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       # taz.de -- Interview mit Religionskritiker: "Warum ich kein Christ sein will"
       
       > Die Kirche kritisieren viele. Uwe Lehnert reicht das längst nicht mehr.
       > Nach seiner Emeritierung schrieb sich der Pädagoge eine Abrechnung von
       > der Seele.
       
   IMG Bild: Kirchenkritiker Uwe Lehnert: "Sehr interessant ist auch eine kircheninterne Umfrage unter den evangelischen Pfarrern und Pfarrerinnen in Berlin und Brandenburg. Etwa 10 Prozent von ihnen glauben nicht mehr an Gott."
       
       taz: Herr Lehnert, haben Sie in der Adventszeit auch mal eine Kerze
       angezündet? 
       
       Uwe Lehnert: Natürlich. Die Kerze ist ja kein christliches Symbol. Und wenn
       es so wäre, hätte ich kein Problem damit. Wir sind in einer christlich
       geprägten Kultur groß geworden, die können wir nicht abschütteln ohne
       Verlust an liebgewordenen Traditionen.
       
       Aber Weihnachten ist für Sie kein Thema, oder? 
       
       Das heißt nicht, dass ich Weihnachten nicht feiern würde. Für mich ist es
       ein Fest des familiären und politischen Friedens, der Besinnung. Ich denke,
       das gilt inzwischen für die überwiegende Mehrheit unserer Gesellschaft.
       
       Anders formuliert: Sie feiern Weihnachten, aber es hat für Sie keine
       spirituelle Bedeutung. 
       
       Auch das würde ich so nicht stehen lassen. Festtage wie diese verdeutlichen
       für mich, dass das Leben aus mehr besteht als der rationalen Bewältigung
       des Alltags. Es gibt ja Fragen, die unser Wissen übersteigen. Ich empfinde
       an solchen Tagen ein Bedürfnis nach Feierlichkeit, aber sie soll das Gemüt
       ansprechen, ohne den Verstand zu kränken. Wenn ich mir Predigten in diesen
       Tagen anhöre, passiert genau das.
       
       Was stört Sie daran? 
       
       Dass den Menschen ein anrührendes Märchen ohne geschichtliche Basis
       aufgetischt wird. Die weltweite Verbreitung dieser "frohen Botschaft" vom
       erbarmenden Gott hat über die Jahrhunderte Millionen Menschen das Leben
       gekostet. Und trotz der Losung vom Frieden auf Erden kann ich nicht
       erkennen, dass der beschworene Gott auch nur eine Hand gerührt hätte, um
       diese Welt friedlicher zu machen.
       
       Und darum wollen Sie kein Christ sein. 
       
       Darum, und weil ich den zentralen Glaubenssatz nicht glauben kann und will,
       dass Jesus für mich am Kreuz gestorben sein soll. Dieser Opfertod soll mich
       von meinen Sünden befreien. Das ist steinzeitliches Denken. Damals brachte
       man den Göttern Opfer, um sie gnädig zu stimmen, in ganz dramatischen
       Situationen opferte man sogar den Erstgeborenen. Heute noch so zu denken,
       finde ich geradezu absurd. Fällt einer allmächtigen Gottheit nichts anderes
       ein als eine grausame Hinrichtung, um sich mit uns zu versöhnen?
       
       Viele Christen nehmen das vielleicht gar nicht so wörtlich. 
       
       Richtig, nach meiner Erfahrung sind die meisten Kirchgänger
       Traditionschristen. Sie machen mit, was sie mal gelernt haben, finden das
       ganz schön und sehen keinen Grund, daran etwas zu ändern. Ihr Christentum
       besteht aus einer allgemeinen Gottgläubigkeit und dem Wunsch, als guter
       Mensch zu gelten.
       
       Religiöse Inhalte spielen gar keine echte Rolle mehr? 
       
       Wenn ich Christen nach Erbsünde, Opfertod oder Abendmahl frage, stellt sich
       meist heraus, dass sie darüber überhaupt noch nicht nachgedacht, geschweige
       denn diese Fragen zu Ende gedacht haben.
       
       Worüber sollten sie denn einmal nachdenken? 
       
       Vor allem über den eklatanten Widerspruch zwischen dem angeblich
       allmächtigen und unendlich barmherzigen Gott und dem unübersehbaren
       menschlichen Leid. Gott, wenn er denn existieren sollte, schaut offenbar
       dem Leiden der Menschen, verursacht durch Naturkatastrophen, Krankheiten
       oder Völkermorde, tatenlos zu. Das ist die berühmte "Theodizee" - kein
       Theologe, kein Papst weiß eine Antwort auf diesen unauflösbaren
       Widerspruch. Auch die zweitausendjährige Geschichte der Kirche mit ihren
       zig Millionen Blut-Opfern zeigt mir, dass hinter ihrer Lehre kein
       barmherziger Gott stehen kann.
       
