URI: 
       # taz.de -- Internationales Tanzfestival in Berlin: Tanzwut und Lebensfreude
       
       > Jetzt geht's ums Ganze – das spiegeln viele Stücke beim Festival Tanz im
       > August in Berlin. Dabei stehen auch weniger heitere Themen im Fokus.
       
   IMG Bild: Die ausgestreckten Hände, die mehr wollen: Szene aus „Navy Blue“ von Oona Doherty
       
       Die Schüsse, woher sie kommen, weiß man nicht. Mit einem akustischen Knall
       fegen sie durch das zweite Klavierkonzert von Rachmaninow und von den
       Tanzenden auf der Bühne im Haus der Berliner Festspiele sinkt einer nach
       dem anderen langsam zu Boden.
       
       Zuvor schon sah man sie laufen und fliehen, sich wegducken und hilfesuchend
       zusammenballen, als wären sie einer Verfolgung ausgesetzt. Die Bewegungen
       der in blaue Anzüge gekleideten Gruppe, die so an eine anonyme
       Arbeiterschar erinnern, beginnen sehnsuchtsvoll.
       
       Sie strecken sich, reichen in die Höhe, recken auch schon mal die geballte
       Faust in den Himmel. Man sieht, wie der Atem die Brust hebt, man ahnt das
       Verlangen herauszukommen aus einer wie auch immer gearteten Unterdrückung
       und den Wunsch den Aufstand zu proben. Aber in dem Tanzstück „Navy Blue“
       [1][von der irischen Choreografin Oona Doherty] bleibt die Macht, der sie
       Widerstand leisten wollen, stärker.
       
       Das Pathos in „Navy Blue“ ist ein Element, das man von Oona Doherty so noch
       nicht kannte. Ihre neue Choreografie, mit ihren weichen Bewegungen in ein
       blaues, melancholisches Licht getaucht, erinnert erstaunlicherweise an das
       Tanztheater von Pina Bausch oder, noch weiter zurück, an
       klassenkämpferische Skizzen im Ausdruckstanz der frühen Moderne.
       
       ## Von vergeblichem Kampf erzählen
       
       Das liegt zum einen an den schlicht geschnittenen blauen Anzügen, in die
       ihre Tänzerinnen und Tänzer gewandet sind, aber mehr noch an der
       Komposition ihrer Reihen, wenn sie sich an den Händen fassen oder auf den
       Knien liegend am Boden pantomimisch arbeiten. Vor allem aber an der
       emotionalen Ausdrucksstärke der Gesten, die von einem vergeblichen Kampf
       erzählen.
       
       Im zweiten Teil des Stücks, nach dem Klavierkonzert, folgt ein [2][dunkles
       Soundscape von Jamie xx], über dem Oona Dohertys irische Stimme mit einem
       langen Text zu hören, aber leider akustisch nicht besonders gut zu
       verstehen ist. Sie schlägt in diesem Text einen Ton der Demut, des
       Zweifels, des Staunens an. „Danke, dass du mich gelehrt hast, unbedeutend
       zu sein.“ Sie fragt nach dem Sinn der Kunst angesichts einer Geschichte,
       die immer mehr von Verbrechen, die aufgezählt werden, bestimmt ist.
       
       Es ist eine Skizze der Verzweiflung, sicher auch angeregt durch die kleine
       Tochter, die die Choreografin während der Arbeit an dem Stück bekam und dem
       Nachdenken über all die Unsicherheiten, die deren Zukunft bestimmen werden.
       Fast ist die dunkle Botschaft dieser langen Sprachnachricht zu schwer für
       die Schultern des Tanzstücks.
       
       Doch trotz dieses Mangels gehört „Navy Blue“ zu den Höhepunkten des
       diesjährigen [3][Festivals Tanz im August] in Berlin. Es läuft diesmal
       länger (noch bis 27. August) und mit einem volleren Programm – 22
       Produktionen und eine Retrospektive von Cristina Caprioli – als in den
       meisten Jahren, weil einige Stücke, die 2020 und 2021 eingeladen waren und
       pandemiebedingt nicht kommen konnten, sich erst jetzt als Gastspiel
       realisieren ließen.
       
       ## Sprache der Tänzerinnen
       
       Dass Sprache und Text als Bedeutungsträger zum Tanz hinzukommen, ließ sich
       in vielen Aufführungen sehen.
       
       In „Sonoma“ vom [4][spanischen Choreografen Marcos Morau und seinem
       Ensemble La Veronal] umfassten die Textblöcke, von den Tänzerinnen
       gesprochen, mehrere Jahrhunderte und auch hier steuerten die Zeilen, in
       Form von Seligsprechungen, die immer absurder wurden, oder als Gebote, auf
       ein finsteres Ende zu, das es mit uns Menschen nehmen wird. Die großen
       Trommeln, die die Tänzerinnen am Ende schlagen, läuten gewissermaßen die
       Apokalypse ein.
       
