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       # taz.de -- Iranische Künstlerin Farkhondeh Shahroudi: Boden der Tatsachen
       
       > Die Künstlerin Farkhondeh Shahroudi erschafft aus Alltagsmaterialien
       > assoziativ neue Bilder. Jetzt sind sie im Kunstverein Arnsberg zu sehen.
       
   IMG Bild: Viele Zusammenhänge, eng geknüpft: Farkhondhe Shahroudi in Arnsberg
       
       Dutzende Male steht der Satz auf dem weißen Kubus geschrieben: „gestern war
       ich so müde dass ich den tee gegessen habe.“ Der Versuch, ihn genau so zu
       lesen, wie er geschrieben steht, führt rasch weg vom Wunsch seiner
       Interpretation. Mehrfach hinter- und untereinander, seitwärts dann spiral-
       und wellenförmig, zwischendurch mit gedoppelten Ichs.
       
       Ein fabelhaftes Gedeck ist auf dem Kubus mit diesen Dada-Sätzen platziert.
       Schale und Löffel in Blau und Rot, Schwarz, Orange und Pink marmoriert. Es
       sind die Musterungen eines orientalischen Teppichs, mit denen Essgeschirr
       und Besteck umzogen sind. Und schon ist man drin, in der Kunst von
       Farkhondeh Shahroudi. Denn Geknüpftes und Geschriebenes spielen bei ihr
       eine zentrale Rolle. „Sprache ist immer anwesend,“ bestätigt die Künstlerin
       im Gespräch. „Für mich haben Text und Textil den gleichen Charakter. Es
       sind Gewebe.“
       
       Farkhondeh Shahroudi ist 1962 in Teheran geboren. 1990 flieht sie mit ihrem
       Sohn aus dem Iran. Erst nach Frankreich, später zieht sie nach Belgien und
       schließlich nach Deutschland. Viele Jahre hat sie in Dortmund gelebt, heute
       ist sie in Berlin zu Hause. [1][2022 wurde sie dort mit dem
       Hannah-Höch-Förderpreis] ausgezeichnet.
       
       ## Vielgestaltige Arbeiten
       
       Malerei und Künstlerbücher, dreidimensionale Arbeiten, Fotografie,
       Assemblage, Performances und Zeichnung zählen zu ihrem Werk. Gerade widmet
       ihr der Kunstverein Arnsberg eine Einzelschau mit Arbeiten der letzten
       Jahrzehnte. Der Titel: „gestern war ich so müde dass ich den tee gegessen
       habe.“
       
       Bild und Schrift sind Shahroudi ebenbürtig wichtig. Als sie im Alter einer
       Erwachsenen die fremde Sprache lernt, beschließt sie eine auch körperliche
       Trennung: Deutsch mit der linken, Farsi mit der rechten Hand zu schreiben.
       „Ich mochte das, mit links zu schreiben. Weil es langsamer ist, ich
       nachdenken kann. Meine Gedanken und mein Schreiben gehen so besser
       ineinander.“
       
       Shahroudis Schreiben ist ein Malen und vielleicht auch umgekehrt. Und wie
       die Sprache ihrer eigenen Logik folgt, so ergibt sich auch im
       Arbeitsprozess eines ums andere. Irgendwann überlässt sie der inhärenten
       Logik der Kunstproduktion das Ruder. So ist es auch mit dem Teppich.
       
       ## Schrift beginnt zu fliegen
       
       Die Künstlerin macht sich das Material durchaus rabiat zu eigen, nimmt
       Gewebe heraus, fügt ihm eigene Bilder und weitere Ebenen hinzu, malt
       darauf, fügt Schriftliches an, bringt Teile mit dem für sie typischen
       groben Stich neu zusammen. Schon ihre Malereien habe sie als Teppich
       begriffen. Heute sei es so, als ob „Motive und Farben aus der Leinwand in
       den Raum eingetreten sind. Ich betrachte den Raum wie eine Malerei.“
       
       Wir sprechen über [2][Meret Oppenheims Werk „Déjeuner en fourrure“] von
       1936, ein mit Gazellenfell überzogenes Frühstücksservice, an das man sich
       beim Anblick von Shahroudis Teppich-Geschirr erinnert fühlen kann. Keine
       bewusste Referenz, wie so vieles in Shahroudis Bildkosmos. Die Surrealisten
       und das traditionelle Schattentheater im Iran, Deutsch und Farsi, [3][Max
       Beckmann] und das Teppichknüpfen, die iranische Revolution und biografische
       Erinnerungen finden darin ihren Widerhall.
       
       Und man möchte kaum fragen, weil dieser Tage exiliranische Menschen so
       häufig für politische Statements herhalten müssen: Ob die aktuellen
       Proteste im Iran und sein brutales Regime sich auch in ihre Kunstproduktion
       schleichen? Ja, sagt die Künstlerin. „Ich spüre, dass es langsam auch in
       meine Arbeit eintritt.“ Farkhondeh Shahroudi arbeitet gemächlich.
       Tagesaktuelle Bezüge oder gar politische Slogans findet man bei ihr nicht.
       Alles in dieser Kunst wird vielmehr durch den Filter der Poesie geschleust,
       doch die kann den Schrecken umso stärker hervortreten lassen.
       
