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       # taz.de -- Jüdinnen und Juden in den USA: Die zerrissene Diaspora
       
       > Immer mehr junge Menschen solidarisieren sich mit den Palästinensern. Die
       > einen lehnen den Staat Israel ab, andere haben weniger radikale
       > Ansichten.
       
   IMG Bild: Eine junge Studentin steht eingewickelt in eine Israelflagge vor palästinensischen Demonstrierenden in New York am 7. Oktober
       
       New York taz | Um den Union Square in New York City ist es an diesem
       Spätnachmittag [1][des 7. Oktober] geschäftig wie immer. New Yorker auf dem
       Weg in den Feierabend, fotoschießende Touristen, hupende Autos. Doch am
       südlichen Ende des Platzes herrscht andächtige Stille, obwohl sich eine
       große Gruppe Menschen hier versammelt hat. Einige der Anwesenden tragen
       Kippas, andere Kufiyas, manche auch beides in Kombination. Ein Frau hat
       sich einen Pin in Form einer gelben Schleife an die Jacke gesteckt, er soll
       an die von der Hamas entführten Geiseln in Gaza erinnern.
       
       Seit dem Überfall der Hamas auf Israel ist ein Jahr vergangen. Die
       [2][jüdisch-progressive Organisation IfNotNow] hat deshalb zu
       Gedenkveranstaltungen geladen, in New York und parallel in fünf anderen
       amerikanischen Städten. Gemeinsam mit anderen linken jüdischen Gruppen
       wollen die Aktivisten der getöteten Zivilisten in Israel und den nach Gaza
       entführten Geiseln gedenken, aber auch jener Menschen, die in dem dann
       folgenden Krieg bei israelischen Angriffen in Gaza, im Westjordanland oder
       im Libanon ums Leben kamen. Eine Sprecherin verliest die Forderungen von
       IfNotNow: ein Stopp der US-Waffenlieferungen an Israel und ein Deal, der
       die Waffen zum Schweigen und die verbliebenen Geiseln nach Hause bringen
       soll. Die Lösung: „Free them all“.
       
       Die jüdische Gemeinschaft in New York ist überdurchschnittlich progressiv
       und links geprägt. Doch hier verdichtet sich dieser Tage, was sich auch in
       anderen Landesteilen beobachten lässt: Besonders jüngere Jüdinnen und Juden
       – wie jene, die sich bei IfNotNow engagieren – fordern das
       liberal-konservative Establishment ihrer Elterngeneration heraus und dessen
       traditionelle Unterstützung für den Staat Israel. Während sich die Älteren
       noch an das hart umkämpfte Israel erinnern, das sich als Heimstätte
       verfolgter Juden gegen seine arabischen Nachbarstaaten behaupten musste,
       hat die jüngere Generation ein anderes Bild: das eines hochentwickelten
       Israels, in dem die extreme Rechte Auftrieb hat und das seine Grenzen auf
       Kosten der Palästinenser ausdehnt.
       
       Eine Umfrage unter amerikanischen Jüdinnen und Juden ergab 2021, dass fast
       40 Prozent der Befragten unter 40 Jahren der Aussage zustimmen, Israel sei
       ein Apartheid-Staat. 30 Prozent der jüngeren Befragten sagten schon damals,
       Israel begehe einen Völkermord an den Palästinensern. Auch ändert sich die
       Meinung zu Israel je nach Parteizugehörigkeit. Im März vergangenen Jahres
       ergab eine [3][Umfrage des Gallup-Instituts] erstmals, dass Demokraten eher
       mit den Palästinensern als mit den Israelis sympathisieren (49 zu 38
       Prozent).
       
