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       # taz.de -- Juso-Chefin zur deutschen Außenpolitik: „Führungsmacht? Nicht mit mir“
       
       > Vor dem Juso-Bundeskongress stellt sich die Vorsitzende Rosenthal hinter
       > Kanzler Scholz. Eine militärische Vorreiterrolle Deutschlands lehnt sie
       > ab.
       
   IMG Bild: Im Spagat zwischen linken Juso-Forderungen und der SPD-Fraktionsdisziplin: Jessica Rosenthal
       
       taz: Frau Rosenthal, wie fühlt es sich nach einem Dreivierteljahr an,
       auf zwei Stühlen zu sitzen? 
       
       Jessica Rosenthal: Gut. Ich habe bei den Jusos als Vorsitzende einen
       starken Verband an meiner Seite. Und in der SPD-Fraktion im Bundestag viele
       junge engagierte Kolleg*innen.
       
       Aber als Juso-Chefin müssen sie [1][die Regierungspolitik kritisch
       hinterfragen]. Als Abgeordnete sind sie in die Disziplin der
       Regierungsfraktion eingebunden… 
       
       Das widerspricht sich nicht, im Gegenteil, es ergänzt sich. Als Jusos geht
       es uns darum, die Welt der Freien und Gleichen zu schaffen. Am
       Spielfeldrand zu kommentieren, was andere für uns entscheiden, ist deshalb
       nicht unser Ding. Daher geht es natürlich darum, mutig und deutlich zu
       formulieren, wo uns Antworten der Regierung nicht weit genug oder in die
       falsche Richtung gehen. Aber es geht auch darum, unsere Ideen umzusetzen.
       
       Als Sie [2][gegen das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr
       stimmten], bekamen Sie einen Rüffel vom Fraktionsvorsitzenden. Haben Sie da
       Druck bekommen? 
       
       Ich höre von der Spitze der Fraktion und vielen Kolleginnen und Kollegen
       generell immer wieder, dass sie großes Verständnis für meine Positionen
       haben. Aber wir sind die Regierungsfraktion. Da gibt es die Notwendigkeit,
       dass die Fraktion zusammenhält und Positionen gemeinsam vertritt. Da
       entsteht auch ein gewisser Druck, aber den halte ich aus. Genau das ist
       auch unser Kurs als Jusos. Wir halten lieber den Druck drinnen aus als nur
       von außen zu kommentieren. Das ist eine produktive Position, und nichts,
       worüber man klagen sollte. Klar kritisieren wir auch weiter Dinge.
       
       Dann Feuer frei. Sind die Entlastungspakete der Ampel sozial gerecht? 
       
       Da geht mehr.
       
       Was fehlt? 
       
       Wir brauchen für alle, die in Deutschland weniger als Summe X verdienen,
       300 Euro steuerfrei auf das Konto. Weitere Direktzahlungen sind eine
       sinnvolle Maßnahme, um Menschen zu entlasten. Leider haben wir diese
       Möglichkeit noch nicht. Der Staat muss endlich die Möglichkeit bekommen,
       Menschen direkt Geld zu überweisen.
       
       Ist Umverteilung für die Jusos noch ein Thema? Oder spielt das keine Rolle
       mehr – weil mit der FDP in der Ampel sowieso nichts geht? 
       
       Wir ordnen uns der FDP doch nicht unter. Wir reden ja seit Monaten über die
       Finanzierung weiterer Ausgaben, die Schuldenbremse und die Besteuerung
       höherer Vermögen. Deshalb wollen wir die Vermögensabgabe. Da blockiert die
       FDP komplett, was schwer zu verstehen ist.
       
       Vor der Fraktionsklausur in Dresden vor zwei Monaten forderte die SPD-Linke
       die Vermögensabgabe. Aber im Positionspapier, mit dem die Fraktion in die
       Entlastungsverhandlungen ging, fehlte die Forderung. Versteckt sich die SPD
       hinter der FDP? 
       