       Die Bilder des Tanzstücks und seine Musik aus Chören, Dudelsack und
       ekstatisch getrommelten Rhythmen waren indes uneindeutiger, offener,
       skurriler, verspielter. Marcos Morau ist ein Surrealist, der mit vielen
       Referenzen an die Geschichte der Kunst und des Kinos arbeitet.
       
       Die Kostüme zitieren verschiedene Epochen und deren strenge soziale
       Ordnungen, das Bühnenbild kokettiert mit einem katholischen Überbau und
       einem Filmsetting. Manchmal wirken die Tänzerinnen wie aufgezogene
       Automaten, die auf Rollen laufen, dann wie spukhafte Hexen ohne Gesicht.
       
       ## Etwas Rausch und Ekstase
       
       Ihre Bewegungssprache verweist auch auf den Flamenco, aber so scharf
       zerhackt, dass es einer Hinrichtung gleicht. Die Gedanken heften sich beim
       Zuschauen an dies und jenes, driften durch opulente Gefielde, der eigene
       Puls scheint sich im Rhythmus der Percussion zu beschleunigen – und das
       will man ja schließlich auch vom Tanz, etwas Rausch und Ekstase. Die dann
       durch die sprachliche Botschaft wieder ganz schön gedämpft werden.
       
       Nicht immer waren die Publikumssäle wie bei früheren Ausgaben des Festivals
       voll besetzt, eine Folge der Pandemieerfahrungen. Aber die Leute, die
       gekommen waren, zeigten bei allen von mir in diesem Jahr besuchten
       Vorstellungen am Ende große Begeisterung, als wollten sie für die Fehlenden
       unbedingt mitapplaudieren.
       
       Zwei Inszenierungen brauchten auch das Publikum als Partner. und eine
       davon, „The Dancing Public“, ein Solo von [5][Mette Ingvartsen],
       beschäftigte sich mit Tanzwut, Rausch und der Sehnsucht nach Ekstase. Die
       Sophiensæle waren dafür leergeräumt, das Publikum stand bei wenig Licht
       zwischen drei kleineren Podesten, Techno erzeugte Partystimmung.
       
       Mette Ingvartsen tanzte die meiste Zeit mitten zwischen den Leuten, die
       sich teils auch mit ihr in Bewegung setzten. Die athletische Performerin
       schleuderte dabei aber nicht nur ihre langen Glieder und Haare, sondern
       sprach auch über Mikroport, allerdings war der englische Text akustisch
       wieder nur teilweise zu verstehen, ein technisches und vor allem ein
       dramaturgisches Problem.
       
       ## Etwas zu sehr Behauptung
       
       Denn natürlich wäre es wichtig, Ingvartsen bei ihren Passagen durch die
       Tanzwut im Mittelalter, Erzählungen von Tanz als Abwehr der Pest, Legenden
       von ansteckenden Tänzen und Szenen aus den Tanzmarathons in der Zeit der
       Depression in den USA folgen zu können. So kriegt man nur Stichworte mit.
       Deshalb bleibt das Zusammenspiel von Performance und theoretischer
       Erkundung doch etwas zu sehr Behauptung.
       
       Viel erzählt wurde auch in dem Stück „We wear our wheels with pride …“, das
       in der Volksbühne seine Deutschlandpremiere feierte. Schilder mit dem
       Spruch „where is goethe“ hielten die schwarzen Performer:innen von
       Moving into dance Mophatong, einer Tanzschule aus Johannesburg, am Anfang
       ins Publikum. Es dauerte, bis wir verstanden, dass damit wir gemeint waren,
       die Zuschauergruppe im Berliner Theater.
       
       Die sich etwas schwerfällig erst zum Mitsummen animieren ließ und später
       zum Schwingen des Körper vor und zurück. Vor und zurück, das brauchten sie
       als Unterstützung für ihre Hommage an die Zulu-Rikschafahrer, an die sich
       die Choreografin Robyn Orlin aus ihrer Kindheit erinnert. 1955 als Tochter
       jüdischer Migranten geboren, wuchs sie in Johannesburg auf, lebt inzwischen
       aber seit zwanzig Jahren in Berlin und bearbeitet jetzt Bilder der
       Vergangenheit.
       
       ## Traditionen der Zulus
       
       Die Farben der Performance, aufgefächert in Videos, die Stoffe der Kostüme,
       die gehörnten Tiermasken im Häkellook, die Tänze und die großartige Musik,
       die live performt wird, docken an Traditionen der Zulus an, denn die
       stellten die Rikschafahrer, die, wie man am Ende in einem alten Foto sieht,
       tatsächlich mit großen Masken und schweren Kostümen die Rikschas zogen, in
       denen meist Weiße saßen.
       
