit etwas Glück erhält Sachitannand die Chance auf
       ein normales Leben.
       
       Das Poliovirus ist ein verheerendes Virus. Denn die Infektionskrankheit
       greift die muskelsteuernden Nervenzellen des Rückenmarks an und kann
       dadurch zu bleibenden Lähmungen bis hin zum Tod führen. Weltweit waren Ende
       der achtziger Jahre 350.000 Menschen gelähmt oder starben daran.
       
       Dass ein Land wie Indien mit 1,25 Milliarden Menschen, mit 27 Millionen
       neugeborenen Babys jedes Jahr, in dem 23 Millionen Menschen in Tausenden
       von Zügen täglich Grenzen überschreiten, dass dieses Land es schaffen
       würde, ein solch brutales Virus eines Tages auszurotten, hatte zunächst
       kaum jemand geglaubt. Jedoch alarmiert durch die Rasanz, mit der sich das
       Virus ausbreitete, traten 1988 die Hilfsorganisation Rotary International
       und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor die
       Weltgesundheitsversammlung der Vereinten Nationen. Ihr Ziel: das Virus mit
       vereinten Kräften auszurotten.
       
       Von der Geburtsstunde der Global Eradication Initiative (siehe Kasten) von
       WHO, Rotary International, UNIFEF und dem US-Center for Disease Control
       (CDC) noch im selben Jahr bis zum letzten Polio Fall in Indien vergingen 23
       Jahre. Seit 2014 ist der Subkontinent offiziell poliofrei. Allein in
       Afghanistan, Nigeria und Pakistan tauchten zuletzt noch Fälle von Wildem
       Poliovirus auf. Insbesondere im indischen Nachbarstaat Pakistan herrscht
       aufgrund steigender Patientenzahlen große Sorge.
       
       Die größte Herausforderung Indiens war es, alle Kinder zu finden, erzählt
       Dr. Sunil Bahl, im Regionalbüro der WHO in Delhi für Impfprogramme in
       Südostasien zuständig. „Jedes Haus und jedes Kind mussten auf unseren
       Karten dokumentiert sein, damit wir überhaupt mit Impfungen beginnen
       konnten.“ Im Laufe der letzten 20 Jahre setzte sich eine Impfmaschinerie in
       Gang, die ihresgleichen sucht. Zweimal jährlich finden seit Mitte der
       neunziger Jahre nationale Impftage statt.
       
       Während dieser Kampagne werden mehr als 170 Millionen Kinder erreicht, mehr
       als 240 Millionen Häuser aufgesucht und rund 2,3 Millionen Impfärzte sind
       im Einsatz, berichtet Lokesh Gupta vom National Polio Plus Ausschuss von
       Rotary International in Indien. Darüber hinaus gibt es Gupta zufolge bis zu
       achtmal jährlich Impfaktionen auf Ebene der Bundesstaaten, mit
       Konzentration auf die am meisten betroffenen Staaten Uttar Pradesh, Bihar
       und Westbengalen.
       
       ## 100.000 Impftstationen aufgebaut
       
       Während jeder dieser Kampagnen werden noch einmal rund 35 Millionen Kinder
       unter fünf Jahre geimpft, 34 Millionen Häuser aufgesucht und an die 100.000
       Stationen aufgebaut, an denen Helfer der Kampagne impfen. Um die 10.000
       Impfteams sind darüber hinaus an Transitpunkten wie Bahnhöfen,
       Bushaltestellen, in Bussen, auf Autobahnen und auf Märkten im Einsatz.
       
       Dabei, berichtet Dr. S. K. Pathyarch, musste das Vorgehen vor jeder neuen
       Impfrunde überarbeitet werden. „Wir mussten die Tausenden von Impfhelfern
       und Koordinatoren jedes Mal neu schulen“, berichtet der WHO-Mitarbeiter,
       der in Uttar Pradesh für die Surveillance des Polioprojekts zuständig ist.
       
       Zudem markierten erst seit 1999 Helfer die Finger der Kinder als Zeichen
       für deren Impfstatus, erklärt Bahl. Seit 2005 gibt es eine Spezialstrategie
       für die 4,2 Millionen Kinder in Indien ohne festen Wohnsitz. Erst seit
       einigen Jahren werden bei den Haus-zu-Haus-Impfungen im Rahmen der Impftage
       Häuser mit Kreide markiert, in denen keiner anzutreffen war und die erneut
       aufzusuchen sind.
       
       ## Fehlende Akzeptanz
       
       Eine der größten Herausforderungen war die skeptische Haltung von Muslimen
       gegenüber der Polioimpfung, berichtet Maulana Khalid Rashid Farangi Mahli,
       Oberhaupt der islamischen Gemeinschaft in Uttar Pradeshs Hauptstadt
       Lucknow. Die Liste der Vorurteile unter den Muslimen war lang, deren Ängste
       groß.
       
       Das Engagement von lokalen Rotary-Mitgliedern führte zur Gründung eines
       Rotary Muslim Ulama Committee. Den Durchbruch brachte die Impfung Mahlis
       eigenen Sohnes gegen das Poliovirus vor laufenden Kameras vor neun Jahren.
       Innerhalb weniger Jahre, so Mahli, sanken die Polioerkrankungen bei
       Muslimen auf null.
       
       Eines ist den vielen Helfern und Mitarbeitern der engagierten
       Organisationen allerdings bewusst: „Es gibt immer die Möglichkeit, dass das
       Virus zu uns zurückkehrt“, sagt Pathyarch. Es reiche ein Kind, das sich an
       der Grenze zu Pakistan angesteckt hat und das durch das Raster fällt.
       
       29 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martina Merten
       
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