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       # taz.de -- Jarvis Cocker in Berlin: Rachmaninow mit Napalm
       
       > „Sleepless Nights“: Der Popstar Jarvis Cocker als schlauer Conférencier
       > des Jungen Sinfonieorchesters im Haus der Berliner Festspiele.
       
   IMG Bild: Den Cordanzug trägt er seit 20 Jahren: Jarvis Cocker in Berlin
       
       „Hello?!“ Eine warme tiefe Stimme dringt in den nachtdunklen Raum. Pause.
       „Is anybody out there?“ Als keine zufriedenstellende Antwort kommt, wird
       die Frage wiederholt, jetzt etwas fordernder. Jarvis Cocker beginnt
       „Sleepless Nights“, seine „Erforschungen menschlicher Befindlichkeiten nach
       Einbruch der Dunkelheit“, wie im Kasperl-Theater, nur mit Gruselfaktor.
       
       „Manche Menschen haben Angst im Dunkeln, sie fühlen sich allein – aber ihr
       seid nicht allein.“ Er leuchtet mit einer Taschenlampe in den
       Zuschauerraum. „Ich bin auch nicht allein. Mit mir ist ein ganzes
       Orchester.“ Jetzt leuchtet er die Instrumentenabteilungen des Jungen
       Sinfonie Orchesters Berlin an, das Cocker unter der Leitung von Andreas
       Schulz begleiten wird.
       
       Die Verbindung zwischen Publikum und Akteuren auf der Bühne im Haus der
       Berliner Festspiele ist hergestellt, der Mond geht auf. Cocker, als Sänger
       der Sheffielder Band Pulp und insbesondere mit dem Hit „Common People“ zum
       Sprachrohr der denkenden Arbeiterklasse Englands geworden, verbindet in
       „Sleepless Nights“ spielerisch sogenannte Hoch- mit Popkultur und
       politischem Bewusstsein.
       
       Damit hat er ein Publikum angelockt, das international ist; ulkig
       gekleidete junge Leute und ein älteres Klassikpublikum machen die Mischung
       rund.
       
       ## Entrückte Performance
       
       „Ick heiße Jarvis“, stellt sich Cocker vor. Dann erzählt er, dass
       US-Präsident Richard Nixon 1971 eines Nachts nicht schlafen konnte und
       deshalb ohrenbetäubend laut Rachmaninow hörte. Das Telefon klingelt, Nixon
       selbst ist an der Strippe. Nun werden Originalaufnahmen der „Watergate
       Tapes“ eingespielt, Gedanken, die der US-Präsident einst ins Diktiergerät
       nuschelte. Der Mond hat sich zum Wahlkampffoto „America needs Nixon“
       verwandelt.
       
       Für die BBC moderiert Cocker die Radiosendung „Wireless Nights“. Aus einer
       Sendung über Nixon ist das Programm für „Sleepless Nights“ entstanden. Zum
       aufwühlenden Rachmaninow-Klavierkonzert sind Bilder von grellroten
       Napalm-Bombardements aus dem Vietnamkrieg auf der Leinwand zu sehen. Eine
       Kamera projiziert die Darbietung des Pianisten Haiou Zhang etwas
       zeitversetzt, was seiner Performance etwas Entrücktes verleiht.
       
       Die klassischen Stücke leitet Cocker jeweils mit Anekdoten über ihre Genese
       ein. Strawinsky kam die Idee zum „Frühlingsopfer“ im Schlaf, Cocker
       berichtet vom Aufruhr, den die wuchtige Musik bei ihrer Uraufführung 1913
       in Paris entfachte. Aus den „Rites of Spring“ macht Cocker „Riots of
       Spring“. Bei den Bach’schen Goldbergvariationen einzuschlafen wäre
       ausnahmsweise nicht unhöflich, das sei ihre Funktion gewesen. Er gehe aber
       davon aus, dass im Publikum niemand vom Schlaf übermannt wurde.
       
       ## „End of the Night“
       
       Dafür ist auch keine Gelegenheit, die Dramaturgie aus Anekdoten, für
       Orchester arrangierte Popsongs – Cocker singt ein schief intoniertes „End
       of the Night“ – und klassischen Stücken stimmt.
       
       Als Zugabe, verletzlich und renitent zugleich, covert er einen Song von Tim
       Buckley. Auch die mal kommentierenden, mal nachdenklich stimmenden Bilder
       wirken. Musik und Effekte – der Einsatz von Trockeneis bei Klassikkonzerten
       ist eher selten – reißen die ZuschauerInnen von der ersten bis zur letzten
       Minute mit. Zu Mussorgskys „Dawn on the Moskva River“ geht die Sonne auf,
       bestehend aus vielen gleißend leuchtenden Baulampen.
       
       Am Ende entschuldigt sich Cocker für den Brexit. Ein Abend wie dieser würde
       zeigen, dass Europa „stärker ist, wenn alle zusammen sind“. Mit der
       Aufforderung, nun erst recht zu feiern, entlässt er das Publikum in die
       laue Berliner Sommernacht.
       
       13 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sylvia Prahl
       
       ## TAGS
       
   DIR Pop
   DIR Soundtrack
   DIR Britpop
       
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