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       # taz.de -- Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus: Falsche Freunde, falsche Feinde
       
       > Die „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ will die Debatte
       > entgiften. Judenhass und Kritik an Israel sollen präziser unterschieden
       > werden.
       
   IMG Bild: Zwei ganz dicke: Bibi Netanjahu und Viktor Orban (links Andrej Babis)
       
       Rund 200 Wissenschaftler*innen aus aller Welt [1][haben die „Jerusalem
       Declaration on Antisemitism“ unterzeichnet]. Die meisten sind Juden, die
       ihr Leben der Erforschung jüdischer Geschichte, des Antisemitismus oder des
       Holocaust gewidmet haben. [2][Und die ein wachsendes Unbehagen miteinander
       verbindet, das auch mich veranlasst hat, zu unterschreiben.]
       
       Der Kampf gegen Antisemitismus ist gekidnappt worden, von politischen
       Interessen, die mit der Verteidigung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur,
       mit der Verteidigung jüdischer Selbstbestimmung wenig zu tun haben. Wir
       leben in einer Welt, in der sich ein autoritärer Nationalist wie Victor
       Orbán, der seine Macht nicht zuletzt einer antisemitischen Kampagne
       verdankt, als Freund Israels deklarieren kann.
       
       [3][Orbán verbindet Rassismus gegen muslimische Migranten (von denen es in
       Ungarn keine gibt) mit antisemitischen Verschwörungstheorien] über die
       angebliche Macht eines „jüdischen Kapitalisten“, der Europa durch die
       Überschwemmung mit „orientalischen“ Einwanderern seine christliche
       Identität rauben will.
       
       In diesem Sinne hat auch „König Bibis“ Thronfolger Jair Netanjahu letztes
       Jahr gemeinsam mit der AfD das Ende der „globalistischen EU“ und ein
       „christliches Europa“ gefordert. Die Welt, in der wir heute gegen
       Antisemitismus kämpfen, ist komplizierter geworden.
       
       ## Die Verengung auf BDS
       
       Doch wenn deutsche Politiker heute von Antisemitismus reden, dann gibt es
       fast nur ein Thema: BDS, die palästinensische Boykottbewegung. Der Streit
       darüber hat verschiedene Dimensionen. Es geht darum, ob wir Europa, ob wir
       Deutschland als offene Gesellschaften begreifen, in denen wir ethnisch,
       kulturell und religiös verschieden sein mögen, aber unter Einhaltung
       gemeinsamer Regeln zusammenleben, oder ob wir Identitäten und Territorien
       homogen definieren und damit die Katstrophe des Nationalismus
       fortschreiben. Dazu gehört dann eben auch: die Juden auf „ihr“ Territorium
       zu verweisen.
       
       Zugleich geht es um einen schmerzlichen innerjüdischen Streit: Können wir
       nach Auschwitz in der Diaspora noch – oder endlich – selbstbewusst und
       selbstbestimmt leben? Oder müssen wir nach dem nationalen Wahn des 20.
       Jahrhundert uns alle in einem „sicheren Hafen“ verschanzen, der sich
       womöglich in ein selbstgewähltes Ghetto verwandelt, nur diesmal hinter
       selbstgebauten Mauern?
       
       Und schließlich tritt immer deutlicher ein innerisraelischer Streit vor
       Augen, der darüber geführt wird, ob dieses Land eine ethnisch-religiös
       exklusive Burg sein soll, auf die sich Juden zurückziehen können, oder ob
       das Land von „fremder Besatzung befreit“ werden soll, wie es BDS fordert.
       Oder ob daraus ein gemeinsamer Staat seiner jüdischen und nichtjüdischen
       Bürgerinnen und Bürger werden kann, der zu dem finden muss, was diese
       Menschen miteinander teilen können, aber nicht auf dem basieren kann, was
       sie voneinander trennt.
       