       Nein, die parlamentarische Linke, relevante Teile der Fraktion und wir
       Jusos wollen die Vermögensabgabe. Bei dem Positionspapier haben wir uns
       damals aber auf das Wesentliche konzentriert. Das war die Gaspreisbremse.
       Anfang September haben viele die noch für absurd gehalten. Die SPD-Fraktion
       hat sich da eigenständig und weitsichtig positioniert. Ich habe die
       Gasumlage von Anfang an für einen Fehler gehalten, weil es falsch ist, die
       Kosten einfach auf Verbraucher*innen umzulegen. Wir können doch nicht
       denjenigen, die vom Wirtschaftswachstum in den letzten Jahren wenig hatten,
       jetzt schon wieder erzählen: „Schnallt den Gürtel enger.“ Das machen wir
       nicht mit. Es ist gut, dass es möglich war, die Umlage zu korrigieren.
       
       Und was ist mit Schuldenbremse und Vermögensabgabe? 
       
       Wir brauchen beides – mindestens die Aussetzung, eigentlich aber die
       Abschaffung der Schuldenbremse 2023, um flexibel zu tun, was nötig ist. Und
       die Vermögensabgabe, um beispielsweise in die Transformation der Industrie
       zu investieren. Diese Debatte ist nicht weg. Im Gegenteil.
       
       Haben die Jusos die Unterstützung von Partei und Kanzler? 
       
       Saskia Esken hat sich ja [3][früh für eine Vermögensabgabe ausgesprochen].
       Generalsekretär Kevin Kühnert und viele in den Ländern äußern sich kritisch
       zur Schuldenbremse. Die SPD muss sich bei Schuldenbremse und
       Vermögensabgabe mit klarer Sprache positionieren. Ich erwarte, dass dies
       beim Konvent der SPD am 6. November passieren wird.
       
       Scholz scheint es ganz lieb zu sein, dass Lindner die Debatte über
       Schuldenbremse und Vermögensabgabe immer im Vorfeld beendet. 
       
       Das sehe ich anders. Das Problem ist die FDP, für die die Schuldenbremse
       ein goldenes Kalb ist, ein sakrales Element in der Politik. Sie muss
       endlich erkennen, dass gerade in Krisenzeiten ein Umdenken unausweichlich
       ist.
       
       Wie läuft denn die Zusammenarbeit mit der FDP im Bundestag? 
       
       Ich kann nicht für alle Arbeitsbereiche sprechen, im Bildungsausschuss
       läuft es sehr konstruktiv. SPD und FDP teilen ja die Idee, dass alle ihr
       Leben gestalten können sollen, egal wo sie herkommen, wo sie geboren wurden
       oder wie viel ihre Eltern verdienen. Das Ziel eint uns, über den Weg
       streiten wir oft auch hart. Es gibt verfestigte Armut, die ganze Leben
       zerstören kann. Darauf ist „Ich kämpfe mich durch, dann läuft's schon“
       keine Antwort.
       
       Beim Juso-Bundeskongress, der diesen Freitag beginnt, gibt es eine Vielzahl
       von Forderungen. Das 9-Euro-Ticket soll wieder eingeführt werden, das
       Bürgergeld soll auf 678 Euro steigen. Ist das nicht illusorisch? 
       
       Nein, wir wollen umsetzen, was wir da formulieren.
       
       Es gibt nur das 49-Euro-Ticket, das Bürgergeld steigt nur auf 502 Euro. Die
       Juso-Forderungen haben keine Chance, von der Ampel umgesetzt zu werden. 
       
       Das sehe ich anders. Wer aus der Arbeiterbewegung kommt, weiß, dass jeder
       kleine Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit hart erstritten wird. Wer immer
       nur das fordert, was unter Umständen möglich erscheint, wird noch weniger
       erreichen. Ich sehe Juso-Erfolge wie die Durchsetzung eines deutschlandweit
       gültigen 49-Euro-Tickets – ohne damit zufrieden zu sein.
       
       Hier spricht die Abgeordnete, nicht die Juso-Chefin… 
       
       Nein, ich will auch als Juso-Chefin ein deutschlandweites Ticket, aber
       maximal für 365 Euro im Jahr, langfristig einen komplett ticketfreien
       Nahverkehr. Unsere Aufgabe ist, dieses Ziel zu erreichen und beim
       49-Euro-Ticket dafür zu sorgen, dass es für Studierende, Auszubildende und
       Menschen, die wenig Geld haben, noch billiger wird. Es wäre falsch,
       verantwortungslos und feige, wenn wir mit dem Anspruch Politik machen
       würden, dass das, was wir fordern, eh nicht passiert. Das
       Bürger*innengeld kommt nur, weil Jusos lange und heftig dafür
       gestritten haben. Es ist zwar frustrierend, wenn der Erfolg lange auf sich
       warten lässt, und mir geht vieles oft zu langsam. Aber das
       Bürger*innengeld zeigt, dass Jusos Sachen durchhalten, grundsätzlich
       verändern und gleichzeitig ihre Visionen im Blick behalten.
       
