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       # taz.de -- Israelische Band The White Screen: Mit latenter Sexyness
       
       > Die fluide Band The White Screen baut Brücken zwischen Israelis und
       > Palästinensern. Ein Abend in Tel Aviv mit Mastermind Gabriel Broid.
       
   IMG Bild: Mögen Verkleidungen und burleskes Auftreten: Gabriel und Gilbert Broid von The White Screen
       
       Bei einem Israelbesuch landen die Gespräche recht bald bei der
       Berlin-Faszination junger Israelis. Der Hype mag etwas nachgelassen haben,
       dennoch bleibt da diese befremdliche Verkehrung der zionistischen Idee: Für
       viele junge Leute ist die deutsche Hauptstadt heute jener Sehnsuchtsort,
       der Israel einst war.
       
       „Das ist schon eine absurde Entwicklung“, sagt Gabriel Broid, während wir
       uns an einem Prä-Corona-Sabbatabend im Februar in Tel Aviv treffen.
       Gemeinsam mit seinem Cousin Gilbert Broid bildet er das Stammpersonal der
       2015 gegründeten israelischen Band The White Screen, deren Name wiederum
       zionistische Assoziationen an die einst zu besiedelnde Tabula rasa und die
       „White City“ Tel Aviv weckt.
       
       Auf ihrem 2019 erschienenen Album „Sex and Drugs and Palestine“ verarbeiten
       The White Screen den Berlin-Magnetismus in einer finsteren Liebesgroteske.
       Der Song „Germania“ erzählt davon, wie Gilbert seine damalige Freundin mit
       einem Typen im Café sitzen sieht, der genauso aussieht wie er. Der
       Nebenbuhler mutiert in Gilberts Fantasie zu einem Nazi-Soldaten, der Song
       endet mit dem – auf Hebräisch – an die Freundin gerichteten Refrain: „Geh
       nicht nach Deutschland!“
       
       Schwere Kost, aber die Geschichte sei wahr, so Gilbert: „Ich hatte wirklich
       eine paranoide Angst, dass sie nach Germania gehen würde. Es ist ein love
       song, der die Geschichte unseres Landes in sich trägt.“ Musikalisch bewegt
       sich das Lied zwischen Exotica und Americana und setzt wie die meisten
       The-White-Screen-Songs unterschiedliche Stile in ein Spannungsverhältnis.
       
       ## Organismus im Wandel
       
       Gabriel beschreibt die aktuell aus sechs Mitgliedern bestehende Band im
       Gespräch als einen Organismus, dessen Besetzung und musikalische
       Ausrichtung sich stets wandelt. „Wir haben uns musikalisch immer wieder neu
       orientiert, aber die Essenz der Band ist das Zusammenspiel zwischen
       Gabriel und mir. Jetzt sind wir eine ElectroRock’n’Roll-Band, keine
       Ahnung, was die Zukunft bringt, es könnte alles wieder ganz anders werden“,
       sagt Gilbert.
       
       The White Screen wollen sich nicht festlegen, und das optische
       Erscheinungsbild beglaubigt diese Fluidität: Ihr burleskes Auftreten mit
       Schminke und Verkleidungen zehrt von Glam Rock und Queer Culture. Zugleich
       strahlen die Broids etwas Zerbrechliches und Slackerhaftes aus, was der
       Außenstehende in einer gewagten Projektion nicht nur als Abweisung des
       Identitären an sich, sondern auch des alten zionistischen Ideals des
       „Muskeljuden“ auffassen darf.
       
       Die musikalische Vorgeschichte der Band weist zurück in die Zeit, als
       Gilbert und Gabriel mit 15 im Luftschutzkeller von Gilberts Eltern in dem
       kleinen Dorf Ben Shemen anfingen, Velvet-Underground-Songs nachzuspielen.
       Hier, wo sie noch heute arbeiten, fanden sie damals ihren safe space, den
       Raum, autodidaktisch Ideen auszuprobieren. Später gründeten sie erst die
       Punkband GG Homoerotica, dann die Hardcore/Noise-Band Shaelet Nefotza, was
       so viel bedeutet wie „Der übliche Husten“.
       
       ## Musikmachen gegen das Durchdrehen
       
       „Da wurde viel geschrien, wir hatten gerade die Armee beendet, und die
       ganzen Hormone der jungen Soldaten kamen zum Ausbruch“, erinnert sich
       Gabriel schmunzelnd. Überhaupt sei der Wehrdienst für ihn ein
       lebensverändernder Einschnitt gewesen: „Vor der Armee habe ich nur Party
       gemacht, während des Militärdienstes wurde mir dann klar, dass das
       Musikmachen im Keller mit Gilbert viel erfüllender ist, als auszugehen,
       durchzudrehen und Ärger zu suchen. Es war ermutigend in einer Zeit, in der
       eigentlich die Individualität unterdrückt wird, dennoch kreativ zu sein.“
       
       Auf „Sex and Drugs and Palestine“ bekommt man das über Jahre gediehene
       Ergebnis in seiner ganzen Bandbreite zu Gehör. Die Einflüsse reichen von
       Gun Club bis zu Kinderliedern, von Phil Spector bis zu Wüstenrock. „Gadil“
       zum Beispiel klingt wie die Vertonung einer Fahrt durch die nächtliche
       Negev, während „Lucretius“ eine verhallte Teeniepop-Ballade ist. Immer
       wieder sind elektronische Nebengeräusche zu vernehmen, die eher
       kommentierend als kommandierend auftauchen.
       