       Das Motto der Gedenkveranstaltung „Jedes Leben, ein Universum“ ist
       angelehnt an eine Stelle in der Mischna, einer Sammlung jüdischer Gesetze.
       Dort heißt es: „Wer auch nur ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.“
       Diesen Gedanken greift ein anderer Redner auf dem Union Square auf: „Unsere
       Tränen sind reichlich und unsere Herzen weit genug, um jedes erloschene
       Leben zu betrauern, um jedes zerstörte Universum.“
       
       Nach einem gemeinsam gesungenen Lied beginnt eine Reihe von Redner:innen
       die Namen der Getöteten vorzulesen. Ein paar hundert Anwesende hören die
       Namen von Palästinesern, Israelis, Libanesen, abwechselnd, nicht als ewige
       Feinde, sondern als Opfer, die alle im gleichen tödlichen Mahlstrom des
       Kriegs gefangen sind. Mehr als 1.200 Menschen starben in Israel, in Gaza
       sind es über 40.000 Tote. Während der Lesung treten einige der Anwesenden
       vor und legen im Gedenken an die Toten eine Kerze oder – nach der jüdischen
       Tradition – einen Stein nieder.
       
       Aus dem Lautsprecher ertönen die Worte eines Schriftstellers aus Gaza: „Ich
       bin keine Nummer und ich akzeptiere nicht, dass mein Tod eine kurzweilige
       Meldung sein soll. Sagt es auch weiter, dass ich das Leben liebe, Glück,
       Freiheit, Kinderlachen, das Meer, Kaffee, das Schreiben, Fairouz und alles,
       was Freude bringt – obwohl all diese Dinge von einem Moment auf den anderen
       verschwinden.“ Noor Aldeen Hajjaj schrieb diese Worte Anfang November. Doch
       nicht er selbst verliest sie, sondern eine Aktivistin. Einen Monat später
       starb Hajjaj bei einem israelischen Angriff auf Schujaiya in Gaza, im Alter
       von 27 Jahren.
       
       Einer der Organisatoren der Kundgebung ist Jesse Myerson. Der 38-jährige
       sitzt nach der Veranstaltung auf den Treppenstufen am Union Square und
       spricht über das Selbstverständnis von IfNotNow. Die jüdische Gruppe will
       für das Wohlergehen von Palästinensern und Israelis gleichermaßen
       eintreten. Dabei beziehe IfNotNow keine Position zum Zionismus – ein
       Begriff, der vieles bedeuten kann, hier aber wohl schlicht den Staat Israel
       meint. „Wir wollen, dass sich Leute mit dem [4][Zionismus]
       auseinandersetzen“, sagt Myerson. So sei IfNotNow zugänglicher für Leute,
       „die sich im jüdischen Mainstream befinden, die Netanjahu vielleicht
       verachten, die hassen, was in Gaza passiert, aber nicht darauf vertrauen,
       dass die US-Linke sich um jüdisches Leben sorgt.“
       
       Myerson trägt einen schwarzen Hoodie, lila-weiße Kippa und dichten
       Vollbart. Er drückt sich gewählt aus, bringt die Dinge schnell auf den
       Punkt. Seit einigen Monaten arbeitet er als Kommunikationsdirektor bei
       IfNotNow. Im Gegensatz zu vielen seiner Mitstreiter:innen kommt er aus
       einer marxistisch-atheistischen Familie, auch seine Eltern waren lange Teil
       der Bewegung für Palästina. Er selbst habe sich erst im letzten Jahrzehnt
       vermehrt mit dem Judentum befasst und darüber auch zur Religion gefunden.
       „Ich ging monatelang freitagabends in die Synagoge, bevor ich meinen Eltern
       eine E-Mail schrieb, in der ich ihnen davon berichtete. Ich habe mich
       meinen jüdischen Eltern gegenüber quasi als Jude geoutet.“
       
       Wie war das, als er vor einem Jahr zum ersten Mal von dem Hamas-Angriff in
       Israel hörte? „Die ersten Bilder, die ich sah, waren von Palästinensern,
       die jene Zäune einrissen, die sie in ein Freiluftgefängnis gesperrt hatten.
       Ich lächelte sofort, weil ich die Palästinenser in Gaza und unterdrückte
       Menschen in Gettos überall als Juden sehe.“ Doch dieses Lächeln sei bald
       „vergiftet“ worden, als er herausfand, dass die Hamas in Israel Zivilisten
       abschlachtete, etwa die Besucher:innen des Nova-Festivals. „Unter
       diesen Leuten auf dem Festival hätte ich sein können. Ich war auch schon
       mit Freunden auf Festivals auf gestohlenem Land“, sagt Myerson und meint
       damit das Land der Vereinigten Staaten.
       
