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       # taz.de -- Interview mit Regisseur Milo Rau: „Widerstand heißt überleben“
       
       > Regisseur Milo Rau kommt mit der School of Resistance nach Berlin. Ein
       > Gespräch über Widerstand, Mozart und digitale Praktiken während der
       > Pandemie.
       
   IMG Bild: Szene aus der Mozart-Oper „La clemenza di Tito“, von Milo Rau in Genf inszeniert
       
       taz: Herr Rau, Sie haben gerade die Mozart-Oper „La clemenza di Tito“ in
       Genf inszeniert. Durfte bei der Premiere auch live Publikum dabei sein? 
       
       Milo Rau: Einige Kolleg*innen waren live da. Wir hoffen natürlich, wir
       können das bei den Wiener Festwochen im Mai vor Publikum spielen. Wir haben
       die Premiere kostenlos gestreamt, international auf allen möglichen
       Kanälen.
       
       Wie funktioniert das? 
       
       Die Genfer Oper hat ihren eigenen Kanal. Dann hat es das französische
       Opernfernsehen Mezzo TV gesendet. Im Schweizer Fernsehen läuft in den
       nächsten Tagen eine TV-Fassung. Umsonst und zugänglich für jeden. Quasi die
       Anti-Oper.
       
       Wie konnten Sie in der Schweiz jetzt während der Pandemie arbeiten? Volle
       Präsenz bei Proben von Opernsängerinnen und Orchester? 
       
       Na ja, nicht ganz. Der Chor sitzt mit Abständen im Publikum, anders hätten
       wir ihn nicht in den Saal gekriegt. Und zwischen den Solisten und den 18
       Figuranten gibt es ebenfalls Abstände. Das bringt eine gewisse Statik. Und
       natürlich wurden wir permanent getestet.
       
       Wie viele Personen arbeiten für so eine Mozart-Oper gleichzeitig vor und
       hinter der Bühne? 
       
       So um die 150 Menschen. Der Chor, das Orchester, die Figuranten, all die
       Technikerinnen …
       
       Worum geht es in der Oper? 
       
       „Clemenza di Tito“ ist eine Art Modellstück über die tolerante, aufgeklärte
       Herrschaft. Es gibt einen Anschlag auf das Leben des Kaisers Tito, der aber
       den Verschwörern verzeiht. Eigentlich passiert extrem viel: da bricht ein
       Vulkan aus, das Volk erhebt sich, das Kapitol wird in Brand gesteckt.
       Mozart verzichtet aber vollständig auf die Darstellung der realen
       Auswirkungen all dieser Ereignisse.
       
       Und da setzen Sie an? 
       
       Die Oper entsteht 1791, zwei Jahre nach Ausbruch der Französischen
       Revolution. Sie zeigt die Geburt der Postpolitik aus dem Geiste der
       Konterrevolution: es entsteht jene tolerante Elite, wie wir sie heute auch
       manchmal sehen. Das Bürgertum verbündet sich mit dem Adel, um nicht vom 4.
       Stand abgeräumt zu werden. Das Revolutionäre wird als pervers dargestellt.
       Mozarts Volk, der Chor, ist eine hirnamputierte Jubelmaschine. Deshalb habe
       ich 18 Menschen aus Genf eingeladen, deren Leiden und biografische
       Hintergründe man nach und nach erfährt – und die damit von der bürgerlichen
       Kunstmaschine angeeignet werden. Eine Art Metakritik.
       
       Mozart schrieb die Oper anlässlich der Krönung des böhmischen Königs.
       Verstehen Sie sie als versteckte Kritik an autoritärer Herrschaft? 
       
       Die Selbstfeier der Elite in dem Libretto ist fast schon obszön. Die Idee
       der Unmöglichkeit einer „guten“ Macht ist aber in einem dunklen Untergrund
       fühlbar, der immer wieder die glatte Oberfläche der Oper durchbricht.
       Darauf habe ich mich mit Dirigenten und Sängerinnen konzentriert.
       
