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       # taz.de -- Jersey: Meile für Meile kleine Wunder
       
       > Auf der größten der Kanalinseln sind zweimal im Jahr alle gleich. Da
       > laufen die Jerseyaner morgens um drei los um ihr Eiland - immerhin 77
       > Kilometer
       
   IMG Bild: Mont Orgueil Castle, Jersey
       
       "Aah, ooh", klingt es aus dem Gewühl in der hinteren Ecke. Aah, ooh?
       "Normal, normal." Und tatsächlich sieht man eine dreieckige lila Antenne
       wackeln. Das ist doch nicht - Tinky-Winky? Die Teletubbies hätte man hier
       nun wirklich nicht erwartet. Nicht um halb zwei Uhr morgens im Fährterminal
       am Elisabethkai auf der Kanalinsel Jersey. Wie ordentliche Briten haben sie
       sich brav in der Schlange an der Anmeldung angestellt. Tinky-Winky, Dipsy,
       Laa-Laa und Po alias Rob, Nick, Nat und Richard. Vier Jersey-Jungs in
       Fleecekostümen. Andererseits: Warum nicht? Schließlich ist man hier zwar
       nicht direkt auf britischem Boden, aber Jersey gehört zum englischen
       Kronbesitz. Und zwischen hier und der südenglischen Küste, der Heimat der
       quietschbunten Fernsehfiguren, liegen gerade mal 160 Kilometer Kanal.
       Dadurch lässt sich der britische Humor nicht aufhalten.
       
       Schließlich blitzt der auch sonst an jeder Ecke auf. Wo sonst käme ein
       verhutzeltes 81-jähriges Männchen wie John Seymour, dem man kaum zutraut,
       seinen Rollstuhl zu steuern, dazu, um diese Uhrzeit am Straßenrand zu
       parken und jungen Leuten in sportlicher Kleidung hinterherzurufen: "Can I
       give you a lift?" - Will jemand mitfahren?
       
       Von diesen jungen Leuten gibt es hier und jetzt mehr als genug. Nicht nur
       das Terminal, in dem sich die Teilnehmer des sogenannten Itex Walk
       registrieren müssen, ist rappelvoll. Auch vor dem Gebäude drängen sich
       Menschen mit Turnschuhen und Wanderstöcken. Die wenigsten haben die Nacht
       durchgemacht, die meisten sind schon wieder wach - wenn auch nach sehr
       wenig Schlaf.
       
       Denn zweimal im Jahr, jeweils am Samstag vor der Sommer- und der
       Wintersonnenwende, springen die Jerseyaner kurz nach Mitternacht aus ihren
       Betten, um einmal um ihre Insel zu wandern. Im Winter im Uhrzeigersinn, im
       Sommer andersherum. Immerhin 48,1 Meilen macht das, rund 77 Kilometer über
       asphaltierte Straßen, nassen Sand und steinige Klippenpfade. Und das nicht
       einfach so, sondern gemeinschaftlich organisiert, mit ordentlicher
       Kontrolle und freundlicher Verpflegung zwischendurch - und auch noch für
       einen guten Zweck.
       
       Denn der Itex Walk, den ein Softwareunternehmen vor zehn Jahren erfunden
       hat und inzwischen gemeinsam mit dem Rotary Club organisiert, ist kein
       reiner Sportevent. Er ist eine der größten Charity-Veranstaltungen auf
       Jersey: Wer mitmacht, lässt sich die gelaufenen Meilen von Freunden und
       Verwandten vergüten. Die Teletubbies zum Beispiel sammeln für eine
       Stiftung, die Knochenmarktransplantationen finanziert. Die Gruppe
       australischer Soldaten in Tarnanzügen, die einen Großteil der Strecke im
       Laufschritt hinlegt, für ihre eigenen Arbeitsplätze, die Jersey Baywatch.
       
       Wer nicht mitläuft, kennt jemand, der sich angemeldet hat oder letztes Mal
       dabei war. Geschafft haben es immer alle. "Yes, she finished." Na klar.
       Tatsächlich werden auch in diesem Jahr 755 der 1.100 Walker im Ziel
       ankommen. Der erste kurz vor Mittag, der letzte nach Mitternacht.
       