       ## „Wer Antisemit ist, bestimme ich“
       
       Wie sich wer und warum in diesen Konflikten positioniert, das entscheidet
       auch darüber, welcher Definition von Antisemitismus man zuneigt. Und was
       und wen man unter diesem Zeichen bekämpft. [4][Deutschlands
       „Antisemitismusbeauftragter“ Klein hat kürzlich geäußert], es gäbe keinen
       falschen und richtigen Antisemitismusbegriff. Konnte er damit etwas anderes
       meinen als: es braucht keinen Begriff davon, was wir unter Antisemitismus
       verstehen, weil er das ohnehin allein entscheidet? „Wer Antisemit ist,
       bestimme ich.“
       
       [5][Die „Arbeitsdefinition“ der International Holocaust Remembrance
       Alliance] ist mit hehren Motiven auf den Weg gebracht worden – und erweist
       sich als Bumerang. Sie schwankt zwischen nichtssagender Allgemeinheit:
       „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die
       sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann“, und einer zu
       politischem Missbrauch einladenden Konzentration auf das Thema Israel, ein
       Missbrauch, den auch einer der ersten Autoren der Definition, Kenneth
       Stern, mittlerweile nachdrücklich beklagt.
       
       Vor allem aber produziert die IHRA-Definition ein Missverständnis.
       „Erscheinungsformen von Antisemitismus“, so heißt es, „können sich auch
       gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird,
       richten.“
       
       ## Doppelte Mäßstäbe, Sturm der Entrüstung
       
       Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Es sind nicht in erster Linie Antisemiten,
       sondern die selbsternannten „Verteidiger“ Israels, die diesen Staat als
       „jüdischen Staat“ und damit als Kern des „jüdischen Kollektivs“ definieren
       wollen. Und die damit jede Kritik an diesem Staat, seiner Politik und
       seiner exklusiven Definition „als jüdischer Staat“ zu einem Fall von
       „Antisemitismus“ erklären können. Nein, es geht beim Streit um BDS in
       Wirklichkeit überhaupt nicht um BDS, es geht darum, ob man eine andere
       Verfasstheit Israels fordern darf und ob Juden über ihr Leben in der
       Diaspora selbstbestimmt entscheiden dürfen oder nicht.
       
       Dass die Auseinandersetzung um Israel und Palästina zu allerlei
       Ungerechtigkeit, zu doppelten Maßstäben und zu einer kaum noch
       überbietbaren Giftigkeit in den Debatten sorgt, hat freilich nicht in
       erster Linie mit Antisemitismus zu tun. Sondern damit, dass die Anhänger
       der beiden größten Weltreligionen nun einmal davon ausgehen, dass sich in
       Jerusalem das Schicksal der Welt entscheidet. Eine oft gar nicht bewusste
       Haltung, die wenig zur Konfliktlösung beiträgt.
       
       Den jeweiligen Gegner zum Antisemiten oder zum Rassisten zu erklären führt
       nur weiter in einer ausweglosen Spirale der Gewalt und der Nichtanerkennung
       des Anderen. Die Jerusalemer Erklärung könnte dazu beitragen, die
       Diskussion um Israel und die Diskussion über Antisemitismus endlich wieder
       in rationaleres Fahrwasser zu führen, und das heißt vor allem, sie wieder
       ein Stück voneinander zu trennen. Auch wenn der Sturm der Entrüstung oder
       ihr Sekundant, die Häme, [6][wie sie in der FAZ schon ausgegossen wurde],
       nicht auf sich warten lässt.
       
       29 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://diak.org/2021/03/25/the-jerusalem-declaration-on-antisemitism/
   DIR [2] https://www.tachles.ch/artikel/international/antisemitismus-neu-und-klar-definiert
   DIR [3] /Netanjahus-Besuch-in-Ungarn/!5427086
   DIR [4] https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/es-gibt-keinen-harmlosen-antisemitismus-li.146183?pid=true
   DIR [5] https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/working-definitions-charters/arbeitsdefinition-von-antisemitismus
   DIR [6] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/jerusalemer-erklaerung-formuliert-neue-definition-von-antisemitismus-17265518.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hanno Loewy
       
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