       Auf der Veranstaltung wird zwischen den Namen der Getöteten ein weiterer
       Text verlesen, verfasst von dem Aktivisten Erez Bleicher und der
       Journalistin Maya Rosen. Darin gedenken sie ihres Freundes, Khalil Abu
       Yahiya, der an der mittlerweile zerstörten Islamischen Universität in Gaza
       forschte und lehrte und im Oktober bei einem israelischen Luftangriff ums
       Leben kam.
       
       Erschienen ist der Text Anfang November in Jewish Currents. Die linke
       Zeitschrift hat sich in den vergangenen Jahren einen besonderen Platz in
       der jüdischen Medienlandschaft der USA geschaffen, sie legt sich ähnlich
       wie IfNotNow mit dem jüdisch-amerikanischen Establishment an und streitet
       vehement für die Gleichberechtigung der Palästinenser. Das Magazin gibt es
       seit den 1950er Jahren, anfangs war es mit der Kommunistischen Partei der
       USA verbunden. 1956 löste es sich von der Partei und dümpelte danach vor
       sich hin. Bis der ehemalige Herausgeber 2018 die komplette Redaktion
       austauschte und anstelle der in die Jahre gekommenen Redakteure ein Team
       von Millennials anstellte.
       
       Chefredakteurin wurde die heute 39-jährige Arielle Angel. Zum Treffen mit
       der taz ein paar Tage vor der Gedenkveranstaltung schlägt Angel ein Café im
       südlichen Stadtteil Brooklyn vor, sie lebt hier in der Nähe mit ihrem Mann.
       Sie arbeite heute nicht, sagt sie, denn es ist Rosch Haschanah, die
       Feiertage, die nach dem jüdischen Kalender das neue Jahr 5785 einläuten.
       Nach einer anderen Zeitrechnung ist heute Tag 363 nach dem 7. Oktober. Und
       die Wut über den Krieg und die Zerstörung in Gaza sind Angel anzumerken.
       Während sie spricht, spielt sie an ihrer Kette herum, wippt nervös mit den
       Beinen. „Mir geht es nicht gut“, sagt sie.
       
       Die 39-jährige ist zierlich, ihre Haare sind braun gelockt.
       Väterlicherseits stammt sie von sephardischen Juden aus Griechenland ab,
       fast die ganze Familie der Großeltern wurde von den Nazis in Auschwitz
       ermordet. Sie selbst ist in Miami in einem konservativen Umfeld
       aufgewachsen, sagt Angel, in Florida lebe die mitunter konservativste
       jüdische Community in den USA. „Meine Mutter war eine ziemlich überzeugte
       Zionistin“.
       
       Angel ist eine konfrontative Gesprächspartnerin, antwortet schnell und
       bestimmt. Das Separée vor dem Café, in dem sie in ihrer bunten
       Batik-Sportjacke sitzt, umschließt eine Plastikplane. Darin hängt ein
       leichter Verwesungsgeruch – vielleicht ist in dem Hohlraum unter dem
       Holzboden eine der vielen New Yorker Ratten verendet. Auf eine makabre Art
       passt die Geruchskulisse zu den Gesprächsthemen: Krieg, Gewalt und Tod.
       
       Während sie lange ein gutes Bild von Israel gehabt habe, sei diese Welt
       2014 mit den israelischen Angriffen auf Gaza zusammengefallen, erzählt
       Angel. Sie sah Bilder von Israelis, die auf einem Hügel auf einer Couch
       saßen und zusahen, wie die Bomben auf Gaza fielen; sie sah Bilder von
       getöteten Kindern am Strand. Doch die alten Überzeugungen aufzugeben sei
       ihr schwer gefallen, erzählt sie.
       