       Vielleicht nur diese zwei Mal im Jahr sind auf Jersey alle gleich. Beim
       Schlangestehen zur Registrierung. Beim Drängeln am Start. Beim
       Wassergreifen an den Checkpoints. Beim Kampf gegen müde Beine und blutende
       Füße. Anders als in der Politik, anders als bei den Steuern, wo auf Jersey
       ein Zweiklassensystem herrscht. Ausländische Gesellschaften - auf der
       größten der Kanalinseln sind etwa 33.000 registriert - sind inzwischen
       komplett steuerbefreit. Dafür hat die Regierung, die vor allem aus
       Geschäftsleuten besteht, erst letztes Jahr beschlossen, eine Art
       Mehrwertsteuer von drei Prozent einzuführen, die den Verlust an
       Steuereinnahmen ausgleichen soll. Ohnehin zahlen die Reichen weniger
       Steuern als die Armen, denn die erste halbe Million muss mit 20 Prozent
       versteuert werden; was danach kommt, wird schrittweise immer billiger. In
       der neuesten Steuerklasse kann man den Satz sogar direkt aushandeln.
       Normalerweise einigt man sich auf eine Jahrespauschale von 100.000 Pfund.
       Im Gegenzug müssen sich die Begünstigten zur Wohltätigkeit verpflichten.
       
       Viel rigoroser verfährt man mit ausländischen Arbeitskräften, die früher
       vor allem aus Portugal, inzwischen vermehrt aus Osteuropa kommen. Wer in
       der Tourismusindustrie oder der Landwirtschaft anheuert, bekommt
       grundsätzlich nur einen Saisonvertrag, damit er keine Ansprüche auf eine
       Wohnung oder gar die Einbürgerung aufbauen kann.
       
       Auch unter den rund 90.000 Jerseyanern gibt es diese Unterschiede, obwohl
       die meisten im Großen und Ganzen davon profitieren, dass sich die Insel im
       Zuge der Globalisierung und der Liberalisierung der Finanzmärkte von einer
       bäuerlichen Gesellschaft in ein Steuerparadies verwandelt hat. Jeder vierte
       Arbeitsplatz hängt inzwischen von den Banken und Stiftungen ab. Aber sicher
       ist nur, wer Arbeit hat. Denn staatliche Unterstützung zu bekommen ist
       schwer, Sozialhilfe gibt es nicht. Wer nicht mehr klarkommt, ist zum
       persönlichen Bittgang zur Gemeindeverwaltung gezwungen.
       
       Beim Frühstück an St. Catherines Bay spielt das alles keine Rolle. Jeder
       bekommt ein Bacon Roll, ein dickes, weiches Brötchen mit frisch gegrilltem
       krossem Speck, von den ehrenamtlichen Helfern in die Hand gedrückt. "Well
       done", sagen sie. "Well done." Eine Aufmunterung, die man an diesem Tag
       noch viele Male hören wird. Die ersten Mitwanderer präsentieren blutige
       Blasen. Denn wenn man irgendwann zwischen halb sechs und sieben hier
       ankommt, hat man schon 10,9 Meilen hinter sich. 17,6 Kilometer. Zunächst im
       Pulk über die Straßen raus aus der Hauptstadt St. Helier. Der Weg führt
       vorbei an marmornen Bankfassaden.
       
       Mit der aufgehenden Sonne und dem Gezwitscher früh erwachter Vögel drängt
       sich langsam die Natur in den Vordergrund. Jeffreys Leap zur Rechten, ein
       einst mächtiger, heute bröckelnder Kreidefelsen, der in früheren
       Jahrhunderten als Hinrichtungsstätte benutzt wurde. Gleich dahinter am Anne
       Port ragt eine Kaimauer weit ins Meer. Sie wurde in der zweiten Hälfte des
       19. Jahrhunderts mit viel Aufwand als Teil des geplanten neuen Marinehafens
       errichtet, der die Insel vor den Franzosen schützen sollte. Erst nach der
       Fertigstelllung merkte man, dass das Wasser für die neuen Kriegsschiffe
       nicht tief genug war.
       
       So richtig atemberaubend wird es aber erst zwischen Kilometer 27,3 und 38
       hinter St. Catherines Bay. Deshalb geben sich die ehrenamtlichen Helfer an
       den Checkpoints alle Mühe, einen mindestens bis hierhin bei der Stange zu
       halten. Bis zur 150 Meter abfallenden Steilküste über Wolfs Caves und
       Devils Hole, wo eine gefühlt vierstellige Anzahl von in die Klippen
       gehauenen Stufen zu überwinden ist. Atemberaubend aber nicht nur deswegen
       oder weil sich der enge Pfad Nichtschwindelfreien bei Gegenverkehr oder
       Drängeln im Rücken wie eine Würgeschlange um die Brust zu schlingen
       scheint. Sondern auch, weil es hinter jeder Ecke kleine Wunder zu entdecken
       gibt: steinerne Bögen, die einen grandiosen Blick auf den Horizont
       freigeben. Ein Guckloch in die Tiefe, wo weiße Gischt aus dem Felsen zu
       sprudeln scheint. Grüne Tunnel, die am Ende scheinbar über dem offenen
       Ozean münden. Landschaftskino vom Feinsten.
       
