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       # taz.de -- Jusos im Bundestag: Warum so brav?
       
       > 49 der 206 SPD-Abgeordneten sind Jusos. Erwartet wurde, dass sie die
       > Fraktion aufmischen. Hier kommen drei Jusos zu Wort.
       
   IMG Bild: Deutscher Bundestag: Fast ein viertel SPD-Bundestagsabgeordneten sind Jusos. Wir haben einige getroffen
       
       Am 3. Juni ist Sanae Abdi krank. Kein schlechter Zeitpunkt. An diesem Tag
       stimmt der Bundestag über das Sondervermögen für die Bundeswehr ab. 100
       Milliarden Euro Schulden will der Staat aufnehmen. Allein fürs Militär.
       Lange hatte Abdi, direkt gewählte SPD-Abgeordnete aus Köln und seit
       September 2021 Bundestagsabgeordnete, mit sich gerungen: „Stimme ich mit
       der Fraktion dafür oder mit meinem Gewissen dagegen?“ Die Entscheidung wird
       ihr abgenommen, sie muss der namentlichen Abstimmung fernbleiben.
       
       Ihr Gewissen hätte Nein gesagt. Als Kind kam die heute 35-Jährige mit ihrer
       alleinerziehenden Mutter aus Marokko. Sie wuchs in Lüdenscheid auf, wo es
       Anfang der Nullerjahre eine stramm organisierte rechte Szene gab. Das habe
       sie politisiert. Abdi sitzt in ihrem spärlich eingerichteten Büro in einem
       Bundestagsgebäude. An der Wand hängt ein Poster mit den 206 Köpfen der
       SPD-Bundestagsfraktion. Es komme immer noch vor, dass sie Abgeordneten
       begegnet, die sie nicht kennt.
       
       Die Grüne Jugend war ihr zu elitär, die Antifa zu radikal, also landete
       Abdi bei den Jusos. Und organisierte ihre erste Demo, gegen den Irakkrieg
       im Jahr 2003. Die damalige Oppositionsführerin Angela Merkel wollte mit den
       USA in den Krieg ziehen; der damalige Bundeskanzler Schröder nicht. Abdi
       hat das imponiert. Sie glaubt nicht an militärische Konfliktlösungen.
       
       Am 24. Februar überfällt Russland die Ukraine. Als SPD-Bundeskanzler Olaf
       Scholz am 27. Februar zur Verblüffung der SPD-Fraktion die Zeitenwende
       ausruft, springt die Unionsfraktion auf und applaudiert. Abdi bleibt
       geschockt sitzen. Sie schaut sich um. Vielen Sozialdemokrat:innen
       geht es ähnlich. In der Sondersitzung des Bundestages wird Abdi drei
       Stunden später ans Rednerpult treten. Als Sprecherin für Entwicklung und
       Zusammenarbeit sagt sie: „Verteidigungspolitik geht nur Hand in Hand mit
       Entwicklungspolitik. Denn Entwicklungspolitik ist Friedenspolitik.“
       
       Annika Klose war Juso-Landeschefin in Berlin und eine flammende Gegnerin
       der Großen Koalition. Antirassistisch, kapitalismuskritisch, klassisch
       links, typisch Juso, so kann man die 30-Jährige beschreiben. Am 3. Juni hat
       sie im Bundestag für die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr gestimmt.
       Klose sitzt im Garten der Parlamentarischen Gesellschaft gegenüber dem
       Reichstag. Erst hin- und hergerissen, sei sie doch zur Überzeugung gelangt,
       dass „wir uns als liberale Demokratie verteidigen können müssen“, sagt sie.
       
       Nach Scholz’ Zeitenwende-Rede bleibt auch Klose geschockt sitzen. Aber das
       ist nur eine Momentaufnahme. „Ich würde mir als Parlamentarierin schon
       wünschen, da mehr eingebunden oder zumindest informiert zu sein“, sagt sie
       im Rückblick. Andererseits könne man in Krisen nicht 206 Abgeordnete
       informieren. Das klingt nicht jugendwild, sondern pragmatisch.
       
       Was ist da passiert? Für die typische Verwandlung vom rebellischen Juso zum
       SPD-Establishment brauchten Gerhard Schröder und Andrea Nahles Jahre.
       Reichen jetzt ein paar Wochen?
       
       Klose und Abdi gehören zu den 49 Abgeordneten unter 35, die qua Alter als
       Jusos gelten. Sie stellen fast ein Viertel der Fraktion. Insgesamt sind 104
       von 206 SPD-Abgeordneten neu im Bundestag, nie war eine SPD-Fraktion
       jünger, diverser, weiblicher.
       
       Für die Jusos ging es seit der Großen Koalition 2018 nur bergauf. Erst
       trieben sie mit der No-Groko-Kampagne das müde Parteiestablishment vor sich
       her, hievten mit Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans ein linkes Duo an
       die Parteispitze und eroberten bei der Listenaufstellung für die
       Bundestagswahl so viele aussichtsreiche Plätze wie noch nie. Die Jungen
       hätten, so Klose, von der Partei das Signal bekommen: „Wir brauchen euch,
       wir wollen euch, ihr seid Teil des Teams.“
       
       Doch die 49 im Bundestag sind ausdrücklich keine Juso-Gruppe. „Wir sind
       total unterschiedlich. Da sind nicht nur klassische Juso-Positionen
       vertreten, sondern die jungen Abgeordneten gehören verschiedenen Strömungen
       an“, so Klose. Dennoch sind die 49 im Herbst angetreten, Fraktion und
       Bundestag aufzumischen. Im Februar gründeten sie sich formal als eigene
       Gruppe, in einem Papier heißt es, „man stehe für die Sichtbarkeit der SPD
       jenseits ihrer Rolle als Koalitionspartner:in“.
       