       Das ist Ihre erste Oper. Wie war es? 
       
       Es war ein Rausch. Mit so vielen Menschen gleichzeitig zu arbeiten, ein
       reines, kindliches Vergnügen.
       
       Die Genres und Medien vermischen sich heute immer mehr. 
       
       Das ist wohl der Grund, warum ich Oper instinktiv mag: Man kann alles mit
       allem mischen, eine Idee der Reinheit ist inexistent. Unsere „Clemenza“
       beispielsweise ist zugleich eine Oper, ein Dokumentar- und Gruselfilm. Es
       gibt performative Szenen, eine Kunstausstellung und dazwischen immer wieder
       Theater mit Dialogen.
       
       Es scheint, als könnte Ihnen der pandemiebedingte Lockdown wenig anhaben.
       [1][Ihren Film „Das Neue Evangelium“ brachten Sie im Dezember online] an
       den Start. War das richtig, nicht auf die Öffnung der Kinos zu warten? 
       
       Absolut, denn sonst gehen die Kinos kaputt. Wir haben eine neue
       Verleihstrategie entwickelt und gesagt: Wir bringen das nicht auf Netflix
       heraus, sondern mit Beteiligung der geschlossenen Kinos. Über hundert Kinos
       machen mit. Sobald die Säle wieder aufgehen, zeigen wir den Film live,
       klar.
       
       In Belgien, in Gent sind Sie Intendant am Nationaltheater. Wie gehen Sie
       dort mit der Situation um? 
       
       Wir hatten gleich im Oktober entschieden, bis Ende März zu schließen und
       dafür den Sommer durchzuspielen. Wir haben Filme gedreht und in
       Arbeitsgruppen unsere Institution grundlegend umgekrempelt. Unsere Räume
       und unsere Technik stellen wir derweil auch freien Gruppen und NGOs zur
       Verfügung.
       
       Was glauben Sie, wie wird der Theaterbetrieb mit und nach der Pandemie
       aussehen? 
       
       Wir müssen unsere Produktionsweisen grundsätzlich ändern. Warum spielen wir
       immer drinnen, warum immer abends, wenn wir eh völlig fertig sind? Warum
       nicht morgens, warum nicht draußen? Wir planen ein „All Greeks Festival“:
       alle griechischen Tragödien in 32 Tagen, jeden Tag eine von 7 bis 9 Uhr.
       Dann Tee oder Kaffee und jeder geht seiner Wege. Auf längere Sicht wollen
       wir ein viertes Haus eröffnen, ein Zirkuszelt mit eigenem Ensemble, das
       herumzieht in der Welt. Ein neues Living Theatre.
       
       Ich erinnere mich [2][ans „Genter Manifest“, das Sie zu Beginn Ihrer
       Intendanz in Gent veröffentlichten]. Da favorisierten Sie schnell zu
       realisierende, bewegliche internationale Produktionen. Die Pandemie scheint
       die von Ihnen gewünschte Globalisierung von Kunst, Recherche und Austausch
       erstmals gestoppt zu haben. 
       
       Das „Genter Manifest“ mit seiner Forderung leichter und inklusiver
       Arbeitsformen gilt für uns noch viel mehr als vorher. Wir arbeiten mit
       Partnern an einem neuen Modell des CO2-neutralen Tourings. Wir haben auf
       Elektro-Autos umgestellt, proben online und vermeiden alle unnötigen
       Reisen. Ich liebe Streaming, aber Theater ist und bleibt Präsenzkunst. Es
       ist die Form des Austauschs und die Art der Räume, die sich ändern müssen.
       
       Sie beschäftigen sich in Ihrem Werk mit dem Völkermord in Ruanda („Hate
       Radio“) genauso wie mit dem Stand der Humanität in unseren Gesellschaften
       („Das Neue Evangelium“). Wie ließe sich das Übergreifende Ihrer
       Theatertätigkeit formulieren? 
       