       ## Schnüre an Stoffskulpturen
       
       In den Räumen des Arnsberger Kunstvereins begegnet man Steinen, die an
       Schnüren über Stoffskulpturen hängen, oder einer Garnitur von Peitschen,
       die an Stöcken befestigt von der Decke baumeln. Schwarzes
       Fahrradschlauchgummi, zusammengeflochten zu langen Riemen. Gefahr schwebt
       durch diese Schau. Es ist auch diese Nähe aus Alltagsmaterialien und
       potenzieller Gewalt, die schaudern lässt.
       
       Der Titel „von weinenden bäumen“ scheint auf den Kautschukbaum zu
       rekurrieren, der das Gummi liefert, aber bleibt zugleich offen, dass hier
       auch alles ganz anders gemeint sein könnte; lustig, cool, ambivalent.
       
       Schließlich sind da die zahlreichen Stoffe und Gewebe, Flechtungen und
       Knüpfungen, die wie ein schützender Gegenpol zur Gefahr erscheinen, aber
       ihrerseits auch unheimliche Präsenz entfalten – lange Kettenvorhänge, ein
       riesiger Schlafkokon oder ein [4][surrealistisch anmutendes] Springseil aus
       Kunsthaar. Und ein ganzer Raum voller abgewetzter Teppiche.
       
       ## Herabfließendes Kunsthaar
       
       Oben entdeckt man einen mit herabfließendem Kunsthaar umwickelten Stuhl,
       der hier an der Wand hängt oder wohl eher auf ihr steht und eine Behauptung
       formuliert: dass der Boden der Tatsachen sich nämlich in Wahrheit hier
       befände und nicht 90 Grad und gut zweieinhalb Meter weiter unten.
       
       Eine schräg gegenüber platzierte Fotografie aus dem Jahr 2003, „from
       finger“, funktioniert ihrerseits als Vexierbild. Ist diese Hand an einer
       V-förmigen Baumgabel eine schützende – oder erinnert sie an die „Grab ’em
       by the pussy“-Rede nicht nur eines Donald Trump?
       
       Omnipräsent ist in Arnsberg die Sprache: Als große „ey“-Skulptur an der
       Wand, die dem Raum-Ensemble cool kommentierend zur Seite steht. In den
       Briefen an Max Beckmann – Farkhondeh Shahroudi führt im Studio oft
       Zwiegespräche mit ihren „Doppelgängern“, wie sie die verstorbenen
       Persönlichkeiten nennt, die ihr zum Beispiel im eigenen Atelier oder am Ort
       einer Künstlerresidenz begegnen.
       
       ## Fiktive Gespräche
       
       Mit dem expressionistischen Maler, aber auch mit einer anonymen
       Teppichknüpferin und einer ehemaligen Hausdienerin hat sie schon Briefe und
       Gespräche ausgetauscht, die ihrerseits künstlerisches Dokument werden.
       
       Die auch unverstandene Sprache taucht auf einem Set aus acht muslimischen
       Mundschleiern auf, „instant message“ nennt Shahroudi es. Die Künstlerin hat
       Öffnungen für den Mund ihrer Trägerinnen hineingeschnitten. Wilde, schnell
       über- und untereinander geschriebene Notierungen in Farsi darauf bleiben
       allerdings ebenso für sie im Nachhinein unlesbar.
       
       Aus Assoziationen, Unausgesprochenem und Separiertem speist sich Farkhondeh
       Shahroudis Kunst. Viele Bilder und Verbindungen schleichen sich unbewusst
       ins Werk. Auch die zur schiitischen Theatertradition. Shahroudi erinnert
       sich an die nächtlichen Schattentheater ihrer Kindheit im Iran. Im Sommer
       schlief man gemeinsam im Hof oder Garten – die Schatten auf der Wand
       machten Angst. Ein Theater für Erwachsene, „für Kinder eher ein Horror.
       Aber faszinierend? Ja.“
       
       Oft gehe es um die Bewältigung von Traumata, ums Betrauern und Beklagen,
       erklärt Shahroudi. In ihrer eigenen Arbeit erkennt sie einen ähnlichen
       Umgang mit dem Schrecken. Im Erzählen durch spezifische Farben und Formen.
       
       Festlegen möchte sich Farkhondeh Shahroudi weder auf eine bestimmte Lesart
       denn auf ein Medium. „Es ist verknüpft. Und komplex“, sagt die Künstlerin.
       Wie mit dem Leben, so in der Kunst: „Wenn du dich an etwas erinnerst, dann
       gibt es verschiedene Teile, die zusammenkommen.“
       
       „gestern war ich so müde dass ich den tee gegessen habe“ nimmt diese Teile
       auf, die Zwiegespräche mit den Doppelgängern, die sich selbst
       kommentierende Erinnerung. Als Ausstellung erzählt sie von Farkhondeh
       Shahroudis Leben zwischen verschiedenen Welten und von ihrer Kunst. Und sie
       erzählt, wie sich beides in einer ganz eigenen Ikonografie verknüpfen
       lässt.
       
       20 Mar 2023
       
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