       Einmal sei sie zu einem Protest für Gaza gegangen, was sich „wie ein Verrat
       anfühlte an allem, was ich je gekannt oder geliebt hatte“, hat sie in einem
       Essay geschrieben. „Ich blieb noch 30 Minuten, huschte in den Central Park,
       wo ich schluchzend auf einer Bank zusammenbrach. Ich hatte mich nie so
       allein gefühlt.“
       
       Angel hat in New York Kunstgeschichte studiert, arbeitete sieben Jahre an
       einem unveröffentlichten Roman über einen jugendlichen Drogendealer, der
       sich der [5][orthodoxen Chabad-Bewegung] anschließt. Und sie begann, sich
       in der Frühphase bei IfNotNow zu engagieren, die Gruppe wurde 2014 in
       Reaktion auf den Gaza-Krieg gegründet. Als sie Chefredakteurin von
       [6][Jewish Currents] wurde, verabschiedete sie sich vom Aktivismus. „Das
       war kurz nach den Neonazi-Kundgebungen in Charlottesville“, erinnert sie
       sich in dem Brooklyner Café. 2017 waren in der Stadt in Virginia weiße
       Nationalisten mit Hakenkreuzflaggen aufmarschiert und hatten gerufen:
       „Juden werden uns nicht ersetzen.“ Gleichzeitig hatte die rechte Bewegung
       in Israel Auftrieb. „Es gab viele Leute, die sich zum ersten Mal politisch
       jüdisch fühlten und die sich einem jüdischen Projekt anschließen wollten.
       Es gab also einen Bedarf an anderen jüdischen Stimmen.“
       
       ## „Not in our name“
       
       Auf seiner Webseite veröffentlicht Jewish Currents Recherchen zur
       israelischen Rechten, etwa zu der Bewegung, die den Libanon besiedeln will,
       oder zu ihren amerikanischen Unterstützern. Es sind oft hintergründige
       Essays und Reportagen, mal nachdenklich, mal wütend. In der Vergangenheit
       habe es auch mehr Raum für Rezensionen zu jüdischer Kultur und Kunst
       gegeben, sagt Angel, das Magazin wollte die Identität in der Diaspora
       stärken, überlegen, was Jüdischsein in den USA heute bedeutet. Doch seit
       der „lawinenartigen Katastrophe“ des 7. Oktober richtet Jewish Currents
       seinen Blick vor allem auf den Nahen Osten.
       
       Angel sagt, sie identifiziere sich mittlerweile als Antizionistin, obwohl
       sie dafür lange gebraucht habe. „Ich glaube, was mich wirklich dazu bewogen
       hat, war die Einsicht, dass selbst wenn es zwei Staaten Seite an Seite
       geben würde, Israel ein Staat wäre, der auf Vorherrschaft gegründet wäre“,
       sagt sie in einem Podcast von Jewish Currents. Angel will keine Staatsidee
       unterstützten, die auf der demografischen Mehrheit einer Volksgruppe
       gründet. Nun ist Israel damit unter den Nationalstaaten keine Ausnahme,
       sondern eher die Regel. Doch was viele linke Jüdinnen und Juden in ihrer
       Opposition antreibt, ist die Vorstellung, dass Israel als selbsterklärter
       „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ auch in ihrem Namen handelt. Sie haben
       sich deshalb im letzten Jahr den Schlachtruf „Not in our name“ („Nicht in
       unserem Namen“) zu eigen gemacht.
       
