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       # taz.de -- Juristin über Flüchtlinge in der Ägäis: „Viele dürften auf das Festland“
       
       > NGO-Gründerin Catharina Ziebritzki erklärt die Asylverfahren nach dem
       > EU-Türkei-Deal – und warum viele Flüchtlinge eigentlich weiterreisen
       > dürften.
       
   IMG Bild: Auf vielen griechischen Inseln regt sich Protest – wie hier auf Samos
       
       taz: Frau Ziebritzki, Kanzlerin Merkel forderte kürzlich bei einem Besuch
       in Griechenland eine bessere Umsetzung des EU-Flüchtlingspakts mit der
       Türkei. Zeigt der Deal von 2016 Wirkung? 
       
       Catharina Ziebritzki: Er zeigt vor allem insofern Wirkung, als die Zahl der
       aus der Türkei ankommenden Asylsuchenden stark reduziert wurde. Im Jahr
       2015 kamen über 800.000 Flüchtlinge aus der Türkei über die Ägäis nach
       Griechenland. 2017 und 2018 waren es nur noch jeweils rund 30.000.
       
       Liegt der Rückgang der Ankunftszahlen nur an dem Deal mit der Türkei oder
       auch an der Schließung der Balkan-Route? 
       
       Natürlich ist die irreguläre Weiterreise über Griechenland und den Balkan
       nach Österreich, Deutschland und Skandinavien praktisch inzwischen viel
       schwieriger als 2015. Der wirklich massive Rückgang der Ankunftszahlen
       begann aber kurz nachdem die EU-Türkei-Absprache im März 2016 in Kraft
       trat. Das war kein Zufall. Seitdem kontrollieren die türkische und
       griechische Küstenwache sowie Frontex viel konsequenter.
       
       Die Absprache mit der Türkei sah auch vor, dass alle Flüchtlinge, die nach
       dem 20. März 2016 auf den griechischen Inseln ankommen, in die Türkei
       zurückgeschickt werden. Was wurde daraus? 
       
       Betrachtet man die Rückführungszahlen, spielt dieser Teil der Absprache
       bisher keine große Rolle. Seit März 2016 wurden erst rund 2.000 Personen in
       die Türkei abgeschoben – obwohl die EU-Flüchtlingslager auf Rückkehr
       ausgerichtet wurden.
       
       Ist es überhaupt rechtmäßig, Flüchtlinge einfach in die Türkei
       zurückzuschicken? 
       
       Voraussetzung wäre nach griechischem und EU-Recht, vereinfacht gesagt, dass
       die Türkei für die betreffende Person ein „sicherer Drittstaat“ ist. Dann
       wären Asylanträge unzulässig und Asylsuchende könnten in die Türkei
       abgeschoben werden. Ich halte das aber für zweifelhaft. Weder die
       rechtliche Lage noch die tatsächliche Situation in der Türkei genügen den
       Voraussetzungen eines „sicheren Drittstaats“.
       
       Und wie beurteilen die griechischen Asylbehörden und Gerichte die Lage in
       der Türkei? 
       
       Sie haben lange Zeit abgelehnt, die Türkei als sicheren Drittstaat
       einzustufen. Allerdings hat der griechische Staatsrat, das höchste
       Verwaltungsgericht, im September 2017 in zwei Einzelfällen anders
       entschieden. Trotzdem muss von den Behörden weiterhin jeder Fall geprüft
       werden.
       
       Dauern deshalb die Verfahren auf den griechischen Inseln so lange? 
       
       Teilweise ja. Das Hauptproblem ist aber ein anderes. Tausende sind auf den
       Inseln, obwohl für sie das spezielle, auf Rückführung ausgerichtete,
       Asylverfahren nach der EU-Türkei-Absprache gar nicht gilt und sie
       eigentlich auf das griechische Festland weiterreisen dürften.
       
       Um welche Gruppen geht es dabei? 
       
       Das sind zum einen Personen, die Anspruch auf Familienzusammenführung
       haben, weil schon Familienangehörige in EU-Staaten leben. Vor allem aber
       geht es um sogenannte vulnerable Asylsuchende. Das sind zum Beispiel
       Schwangere, unbegleitete Minderjährige, schwer kranke oder schwer
       traumatisierte Personen. Die Flüchtlinge auf den Inseln kommen überwiegend
       aus Syrien, Irak und Afghanistan. Viele von ihnen sind schwer
       traumatisiert. Psychische und andere Krankheiten sind sehr häufig.
       
       Und warum dürfen sie nicht auf das griechische Festland weiterreisen? 
       
       Die griechischen Behörden verlangen zum Nachweis der Vulnerabilität
       Gutachten. Und die griechische Behörde, die solche Gutachten erstellt, hat
       viel zu wenig Personal. Auf der Insel Chios gibt es beispielsweise nur eine
       Stelle und die ist seit Monaten unbesetzt, weil niemand dort arbeiten will.
       Gutachten von NGOs werden in aller Regel nicht anerkannt.
       
       Viele Flüchtlinge auf den Inseln warten also nur auf die Feststellung, dass
       sie nicht auf den Inseln sein müssten? 
       
       Ja, es ist absurd. Und das betrifft wohl mehr als die Hälfte der rund
       20.000 Flüchtlinge auf den fünf Inseln, auf denen das Verfahren zur
       Umsetzung der Rückführungspolitik Anwendung findet.
       
       Ist die Situation auf den griechischen Inseln nur ein Detailproblem der
       europäischen Asylpolitik? 
       
       Das sehe ich nicht so. Solche „Hotspots“ soll es künftig vielleicht überall
       an den EU-Außengrenzen oder sogar in Drittstaaten etwa in Nordafrika geben.
       Was aber in Griechenland nicht klappt, wird außerhalb der EU erst recht
       nicht funktionieren.
       
       20 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Rath
       
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