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       # taz.de -- Israel und Libanon: Der Krieg, den es offiziell nicht gibt
       
       > Zwischen Israel und Libanon gilt eine Waffenruhe. Doch bei Angriffen
       > sterben immer wieder Libanes*innen, viele können nicht in ihre zerstörten
       > Dörfer zurück.
       
   IMG Bild: Zerstörte Häuser im Dorf Houla im Südlibanon im Oktober 2025
       
       taz | Tarek Mazraani fürchtet um sein Leben. Dabei möchte er nur zurück
       nach Hause. Der libanesische Ingenieur ist vertrieben aus Houla, einem Dorf
       direkt an der Grenze zu Israel. Weil er eine parteiunabhängige Initiative
       gegründet hat, die darauf drängt, dass Bewohner*innen sicher zurück in
       ihre Dörfer können, ist er dem israelischen Militär ein Dorn im Auge.
       
       Am 12. Oktober flogen israelische Drohnen über Dörfer im Bezirk Nabatieh
       und verbreiteten Audio-Aufnahmen mit Drohungen gegen Mazraani. Sie
       forderten die Einheimischen auf, ihn zu vertreiben, und beschuldigten ihn,
       ein „zerstörerisches Projekt“ zu verfolgen. Die Botschaft war klar:
       Einschüchterung aller, die es wagen, in ihre Dörfer zurückzukehren.
       
       Eigentlich ist zwischen Israel und Libanon seit 27. November 2024 eine
       Waffenruhe in Kraft, nach mehreren Monaten Krieg zur Zerschlagung der
       libanesischen Hisbollah-Miliz durch Israel mit mehreren tausend Toten. Doch
       Israel bricht sie jeden Tag. Libanesische Medien zählten bis Mitte Oktober
       zwischen 270 und 290 Tote bei israelischen Angriffen seit der Waffenruhe,
       davon nach Angaben des UN-Menschenrechtsbüros von Ende September mindestens
       103 Zivilist*innen.
       
       Die Zahlen steigen weiter. Am vergangenen Donnerstag starben mindestens
       vier Menschen, darunter eine ältere Frau, bei israelischen Luftangriffen
       auf die östliche Bergkette in der Bekaa-Region nahe der Grenze zu Syrien
       und die Region Hermel im Nordosten Libanons, am Samstag meldete Libanons
       Gesundheitsministerium zwei Tote bei israelischen Angriffen auf ein Auto
       und ein Motorrad in zwei südlibanesischen Gemeinden.
       
       ## Über 60.000 Vertriebene
       
       „Nach dem Waffenstillstand wird so getan, als sei der Krieg zu Ende“, sagte
       Mazraani [1][dem libanesischen Fernsehen]. „Aber für uns, die Menschen aus
       den Grenzdörfern, geht der Krieg weiter.“ Der Libanese teilt das Schicksal
       mit [2][über 64.000 Menschen], die noch immer vertrieben sind. Hunderte
       beschädigte Schulen, Gesundheitseinrichtungen und andere zivile Orte im
       Südlibanon sind seit dem Krieg vom vergangenen Jahr noch Sperrgebiete oder
       nur teilweise nutzbar.
       
       Dutzende Dörfer sind unzugänglich, weil Israel den Menschen verbietet, sie
       zu betreten. Israel besetzt noch immer mindestens fünf Stützpunkte auf
       Bergen im Südlibanon, verbarrikadiert mit Betonklötzen, ausgestattet mit
       Überwachungstechnik und Soldaten.
       
       Mehrere Menschen aus Grenzdörfern berichten der taz, dass sie bei Besuchen
       in ihren Dörfern mit Drohnen verfolgt werden. Die Drohnen kämen so nah,
       dass sie den Menschen direkt vor den Köpfen surren. Für einige sind sie
       ständige Begleiter. Keiner möchte mit Klarnamen sprechen, die Menschen
       fürchten, dass sie selbst oder ihre Familie von Israel diffamiert,
       angegriffen oder getötet werden.
       
       „Es ist fast schon ein Ritual wie Kaffeetrinken. Ich schaue morgens aufs
       Handy und sehe wieder Whatsapp-Nachrichten über drei, vier Angriffe“, sagt
       ein Fischer aus Tyros. Täglich würden die Fischer in den Häfen von Tyros
       und Naqoura angegriffen. „Drohnen verfolgen uns, schmeißen kleine Bomben
       auf uns, manchmal machen sie einen lauten Knall, damit die Fischer zurück
       in den Hafen fliehen“, so der Fischer. „Sie kommen auch mit Militärschiffen
       und Soldaten schießen auf uns.“
       
       Noch sei keiner gestorben, aber es gebe unzählige Verletzte. „Am Dienstag
       erst sind sie in Sour mit einem Boot in die Nähe von zwei Fischern
       gekommen. Sie haben neben ihr Boot geschossen, die Fischer sind in den
       Hafen geflüchtet. Ihr Netz hatten sie im Wasser gelassen. Es war komplett
       zerstört.“
       