       Die Berechnungsgrundlage des Bürgergeldes ändert sich aber nicht. 
       
       Das ist schlecht. Ich habe kein Problem, das zu sagen. Deshalb müssen wir
       genau das verändern und dafür weiterkämpfen.
       
       Der Krieg in der Ukraine dauert inzwischen seit acht Monaten an. Bei den
       Grünen fordern viele mehr deutsche Waffen für die Ukraine. Und bei den
       Jusos? 
       
       Wir unterstützten die Waffenlieferungen in die Ukraine. Als Jusos haben wir
       diese Frage gut abgewogen. Denn wir sind zwar ein antimilitaristischer
       Verband, wir wollen keine Aufrüstungsspirale. Aber wir sind keine
       Pazifisten. Frieden lässt sich manchmal nicht ohne Gewalt verteidigen oder
       stiften. Wir haben beispielsweise nie die Waffenlieferungen nach Israel in
       Frage gestellt, sondern sie unterstützt, um das unverhandelbare
       Existenzrecht Israels zu garantieren. Im völkerrechtswidrigen Krieg gegen
       die Ukraine sehen wir ein von faschistischen Ideologien getriebenes
       Russland und einen Diktator, der ein Land überfällt und dessen kulturelle
       Identität auslöschen will. Wir als dezidiert linker antimilitaristischer
       Verband sagen deshalb ja zu Waffenlieferungen, weil sie auf dem Fundament
       des Völkerrechts notwendig im Kampf gegen diesen Imperialismus sind.
       
       Der grüne Parteitag fordert die Lieferung von Leopard-Panzern. Die Jusos
       auch? 
       
       Wir Jusos beteiligen uns nicht an dieser Debatte. Wir sollten all das tun,
       was wir können und immer wieder wohlwollend prüfen, was möglich ist. Aber
       die Entscheidungen über Waffenlieferungen gehören hinter verschlossene
       Türen und die Debatte sollte von Expert*innen geführt werden – gerade
       weil es um die Verteidigung der Ukraine geht. Ich weiß nicht, warum eine
       öffentlich geführte Debatte hier hilfreich sein soll.
       
       Die Debatte dreht sich seit Monaten um schwere Waffen– ja oder nein. Und
       die Jusos sagen – wissen wir nicht. Ist das etwas wenig? 
       
       Ich bin nicht dafür bekannt, dem Kanzler immer stumpf alles zu glauben.
       Aber in dieser komplizierten Abwägung traue ich ihm Augenmaß zu und glaube
       auch, dass er für diese Abwägungen gewählt wurde.
       
       Die SPD-Verteidigungsministerin Christine Lambrecht bezeichnet Deutschland
       als militärische Führungsmacht. Einverstanden? 
       
       Nein, das lehnen wir komplett ab. Das ist gefährlich und steht Deutschland
       nicht zu. Olaf Scholz hat ja immer deutlich gemacht, dass Deutschland im
       Schulterschluss mit den Partnerinnen und Partnern agiert. Aber nicht
       vorneweg als Führungsmacht.
       
       SPD-Chef Lars Klingbeil will eine deutsche Führungsrolle in der EU. 
       
       Ich bin überzeugt, dass wir mehr Verantwortung tragen sollten, ja. Aber bei
       Begriffen wie „Führungsmacht“ zucke ich zusammen. Deutschland hat ja lange
       eine Führungsrolle in Europa gespielt – in der Austeritätspolitik, die
       Hunderttausende beispielsweise in Griechenland in die Armut gestürzt hat.
       Unser Kurs sollte vielmehr sein: Wir übernehmen Verantwortung, mit
       Fingerspitzengefühl, und wir hören den Partnern zu. Das haben wir schon bei
       Nord Stream 2 nicht ausreichend getan. Und noch ein grundsätzliches
       Argument: Wir haben noch immer den Holocaust zu verantworten. Wollen wir
       jetzt sagen: Das ist lange genug her, wir sind jetzt wieder Führungsmacht?
       Nicht mit mir.
       
       27 Oct 2022
       
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