       Dass sich von den rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden in den USA hier
       in New York so viele Linke sammeln, hat Tradition. Im späten 19. und frühen
       20. Jahrhundert wurde die Stadt zur wichtigen Anlaufstelle für Juden aus
       Osteuropa, die vor der antisemitischen Politik und den Pogromen im
       Zarenreich flohen. Viele sprachen Jiddisch und waren arm, brachten die
       Ideen des Sozialismus aus Europa mit oder entdeckten diese in der neuen
       Heimat. Während einige jiddische Sozialisten auch für die Errichtung einer
       jüdischen Heimstätte in Palästina eintraten, sahen sich viele als
       Universalisten, die ihre Befreiung nicht durch eine Nationalstaatsbewegung,
       sondern durch die Befreiung der Arbeiterklasse erreichen wollten. Bis heute
       pflegen viele Juden in den USA eine selbstbewusste Diasporaidentität.
       
       Am 7. Oktober vergangenen Jahres war Angel im nördlichen Teil New Yorks,
       dem upstate. Sie feierte dort eine Hochzeit mit einer Gruppe von Aktivisten
       der linken Organisation Jewish Voice for Peace. Als sie morgens aufwachte,
       habe sie „tausend Nachrichten“ gehabt, ihr Handy habe durchgehend vibriert.
       „Wir machten den Fernseher in unserem AirBnB an. Ich war hysterisch. Mein
       erster Gedanke war, das gibt einen Genozid“, sagt Angel mit Blick auf den
       antizipierten israelischen Gegenschlag in Gaza – eine Befürchtung, die sich
       in ihren Augen auch bewahrheitet hat. „Ich war entsetzt über die
       Gräueltaten, die passiert waren. Aber ich muss zugeben, dass ich in dem
       Moment weiter in die Zukunft gedachte habe“, erinnert sie sich.
       
       Der letzte Gazakrieg vor dem jetzigen war im Jahr 2021. Damals wurde Jewish
       Currents mit Vorwürfen konfrontiert, sich in seiner Berichterstattung nicht
       genug um das Leben israelischer Zivilist:innen zu sorgen. Angel
       antwortete darauf mit einem persönlichen Essay. Erst nach dem
       Waffenstillstand habe sie gemerkt, dass sie während all der Überstunden
       auch ihre persönlichen Kontakte nach Israel vernachlässigt hatte. „Ich
       hatte mich nicht darum gekümmert, wie meine Großtante und mein Großonkel,
       die Mitte 90 und nicht mehr sehr beweglich waren, es mitten in der Nacht in
       den Luftschutzkeller schafften. Auch hatte ich nicht einmal eine SMS an
       meine Cousins, meine Freunde und sogar meine Genossen innerhalb der Grünen
       Linie geschickt“, welche die international anerkannten Grenzen Israels
       markiert. „Die fehlende Sorge um Israelis im öffentlichen Auftritt von
       Jewish Currents spiegelte sich auch in meinem Privatleben.“
       
       Nach dem 7. Oktober war das anders, sagt Angel. Als etwa der Iran Israel
       vor ein paar Wochen mit Raketen beschoss, habe sie sich natürlich nach dem
       Wohlbefinden ihrer Freunde und Verwandten erkundigt. Dann kommt sie auf den
       Iron Dome zu sprechen, das Raketenabwehrsystem, das Israel vor
       Raketenangriffen wie diesem schützt. „Auf einer Ebene bin ich froh, dass es
       das gibt. Ich will nicht, dass meine Familie und meine Freunde sterben“,
       sagt Angel. „Auf einer anderen Ebene aber gibt es keine Kosten, wenn Israel
       derart eskaliert. Im Libanon etwa sind in den ersten fünf Tagen tausend
       Menschen gestorben.“ Weil Israel militärisch überlegen und gut geschützt
       ist, gebe es keine Notwendigkeit für eine politische Lösung.
       
       Angel berichtet von Gesprächen mit Bekannten und Familienmitgliedern in
       Israel, die gebildete liberale Menschen seien, aber „keinen verdammten
       Schimmer haben, was einen Kilometer entfernt von ihnen passiert“, in den
       palästinensischen Gebieten. In ihrer Stimme liegt Empörung, gar Verachtung.
       Vielleicht reagiert Angel gerade so heftig, weil es im weiteren Sinne ein
       Familienzwist ist, weil sie es persönlich nimmt. „Wenn man Leute dazu
       bekommen will zu sehen, was Israel in Wirklichkeit ist und tut, das ist so
       eng verbunden mit Fragen von Identität und Sicherheit. Es ist
       existenziell“, sagt sie.
       