       ## Fischer trauen sich nicht mehr aufs Meer
       
       Rund 190 Fischerboote gebe es in Tyros und Naqoura. Sie alle hätten Angst,
       viele trauen sich nicht mehr aufs Meer. Der Terror hat konkrete Folgen, sie
       können ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten, sind auf Geld von Freunden
       oder Familienmitgliedern im Ausland angewiesen. „Wir leben von Tag zu Tag.
       Wenn Fischer aufs Meer hinausfahren, können sie essen. Bleiben sie zu
       Hause, können sie nicht essen.“
       
       Zwei Fischer hat das israelische Militär sogar verschleppt. Am Morgen des
       2. Februar entführten israelische vermummte Soldaten den Fischer Mohammad
       Juhair von seinem Boot. Eine zweite Entführung folgte am 4. Juni, vor der
       Küste von Ras Naqoura. Der 34-jährige Ali Fneisch war mit seinem Boot auf
       dem Meer, laut Medienberichten überquerten [3][israelische Militärboote]
       die Seegrenze und [4][verschleppten ihn]. Seitdem ist Fneisch als Geisel in
       Israel. Seine Familie weiß nicht, wie es ihm geht.
       
       Die Verbrechen passieren im libanesischen Gewässer. Doch weder das
       libanesische Militär noch die UN-Mission Unifil schützen die libanesischen
       Fischer. Die maritime Mission von Unifil wird aus deutschen Geldern
       finanziert. Ihr Auftrag lautet nur, den Seeraum zu überwachen und über
       möglichen Waffenschmuggel Bericht zu erstatten. Eingreifen dürfen sie laut
       Mandat nicht. „Keiner kann uns helfen“, sagt der Fischer der taz. „Sie
       können Menschen töten und keiner stoppt sie.“
       
       „Seit Januar bis heute haben wir fast täglich Angriffe gesehen, vor allem
       in den Grenzgebieten“, berichtet Ramzi Kaiss, Libanon-Forscher bei Human
       Rights Watch. Die Zerstörung mit schweren Maschinen und Bulldozern ginge
       weiter. Videos zeigten den Einsatz kontrollierter Sprengungen zur
       Zerstörung von Häusern und anderen Gebäuden, so Kaiss. Nach dem Abzug der
       Bodentruppen seien Fertighäuser für Vertriebene durch israelische Luft- und
       Drohnenanschläge zerstört worden.
       
       ## Kontrollierte Sprengungen
       
       Kaiss war Anfang des Jahres in den Dörfern. Dabei habe er zerstörte Rohre
       gefunden, die auf gezielte Sprengungen hindeuteten. „Ganze Stadtviertel
       wurden einer kontrollierten Sprengung unterzogen. Da waren nur noch Trümmer
       übrig.“ Eine beträchtliche Anzahl von Strommasten war umgestürzt, so Kaiss.
       „In fünf Dörfern stellten wir fest, dass das israelische Militär die
       Schulen besetzt und als Militärstützpunkte genutzt hatte. Zwei Schulen
       haben sie vorsätzlich zerstört und geplündert – das sind Kriegsverbrechen.“
       
       Seit Oktober 2023 wurden mehr als 100 Schulen im Südlibanon zerstört oder
       schwer beschädigt, zählt das UN-Kinderhilfswerk UNICEF. Datierte hebräische
       Graffiti in der Mittelschule von Naqoura deuten darauf hin, dass das
       israelische Militär einige der Schulen noch Wochen nach dem
       Waffenstillstand vom November 2024 besetzt hielt, so ein Bericht von Human
       Rights Watch.
       
       „Das Ausmaß der Zerstörung in den Grenzdörfern ist so groß, dass es für
       viele Menschen unmöglich ist zurückzukehren“, sagt Kaiss. „Viele Dörfer
       liegen fast vollständig in Schutt und Asche. Wir sprechen hier von der
       Zerstörung von Hunderten von Häusern, Straßen, Strom- und
       Wasserinfrastruktur, also den grundlegenden Elementen, die zum Leben
       notwendig sind. Selbst wenn das Haus noch steht: Es gibt kein Strom, kein
       Wasser.“
       
       Der Wiederaufbau wird Libanon mehr als 10 Milliarden Euro kosten, rechnet
       die Weltbank. Sie hat [5][einen Kredit von rund 215 Millionen Euro]
       zugesagt. Doch der Kredit muss vom Parlament noch genehmigt werden und
       viele Länder stellen Bedingungen für Wiederaufbaugelder, beispielsweise die
       Entwaffnung der Hisbollah sowie wirtschaftliche und soziale Reformen. „Mit
       dem Wiederaufbau wurde nicht wirklich begonnen“, so Kaiss. „Die Lage bleibt
       sehr düster.“
       
       26 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://x.com/MegaphoneNewsEN/status/1977772899093111257
   DIR [2] https://reliefweb.int/report/lebanon/lebanon-displacement-tracking-matrix-mobility-snapshot-round-88-15-october-2025
   DIR [3] https://en.al-akhbar.com/news/another-lebanese-fisherman-abducted-by-israeli-forces
   DIR [4] https://www.mtv.com.lb/en/news/%D9%85%D8%AD%D9%84%D9%8A%D8%A7%D8%AA/1580007/watch--israeli-gunboat-abducts-citizen
   DIR [5] https://www.worldbank.org/en/news/press-release/2025/06/25/lebanon-new-us-250-million-project-to-kickstart-the-recovery-and-reconstruction-in-conflict-affected-areas
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julia Neumann
       
       ## TAGS
       
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