       Der richtige Platz für eine Pause ist der Rasen der Pferderennbahn Les
       Landes, noch einmal zehn Kilometer weiter. Zumal das Gros der Wanderer hier
       gegen Mittag ankommt, als der erste Teilnehmer, der 20-jährige Ryan
       Hodgson, schon im Ziel ist. Hier warten ein paar Freunde auf Tinky-Winky,
       Laa-Laa und Co. Wie viele andere Zuschauer haben sie Picknickkörbe mit dick
       belegten Sandwichs und kaltem Bier mitgebracht. Die vier Teletubbies in
       ihren dicken Kostümen haben kaum Appetit und wollen sich lieber fünf
       Minuten ins grüne Gras hauen. Denn als Nächstes kommt der elend lange
       Abschnitt die Westküste hinunter, am Strand von St. Ouens Bay entlang. Und
       damit die Frage: Schuhe aus im Sand? Oder bekommt man die hinterher nie
       wieder an?
       
       In St. Ouens schlägt vor allem die endlose Weite aufs Gemüt, die jeden
       normalen Urlaubswanderer begeistert. Sechs, sieben Kilometer ist der Strand
       lang, bei Flut sind die Wellen oft gigantisch. Ideal für Surfer. Gefährlich
       für Schwimmer. Von hier aus ist nur noch Meer, bis zur Freiheitsstatue.
       Dass die See die Insel hier in den letzten Jahrzehnten trotz ihrer
       stürmischen Kraft nicht weiter angeknabbert hat, ist ausgerechnet den
       deutschen Nazis zu verdanken. 1940 besetzte die Wehrmacht nach der
       Normandie auch Jersey und machte die Insel zum Teil des Atlantikwalls. An
       der gesamten Küste entstanden Befestigungs- und Bunkeranlagen, die heute
       noch den Wellen trotzen. Die kühlen unterirdischen Keller dienen vielfach
       als Lager für frisch gefangenen Fisch und Meeresfrüchte. Makrelen,
       Hornhechte, Sandaale, Hummer, Krebse, Jakobsmuscheln kommen am häufigsten
       vor und bevölkern auch die Speisekarten der Inselrestaurants, an die so
       mancher Teilnehmer nun doch langsam sehnsüchtig denkt. Die Küche mischt
       britische mit französischen, aber auch mit portugiesischen Elementen. Eine
       besondere Spezialität sind die kleinen Jerseykartoffeln. Die
       Kartoffelfelder haben die Apfelplantagen abgelöst, die früher den Stoff für
       die Ciderproduktion lieferten. Inzwischen lässt sich allerdings mehr Geld
       mit den algengedüngten, leicht salzigen Knollen verdienen.
       
       Andrew Shrimpton quälte im vergangenen Jahr weniger der Hunger als vielmehr
       der Bierdurst. Der Hotelbesitzer orderte einen Bediensteten per
       Mobiltelefon mit einem Pint nach St. Brelades Bay, wenige Kilometer weiter
       an der Südwestküste. Lange genießen konnte er diesen snobistischen Abfall
       vom Gleichheitsgrundsatz des Itex Walk nicht: Am nächsten Tag sollen sich
       dann seine Zehennägel schwarz verfärbt haben und schließlich abgefallen
       sein. Wochenlang humpelte er über die Insel - und strickte an seiner
       eigenen Legende.
       
       In St. Aubin, dem mit aufgeräumten Supermärkten und frischem Schwarzbrot
       ansonsten deutschesten Städtchen der Insel - der letzten Bucht vor dem
       Einlauf in St. Helier -, winken very British in Gelb und Violett
       gekleidete, kleine, alte Ladys mit bunten Fähnchen den nach und nach
       eintrudelnden Kämpfern zu. "Well done", "well done", jubeln sie. "Ihr seht
       toll aus!"
       
       Die Zielfotos, für die man mit dem Schild "I finished the Itex Walk" vor
       der Brust abgelichtet wird, bestätigen das nicht für alle. Die Teletubbies
       allerdings, die in voller Montur gemeinsam um halb acht abends ankommen,
       wirken immer noch wie direkt aus dem Flachbildfernseher gesprungen. "Fürs
       nächste Jahr müssen wir uns eine neue Herausforderung ausdenken", sagt Rob.
       Die Anmeldungen laufen schon.
       
       15 Jul 2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Beate Willms
       
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