URI: 
       # taz.de -- Interview mit Amnesty-Chefin: "Ich hoffe, dass ich wach genug bleibe"
       
       > Die Noch-Generalsekretärin von Amnesty International, Barbara Lochbihler,
       > glaubt, dass die EU die Menschenrechte voranbringen könnte - wenn sie es
       > nur wollte.
       
   IMG Bild: 60 Jahre ist die Allgemeine Menschenrechtserklärung alt. Doch sie gilt längst nicht überall.
       
       taz: Frau Lochbihler, Sie haben sich in den letzten zehn Jahren als
       Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland für Menschenrechte
       engagiert. Nun wollen Sie für die Grünen ins Europaparlament. Warum
       wechseln Sie die Seiten? 
       
       Barbara Lochbihler: Persönlich ist das für mich eine neue Herausforderung.
       Und inhaltlich kann ich mich gut einbringen. Denn bei den Menschenrechten
       gibt es eine hohe Übereinstimmung zwischen den Forderungen der Grünen und
       den Forderungen, die ich bisher vertreten habe. Ich möchte nun auf
       europäischer Ebene eine Politik prägen, die menschenrechtspolitische
       Forderungen durchsetzt.
       
       Neben Ihnen kandidiert mit Sven Giegold ein weiterer bekannter
       Quereinsteiger. Reicht das Personal der Grünen nicht mehr aus, um Wahlen zu
       gewinnen oder warum holen Sie sich nun ihre Bewerber von NGOs und sozialen
       Bewegungen? 
       
       Für die Listenplätze gibt es sehr gute Mitbewerberinnen und Mitbewerber.
       Und dass es Bewerbungen von außen gibt, liegt eher an den sehr großen
       inhaltlichen Schnittmengen. Wenn ich an die Bundesdelegiertenkonferenz im
       November in Erfurt denke, da haben die Grünen - da haben wir Grünen - eine
       ganze Reihe von Anträgen zum Thema Menschenrechte auf den Weg gebracht, die
       sich kaum von dem unterscheiden, was Amnesty fordert. Bei den Grünen ist es
       eben möglich, dass man von einer Fach-NGO kommt und Dinge vertreten kann,
       die dann in Politik übergehen.
       
       Brauchen die Grünen zurzeit frische Ideen? 
       
       Ich hoffe, mit meiner Kandidatur glaubhaft zu einer grünen
       Menschenrechtspolitik beitragen zu können. Viele Ideen bei den
       Menschenrechten sind schon im Raum. Wichtig ist, dass man sie umsetzt, dass
       man nachhält, konsequent ist und dass man die Menschenrechte immer wieder
       als Orientierungspunkt und Maßstab nimmt, wenn man auch in der Politik
       Abwägungen treffen muss.
       
       Das war ja bei der grünen Regierungspolitik in den vergangenen zehn Jahren
       nicht immer der Fall. Sie haben als Amnesty-International-Chefin Rot-Grün
       häufig für den laschen Umgang mit Menschenrechten kritisiert. Was hat sich
       seitdem geändert? 
       
       Die Grünen haben Entscheidungen von damals offen diskutiert und kritisch
       reflektiert. Auch bei Punkten, die ich beanstandet habe, etwa dem
       Luftsicherheitsgesetz, das nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
       wieder zurückgenommen werden musste.
       
       Das ist nur ein Beispiel. Unter der grünen Regierungsbeteiligung wurden die
       Gefangenenflüge der CIA über Deutschland geduldet, der Bremer Murat Kurnaz
       verschwand im Lager von Guantánamo. 
       
       Wenn ich auf meine zehn Jahre bei Amnesty zurückschaue, was wir da für
       Widerstände hatten, nach 2001 im Antiterrorkampf menschenrechtskonformes
       Verhalten einzufordern, sieht man heute schon sehr große Änderungen - bei
       der grünen Partei, aber auch bei anderen. Mit ihren Fehlern sind die Grünen
       selbstkritisch umgegangen. Sie haben in der Opposition massiv zur
       Aufarbeitung beigetragen und geholfen, einen BND-Untersuchungsausschuss
       durchzusetzen. Mir ist auch klar, dass man als nichtstaatliche Organisation
       Maximalforderungen stellt, die die Politik wahrscheinlich nicht immer zu
       hundert Prozent umsetzen kann. Ich sehe meine Rolle innerhalb der Partei
       darin, Menschenrechte auch in kritischen und schwierigen Situationen als
       wichtigsten Maßstab der Politik durchzusetzen.
       
       Warum haben Sie sich dafür das Europaparlament ausgesucht? 
       
       In der Menschenrechtsarbeit ist die Europäische Union eine der wenigen
       Regionen auf der Welt, die Menschenrechte wirklich aktiv voranbringen
       können. Das geht aber nur, wenn die EU geeint agiert. Sie hat die
       Strukturen, um Menschenrechtspolitik zu betreiben. Es gibt einen Ausschuss,
       es gibt Menschenrechtsdialoge und Menschenrechtsklauseln in verschiedenen
       Abkommen. Es fehlt allein am politischen Willen, sie auch konsequent und
       ergebnisorientiert anzuwenden.
       
       In Ihren Reden als Generalsekretärin von Amnesty zur EU haben Sie oft den
       Eindruck erweckt, dass es in Brüssel kein allzu großes Interesse an
       Menschenrechten gebe. 
       
       Wenn es um Beitrittsverhandlungen geht, etwa mit der Türkei, sind
       Menschenrechte plötzlich ein großes Thema. Aber innerhalb der EU kommen sie
       kaum vor. Dabei liegt vieles im Argen. Zum Beispiel gibt es eine massive
       Diskriminierung von Lesben und Schwulen in den baltischen Staaten oder in
       Polen. In Rumänien und Bulgarien wird die Minderheit der Roma vom
       Bildungssystem praktisch ausgeschlossen und in minderwertige Sonderschulen
       gezwungen. Und es muss endlich zu einer menschenrechtskonformen Migrations-
       und Flüchtlingspolitik kommen.
       
       Die jetzige Flüchtlingspolitik der EU ist nicht menschenrechtskonform? 
       
       Ja. Die grausamen Bilder von Flüchtlingen, die im Mittelmeer ertrinken und
       nicht gerettet werden, darf es nicht mehr geben. Die
       EU-Grenzüberwachungsorganisation Frontex muss vom Europaparlament
       kontrolliert werden. Das alles müssen wir noch viel intensiver
       thematisieren. Denn im Zweifel stehen in der EU genauso wie auf nationaler
       Ebene immer wirtschaftspolitische und strategische Überlegungen im
       Vordergrund. Deshalb braucht es stark an Menschenrechten orientierte
       Politiker, um etwas zu ändern. Und ich habe große Lust darauf, etwas dazu
       beizutragen.
       
       In einer NGO zu arbeiten heißt, engagiert Überzeugungen zu vertreten.
       Politik in einem Parlament heißt Kompromisse schließen. Haben Sie Angst,
       dass Sie Ihre eigenen Prinzipien opfern müssen? 
       
       Ich hoffe, dass ich da wach genug bleibe, das nicht zu tun. Wenn es um
       Menschenrechtsverletzungen geht, sind die doch in ihrer Deutlichkeit und
       Brutalität so klar, dass man da nicht so leichtfertig Kompromisse macht.
       
       23 Jan 2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernhard Hübner
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Neue Grüne stellen sich zur Wahl: Sprungbrett Europaparlament
       
       Die Grünen könnten im Europaparlament mit einer jüngeren Garde antreten.
       Prominente Neulinge bewerben sich, zum Beispiel attac-Mitbegründer Sven
       Giegold.