       Schafft Religion mehr Leid als Trost? 
       
       Gerade die beiden großen monotheistischen Religionen mit ihrem
       Alleinvertretungsanspruch, das Christentum und der Islam, haben Millionen
       Menschen auf dem Gewissen. Der größte Teil aller bisherigen Kriege geht
       aufs Konto der Religionen. Dabei kann Religion zweifellos auch trösten. Wer
       glauben kann, ohne durch Gründe der Vernunft irritiert zu werden, kann Halt
       und Trost erfahren. Stellt man aber Trost und Leid gegenüber, wird
       deutlich, welch unglaublich hoher Preis dafür zu zahlen ist.
       
       Diese Fundamentalkritik entwickeln Sie ausführlich in Ihrem Buch, das sich
       offenbar sehr gut verkauft. Ernten Sie dafür eigentlich Unverständnis? 
       
       Meine nächsten Angehörigen denken wie ich, einen Bruder, der Organist ist,
       konnte ich überzeugen, meine liebe Schwester nicht. Ansonsten habe ich zu
       meinem Erstaunen erfahren, dass viel mehr Kollegen an meiner FU, als ich
       ahnte, so denken wie ich. Kühle Ablehnung habe ich natürlich auch
       registrieren müssen. Andererseits habe ich die religionskritischen Kapitel
       meines Buches mit zwei Pfarrern ausführlich diskutiert. Einer hat mich
       sogar mehrere Tage in seine Familie eingeladen und geduldig mit mir
       gesprochen. Trotzdem sind wir nach wie vor gute Freunde.
       
       Ist Berlin eine gottlose Stadt? 
       
       Um ein paar Zahlen zu nennen: Rund 70 Prozent der Berliner sind in keiner
       großen Kirche organisiert, im Osten sogar 80 Prozent. Sehr interessant ist
       auch eine kircheninterne Umfrage unter den evangelischen Pfarrern und
       Pfarrerinnen in Berlin und Brandenburg. Etwa 10 Prozent von ihnen glauben
       nicht mehr an Gott. Noch mehr zweifeln an der Wiederauferstehung, die
       wenigsten glauben an die Hölle. Davon abgesehen verstehen sich diese
       gottlos gewordenen Pfarrer im besten Sinne des Wortes als Seelsorger, und
       ich denke, dass sie da viel Gutes tun. Von dieser internen Fluchtbewegung
       spricht der sonst so redselige Altbischof Huber nicht.
       
       Trotzdem sind selbst in Berlin Kirchenvertreter viel präsenter als
       Konfessionslose. 
       
       Weil wir ein Kirchenstaat sind!
       
       Das müssen Sie erklären. 
       
       Der Staat hat den Kirchen in den letzten Jahrzehnten in beispielloser Weise
       Rechte und Mittel zugeschanzt - trotz gegenteiliger Auflagen der
       Verfassung. Deshalb können sie sich auch mit den Sozialleistungen von
       Caritas, Diakonie, konfessionellen Krankenhäusern, Kitas und Schulen
       schmücken. Das Geld dafür kommt aber tatsächlich zu 90 bis 98 Prozent vom
       Staat und den Sozialkassen. Hinzu kommt eine lange Liste von Vorrechten.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Die Kirchen haben ein eigenes Arbeitsrecht, das Arbeitnehmer in allen
       wesentlichen Fragen schlechter stellt als solche im öffentlichen Dienst
       oder im Privatsektor. Oder nehmen Sie die Rundfunk- und Fernsehräte. Da
       haben die christlichen Kirchen und die jüdische Gemeinde das Recht, sich in
       Weltanschauungsfragen zu äußern und über Programme zu befinden. Andere
       Weltanschauungen sind nicht zugelassen. Solche Privilegien tragen dazu bei,
       dass die Kirchen im öffentlichen Bewusstsein allgegenwärtig sind, ohne ein
       politisches oder irgendwie moralisch begründetes Mandat.
       
       Der Katholizismus ist 2010 arg gebeutelt worden. Freut Sie das? 
       
       Angesichts des Leids, das zu dieser Kritik geführt hat, kann keine Freude
       aufkommen. Aber eines stelle ich mit Genugtuung fest: Immer mehr Menschen
       begreifen, dass die Rolle der Kirche als Hort und Verkünder der Moral bloße
       Anmaßung ist.
       
       Ist Ihnen der Protestantismus eigentlich näher? 
       