       [3][Das Schaffen neuer Kollektive und damit neuer Handlungsräume.] Zentral
       dabei ist für mich der Begriff der Katharsis: keine Schönheit, kein
       Verstehen, keine Solidarität ohne die Dialektik des Streits, ohne den
       Stress des Kollektivs. „Ich kann allein nicht denken“, hat René Pollesch
       für das „Why Theatre?“-Buch geschrieben, das wir am NTGent rausgegeben
       haben. Das sehe ich genauso.
       
       Am Theater in Gent haben Sie die „School of Resistance“ gegründet. Eine
       „Schule des Widerstands“ gegen was oder wofür? 
       
       Irgendwie ist es passiert, dass wir trotz unserer Intelligenz und
       Liebesfähigkeit in einem System der Ausbeutung leben, das in sehr
       absehbarer Zeit auf die Zerstörung des Planeten hinausläuft. Und obwohl wir
       das wissen, tun wir nichts dagegen. Widerstand heißt also schlichtweg
       überleben, oder anders: Wie können wir Wissen und Praktiken einer anderen,
       nachhaltigen Ökonomie zusammenbringen, aus allen Ecken der Welt? Die
       „Schule des Widerstands“ ist ein globales Netzwerk aus Aktivistinnen,
       Künstlerinnen, Bauern, Philosophen, Ingenieuren und einfach Menschen, die
       alle auf ihre Weisen Praxisformen des Überlebens und der Würde entwickelt
       haben.
       
       Sie haben in Russland, Brasilien, dem Irak oder dem Kongo inszeniert. Ist
       „Widerstand“ in einer westeuropäischen Demokratie nicht etwas gänzlich
       anderes als in einer halben oder ganzen Diktatur? 
       
       Es gibt immer wieder überraschende Ähnlichkeiten und es gibt große
       Unterschiede. Die Verknüpfung von Rassismus, Patriarchat und
       kapitalistischer Ausbeutung zum Beispiel ist eine globale und auch
       historische Konstante. Da muss man Gleichzeitigkeiten nutzen, Solidaritäten
       schaffen – und immer beweglich bleiben. In der Zusammenarbeit mit der
       brasilianischen Landlosenbewegung, die völlig verfassungskonform Land
       besetzt und Privateigentum enteignet, habe ich gemerkt: Das ist ja auch in
       der deutschen Verfassung vorgesehen! Let’s occupy!
       
       Nun kommen Sie mit Ihrer „School of Resistance“ für fünf Tage an die
       Akademie der Künste mit einem Livestreaming-Programm. Was darf das Publikum
       erwarten? 
       
       Wir zeigen sechs unserer Filme – von den „Moskauer Prozessen“ über den
       „Sturm auf den Reichstag“ bis zum „Neuen Evangelium“. Dazu gibt es
       Debatten, in denen Akademiemitglieder und Aktivisten aus aller Welt die
       Projekte hinterfragen und Einblick in ihre eigenen geben.
       
       Ich weiß nicht, wie es Ihnen erging, aber ich hatte keine so schöne
       Schulzeit. „School of Resistance“ klingt nach Frontalunterricht. Stärken
       die digitalen Talk-Zusammenkünfte nicht die alten Inszenierungsgesten? 
       
       Eigentlich war die „School of Resistance“ als Besetzung der Akademie der
       Künste geplant. Wir hätten alle ein paar Wochen da gewohnt, Aktivistinnen
       aus aller Welt. Zusammen mit den Berlinern und den Akademiemitgliedern
       gegessen, Filme geguckt, debattiert. Die Akademie wollte parallel dazu das
       Christoph-Schlingensief- und das Peter-Weiss-Archiv öffnen. Jetzt wird die
       Akademie der Künste eben zur TV-Station. Was mich persönlich angeht: Ich
       höre sehr gern zu. Und wer will, schaltet sich einfach ein. Und wir hören
       ihm dann auch zu. Oder schaltet eben ab. Auch okay.
       
       24 Feb 2021
       
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   DIR Andreas Fanizadeh
       
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