       Auch im liberalen Spektrum jüdisch-amerikanischer Organisationen gibt es
       solche, die sich für die Rechte der Palästinenser aussprechen, sich im
       Gegensatz zu IfNotNow oder zur Redaktion von Jewish Currents aber als
       dezidiert proisraelisch beschreiben. Eine dieser Organisationen ist
       [7][JStreet], die in Washington DC sitzt. Jennifer Abrahamson arbeitet dort
       als Vize-Kommunikationsdirektorin. Sie verweist im Telefongespräch mit der
       taz auf die Reflexionen von Mitgliedern und Partnern, die die Organisation
       zum Jahrestag des 7. Oktober veröffentlicht hat. Viele von ihnen erinnern
       ebenfalls an den Schmerz von Israelis und Palästinensern. JStreet setzt
       sich für ein Ende des Krieges und einen Geiseldeal ein, fordert aber nicht
       explizit ein Ende der US-Waffenlieferungen an Israel.
       
       „Wir wollen weiterhin mit Israelis zusammenarbeiten, die sich für Frieden
       einsetzen“, sagt Abrahamson, etwa mit Familien der Geiseln, die sich gegen
       den Krieg aussprechen. „Wir müssen unterscheiden zwischen den Menschen in
       Israel und der Regierung von Benjamin Netanjahu.“ Hier liegt wohl ein
       Hauptunterschied in der Frage, wie man den israelischen Staat und die
       Gesellschaft bewertet. JStreet klammert sich nach wie vor an die
       progressiven Kräfte, obwohl diese immer weniger werden und das Land weit
       nach rechts rückt. Das Bild, das Angel dagegen von Israel malt, ist Schwarz
       auf schwarzem Grund.
       
       Auf dem Union Square ist es mittlerweile dunkel geworden, Jesse Myerson von
       IfNotNow spaziert über den Platz. Er will zumindest auf die jüdischen
       Institutionen in den USA zugehen. Er würde gerne mit den Menschen in
       Synagogen, Gemeinschaftszentren oder Sommercamps ins Gespräch zu kommen,
       weil er glaubt, dass viele jüdische Amerikaner:innen die Werte von
       IfNotNow teilen. „Ich würde gerne zuhören und mich mit Ihnen über unsere
       Grundwerte austauschen, um Menschen zu ermutigen, sich für die
       Menschenrechte der Palästinenser einzusetzen.“
       
       Die Gedenkveranstaltung endet mit einer Rabbinerin, die das jüdische
       Trauergebet vorspricht, das Kaddisch. Davor liest eine Rednerin noch ein
       Gedicht vor. Verfasst hat es der israelische Dichter Amiram Cooper, der aus
       seinem Kibbuz Nir Oz von der Hamas entführt wurde und im Alter von 84
       Jahren in Gaza starb. Die zweite Strophe seines Gedichts „Liebeslied“
       scheint passend für die Stimmung seit dem 7. Oktober: „Wo ist das Lied, das
       Liebeslied, versteckt im Herbstgrau. Warum verblasst das Grün der Zweige,
       die ihre Blätter abwerfen. Durch die windigen Straßen, wo die Bäume sich
       beugen. Es geht in Trauer, und wartet, dass der Frühling blüht.“
       
       15 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /7-Oktober--ein-Jahr-danach/!6034819
   DIR [2] https://www.ifnotnowmovement.org/
   DIR [3] https://news.gallup.com/poll/472070/democrats-sympathies-middle-east-shift-palestinians.aspx
   DIR [4] https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-junge-politik-lexikon/321486/zionismus/
   DIR [5] https://de.wikipedia.org/wiki/Chabad
   DIR [6] https://jewishcurrents.org/
   DIR [7] https://jstreet.org/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Leon Holly
       
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