       Dass sie nie älter als 35 Jahre alt wurden, steht als Satz daneben: Und so
       lernt man, dass die lebendig und fröhlich wirkende Performance, die man
       gerade sah, von einer schweren körperlichen Arbeit erzählte, von Ausbeutung
       unter den Bedingungen der Apartheid.
       
       Aber während das Spiel läuft, ist es eben das, ein Spiel. Mit fantastischen
       Geschichten laden die Rikschafahrer ein, sie versprechen eine Reise in den
       Himmel. In sieben Auftritten, sieben Porträts, präsentieren sie sich, die
       Farben ihrer Kostüme, die gehörnten Masken, die sie zu kunstvollen,
       stolzen und gewitzten Wesen zwischen Tier, Mensch und Gottheit machen. Ihre
       Tänze sind ein Vorgriff auf die Wettbewerbe und
       Selbstermächtigungsgesten im Urban Dance.
       
       Die Sängerin Anelisa Stuurman und der Musiker Yogin Sullaphen breiten
       ihnen dafür eine Musik aus, in der galoppierende Hufe und das Schnauben von
       Pferden ebenso gegenwärtig sind wie Elemente einer anstrengenden Gegenwart.
       
       Für die [6][Kuratorin Virve Sutinen], die das Festival neun Jahre geleitet
       hat, ist es ihre letzte Ausgabe, und die ist ihr sehr prächtig geraten.
       
       21 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Tanzperformance-Navy-Blue/!5870809
   DIR [2] /The-xx-mit-neuem-Album/!5373875
   DIR [3] https://www.tanzimaugust.de/
   DIR [4] /Berliner-Festival-Tanz-im-August/!5034756
   DIR [5] /Ingvartsen-an-der-Berliner-Volksbuehne/!5467814
   DIR [6] /Archiv-Suche/!5786602&s=Virve+Sutinen&SuchRahmen=Print/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Bettina Müller
       
       ## TAGS
       
   DIR Tanz im August
   DIR Tanz
   DIR Zeitgenössischer Tanz
   DIR Tanz im August
   DIR Tanz im August
   DIR Performance
   DIR Theater
   DIR Theater
   DIR Ruhrtriennale
   DIR Ruhrtriennale
   DIR Tanz
   DIR Tanz im August
   DIR Zeitgenössischer Tanz
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Tanz im August 2023: Collagen des Robotischen
       
       Großartige Gastspiele: Vielschichtige Bilder von Gemeinschaft spielten beim
       Festival „Tanz im August“ in Berlin eine Rolle.
       
   DIR Festival „Tanz im August“ in Berlin: Der Körper, der lacht
       
       Turbulent und mystisch beginnt das dreiwöchige Festival „Tanz im August“.
       Der künstlerische Leiter Ricardo Carmona zeigt die Vielfalt der
       Tanzsprachen.
       
   DIR Performance Pol Pi und Solistenensemble: Musik, die in der Stille wohnt
       
       Im Radialsystem spürt die Performance „In your head“ von Pol Pi und einem
       Solistenensemble dem Vermächtnis von Dmitri Schostakowitsch nach.
       
   DIR Neue Spielzeit an Berliner Volksbühne: Die Show von der Tragik im Wasser
       
       Frauen besetzen die literarischen Bilder, in denen sie schon immer
       vorkamen. Kann die Berliner Volksbühne sich mit Florentina Holzinger neu
       erfinden?
       
   DIR Internationales Theater in Wiesbaden: Vom Schwindel ergriffen
       
       Das Theater als Diskurs- und Lehranstalt: Das ist teils angestrengt und
       unvermittelt auf der Biennale Wiesbaden. Gelingt teils aber auch berührend.
       
   DIR Tanz auf der Ruhrtriennale: Das Gesicht verbergen
       
       Choreografin Wen Hui Solo-Performance ist feministisch und persönlich. Sie
       hinterfragt die Rolle der Frau in China.
       
   DIR Schnitzler auf der Ruhrtriennale: Schlamperei der Herzen
       
       Barbara Frey ist Intendantin der Ruhrtriennale. In der Jahrhunderthalle
       Bochum hat sie Schnitzlers „Das weite Land“ inszeniert – als dunkle
       Fantasie.
       
   DIR Tanz-Festival in Berlin: Das Einsaugen der Welt
       
       Gerade läuft das Berliner Festival Tanz im August. Sehenswert ist etwa die
       spannende Performance der Kanadierin Daina Ashbee.
       
   DIR Tanzperformance „Navy Blue“: Der Blues war der Motor
       
       Mit ihrer neuen Choreografie „Navy Blue“ eröffnet Oona Doherty das
       Sommerfestival auf Kampnagel und tourt damit weiter nach Berlin.
       
   DIR Choeografin Kasia Wolinska: Die Freude zu lernen
       
       Die Choreografin Kasia Wolinska ist als Forscherin in den Geschichten der
       Künste unterwegs. Ihr Stück „Kiss“ ist eine Hommage an die Musik von
       Prince.