       In den wesentlichen Punkten erkenne ich keinen Unterschied: Jesus als
       menschliches Opfer zur Sündentilgung, Wiederauferstehung der Toten, Ewiges
       Leben, Taufe, Abendmahl, Hölle für die Ungläubigen, all das ist für beide
       Kirchen verbindlich. Beide Lehren sind gedankliche Konstrukte, die als
       Wunschvorstellungen aus Not und Verzweiflung entstanden sind. Was den
       Protestantismus betrifft, muss man immer wieder auf die zwiespältige Rolle
       Luthers hinweisen. Er war ein eindrucksvoller Denker und hat der deutschen
       Sprache mit seiner Bibelübersetzung einen großen Dienst erwiesen. Er war
       aber auch ein ganz entschiedener Antisemit, der in seinem Buch "Von den
       Juden und ihren Lügen" das nationalsozialistische Verfolgungsprogramm bis
       in Einzelheiten vorwegnahm.
       
       Das passt nicht recht ins heutige Luther-Bild. 
       
       Die evangelische Kirche sollte die Ehrlichkeit aufbringen, Luther auch mit
       seinen höchst fragwürdigen Seiten zu zeigen. Aber sie wird das nicht tun,
       es würde dem Protestantismus seinen vermeintlichen Glanz nehmen.
       
       Kritische Christen arbeiten sich seit langem an Fragen der Ökumene und
       Modernisierung ab. Mit welchen Gedanken betrachten Sie diese Konflikte? 
       
       Eigentlich interessieren sie mich nicht. Ich betrachte sie allenfalls mit
       Schmunzeln, weil es sich um selbst erzeugte Konflikte handelt, die die
       Kirchen aufgrund ihrer unterschiedlichen Bibelinterpretationen haben. Sie
       beruhen letztlich auf bloßen Behauptungen und reiben sich daher ständig an
       der Wirklichkeit.
       
       Fragen wie die nach der Gleichstellung von Frauen in der Kirche lassen sie
       kalt? 
       
       Diese Konflikte beweisen doch, wieweit insbesondere die katholische Kirche
       hinter der gesellschaftlichen Entwicklung zurückgeblieben ist. Aber das ist
       auch kein Wunder: Die für alle Christen verbindliche Bibel erachtet die
       Frau in jeder Hinsicht als weniger wert. Das drückt sich schon im 10. Gebot
       aus, viele Stellen des Alten Testaments zeichnen die Frau als Verführerin
       und Wesen mit bösartigem Charakter. Das Neue Testament ist in dieser
       Hinsicht nicht besser. Die wenigen Stellen, die die Rolle der Frau
       thematisieren, sprechen von ihrer Unterordnung.
       
       Katrin Göring-Eckardt, Präsidentin des Evangelischen Kirchentags, sagt in
       der Zeit, das Abendgebet sei eine "warme Hülle", ohne das "unser Ein- und
       Weiterschlafen unruhig" wäre. Missgönnen Sie frommen Menschen den ruhigen
       Schlaf? 
       
       Also ich schlafe trotz meines Alters noch sehr gut ein - und zwar ganz ohne
       Abendgebet. Aber im Ernst: Warum sollte ich das tun? Frau Göring-Eckardt
       mag sich gern ihr sympathisch-kindliches Gemüt bewahren. Ich habe nie
       versucht, Menschen ihren Glauben auszureden.
       
       Viele Menschen denken in den dunklen Tagen am Jahresende über ihr eigenes
       Ende nach. Und Sie? Brauchen Sie keinen Trost, dass es "danach weitergeht"? 
       
       Natürlich könnte man Menschen beneiden, die fest an ein Leben im Jenseits
       glauben. Aber so etwas zu erhoffen, gelingt jemandem nicht, der überzeugt
       ist, dass hier eine Illusion vorliegt. Ich persönlich habe mich längst mit
       dem Gedanken vertraut gemacht, dass mein Leben irgendwann ein Ende finden
       wird. Der Tod als das Ende aller meiner Tage ängstigt mich daher heute kaum
       noch.
       
       Sie genießen das Leben hier und jetzt? 
       
       Ich habe die Hoffnung, dass es ein langes und möglichst erfülltes Leben
       sein wird. Wenn dieses Leben auch noch Spuren hinterlässt, fürchte ich den
       Tod nicht. Angst habe ich vor einem zu frühen Tod oder quälend langem
       Sterben. Aber gerade für letzteren Fall haben ja humanistische Kreise den
       Weg zu einem menschenwürdigen Lebensende freimachen können - gegen
       erbitterten Widerstand der Kirchen.
       
       23 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claudius Prösser
       
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