       Für den Hörer, der kein Hebräisch versteht, ist es nicht zuletzt der
       Gesang, der mit seiner latenten Sexyness einen besonderen Sog erzeugt. Es
       gibt einen früheren Song der Band mit dem Titel „Death to Techno“
       (erschienen 2018), die kehlige Aussprache von „Techno“ ist ein phonetischer
       Hochgenuss. Einige israelische Musiktraditionen sind auszumachen, etwa das
       Songwriting des legendären Musikers und Schauspielers Arik Einstein.
       
       ## Viele Leute gehen nach Berlin
       
       Gabriel bestätigt diesen Höreindruck: „Dass so viele Leute nach Berlin
       gehen, ist ja eher ein neues Phänomen, die israelische Kultur war schon
       immer sehr lokal, und es war immer wichtig, Songs auf Hebräisch für die
       Leute hier zu komponieren: über Dinge, die hier passieren und hier
       politische Relevanz haben. Arik Einstein war da mit seinen Projekten in den
       sechziger Jahren wegweisend.“
       
       Auch die ungemütliche Düsternis von Minimal Compact ist als Einfluss
       auszumachen. Als ich erzähle, dass ich Minimal Compact anno 1984 im
       Vorprogramm von Gun Club gesehen habe, wird Gabriel ganz enthusiastisch:
       „Sie sind die coolsten! Wir sind gut mit dem Sänger Samy Birnbach
       befreundet. Er lebt in Brüssel, aber wenn er in Israel ist, kommt er zu
       unseren Shows. Minimal Compact inspirieren uns sehr, sie sind die
       internationalste Band, die es je in Israel gab. Wir hoffen, dass wir bald
       mit ihnen kollaborieren können.“
       
       Was aber hat es mit dem irritierenden Albumtitel auf sich, in dem das „Rock
       ’n’ Roll“ aus dem Ian-Dury-Klassiker gegen „Palestine“ ausgetauscht wird?
       
       Gabriel erklärt: „Wir haben diesen berühmten Eskapismus-Slogan benutzt, um
       auf die politische Situation aufmerksam zu machen. Tel Aviv ist verbunden
       mit dem westlichen Leben und allem, was an Spaß, Drogen und Mode
       dazugehört. Aber gleichzeitig steckt es tief im Schlamm des Mittleren
       Ostens. Wir wollten damit sagen: Vergesst nicht, dass es diesen
       unaufhörlichen Krieg gibt, der beschönigend ‚Konflikt‘ genannt wird! Ihr
       lebt nicht in New York, ihr lebt hier!“ Die Bezugnahme auf ortsspezifische
       Musiktraditionen lässt sich denn auch als Ausdruck dieser Haltung
       verstehen.
       
       ## Songs auf Deutsch
       
       Die neueste Wendung der Band weist allerdings in eine andere Richtung.
       Nächstes Jahr erscheint beim Berliner Label „Martin Hossbach“ eine EP mit
       auf Deutsch gesungenen Songs, im Herbst wird es vorab eine
       Singleauskopplung geben. Auf „The German EP“ werden quatschige Songtitel
       wie „Erdbeeren und Bananen“, „Knete“ und „Razional“ zu finden sein. Während
       das schunkelige „Erdbeeren und Bananen“ an Andreas Doraus Popentwurf
       erinnert, klingt der Rest der Songs eher proto-technoid und angenehm
       primitiv.
       
       Wie kam es zum Sprachenwechsel? „Wir lieben es, mit Worten zu spielen“,
       sagt Gabriel, „das machen wir im Hebräischen genauso.“ Jetzt in einer
       anderen Sprache zu singen sei eine neue, tolle Erfahrung. „Es fühlt sich so
       unschuldig an wie ein Land, das wir bisher nicht betreten haben.“
       
       Was denn Freunde und Verwandte dazu sagen, dass sie jetzt in der Sprache
       der Täter singen, will ich wissen. „Jüngere Freunde und sogar unsere Eltern
       sind da ziemlich offen, sie finden es frisch; auf Hebräisch haben sie uns
       ja schon oft genug gehört“, sagt Gilbert. „Aber mein Großvater wäre richtig
       wütend geworden. Klar, in diesem Land liegt die Geschichte des Holocaust
       immer und überall in der Luft. Für uns liegt es da irgendwie auf der Hand,
       auf Deutsch zu singen, es hat eine Bedeutungstiefe, die uns gefällt.“
       
       Letztes Jahr haben The White Screen einige Gigs in Deutschland gespielt.
       „Es war großartig und wir haben viele neue Freunde gefunden“, erinnert sich
       Gabriel. „Jetzt auf Deutsch zu singen ist unsere Art, ‚Hallo‘ zu neuen
       Crowds und Atmosphären zu sagen. Wir wollen offen sein und Brücken bauen.
       Wie sich das Verhältnis zwischen Deutschen und Israelis in letzter Zeit
       entwickelt hat, macht mir Hoffnung, dass es zwischen Israelis und
       Palästinensern eines fernen Tages genauso sein kann.“
       
       12 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Aram Lintzel
       
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