       Insbesondere um Themen wie Aufstiegschancen und Klimaschutz wolle man sich
       kümmern und „schon jetzt lange Linien über die Legislaturperiode hinaus
       entwickeln“ und „Politik für junge Menschen verständlich und
       nachvollziehbar machen“.
       
       Dienstältere Fraktionsmitglieder sind mitunter erstaunt über die Chuzpe der
       Jungen, ihre Präsenz in den sozialen Medien, ihr Sendungsbewusstsein. Die
       Neulinge schreiben Stellen allein für Social Media aus. Da gibt es bei
       manchen Älteren leichtes Befremden, aber auch viel Respekt: „Neue
       Abgeordnete haben von heute auf morgen ein hohes Einkommen, ein großes
       Budget und viel Aufmerksamkeit und müssen damit umgehen. Viele sind da sehr
       professionell und weit“, sagt Katja Mast. Die SPD-Politikerin sitzt seit 17
       Jahren im Bundestag.
       
       Und was ist jetzt? Nur wenig hört man von den Forty-Ninern, wie sie sich
       intern nennen – so wie das Footballteam aus San Francisco. Zahm marschieren
       sie, wie die gesamte Fraktion, hinter der Regierungsmannschaft und dem
       Kanzler her. Widerspruch zur verteidigungspolitischen Kehrtwende, zur
       Aufrüstung der Bundeswehr, zur neuen militärischen Führungsrolle im
       europäischen Teil der Nato? Fehlanzeige.
       
       Das Bild der aufmüpfigen, linken Parteijugend, die nun die Höhen der Macht
       erobert – es hat mit dem Parlamentsalltag der Jüngeren nicht viel zu tun.
       Gerade mal neun von 206 Abgeordneten haben an jenem 3. Juni gegen die
       100-Milliarden-Kredite für die Bundeswehr gestimmt. Darunter nur vier aus
       der U35-Truppe, eine davon Jusochefin Jessica Rosenthal.
       
       Und sie lehnte ein Sondervermögen für die Bundeswehr „nicht aus Prinzip
       ab“, sondern weil es unter Umgehung der Schuldenbremse eingekauft worden
       ist. Rosenthal hatte ihre Bedenken [1][Ende Mai in einem Beitrag für den
       Spiegel] ausgeführt, der just öffentlich wurde, als die Fraktion über das
       Thema diskutierte. Fraktionschef Rolf Mützenich, der ihn in der Sitzung
       las, war sauer und erteilte Rosenthal einen Rüffel.
       
       Der Abschied von Russland und die Kritik gedeihlicher
       Wirtschaftsbeziehungen mag den Jüngeren leichter fallen als Älteren in der
       SPD – schlicht weil sie früher nicht dabei waren. Aber was die neue
       Ostpolitik werden soll, ist noch ebenso vage wie die mit Trommelwirbel
       verkündete deutsche Führungsrolle in Europa. Die Jüngeren in der
       Außenpolitik legen eher Puzzleteile zusammen. Ein erkennbares Bild, eine
       außenpolitische Agenda haben die 49er nicht. Man hat zwar intern das
       Sondervermögen diskutiert, aber keine gemeinsame Position gefunden.
       
       Nach innen Dampf ablassen, nach außen geschlossen auftreten, so sieht der
       neue Pragmatismus der Jusos im Bundestag aus. Als Kevin Kühnert noch
       Bundesvorsitzender der Jusos war, war es andersherum. Kühnert machte die
       Jusos zum Machtfaktor, die öffentlichkeitswirksam gegen die Große Koalition
       auftrumpften. Allerdings saß Kühnert damals nicht im Bundestag. Das
       verschaffte ihm Beinfreiheit.
       
       Genau genommen war die Warnung vor der jungen, linken Kampftruppe eh nie
       mehr als eine Fantasie der Union auf der Suche nach einem Feindbild. Die 49
       jüngeren SPD-MdBs unter 35 Jahren ticken nicht alle wie Klose oder
       Jusochefin Jessica Rosenthal. Eine klassische Jusokarriere hat die Hälfte
       der 49 hinter sich – die anderen nicht.
       
       Bei der 100-Milliarden-Bundeswehr-Abstimmung im Bundestag hat Adis
       Ahmetovic ohne mit der Wimper zu zucken mit Ja gestimmt – und findet es
       gut, dass die Mehrheit so groß war. Dass auch Abgeordnete gegen die 100
       Milliarden gestimmt haben, sei schon recht. Es gebe ja auch in der
       Bevölkerung Vorbehalte, die sich im Bundestag spiegeln müssten, sagt er.
       
       Ahmetovic steht vor dem Luisenblock West, unweit des Reichstags. Der ist
       erst vor ein paar Monaten fertig geworden, ein schicker Modulbau, außen
       bunt, innen aus Holz. Als etwas, das neu ist, ist es ein passender Ort für
       Ahmetovic, 29 Jahre alt, Juso aus Hannover mit Blitzkarriere: Der Sohn
       bosnischer Flüchtlinge war Mitarbeiter eines Bundestagsabgeordneten,
       Büroleiter von Ministerpräsident Stephan Weil, Referent für Grundsatzfragen
       in der Staatskanzlei in Hannover und jetzt Mitglied im altehrwürdigen
       Auswärtigen Ausschuss. „Eigentlich kommt man als Bundestagsneuling da
       schwer rein“, sagt er. Aber jetzt sitze er „neben Granden wie Jürgen
       Trittin, Gregor Gysi, Michael Roth“.
       
       Ahmetovic ist als Berichterstatter in der SPD-Fraktion für den Westbalkan
       zuständig – eine Region, die seit dem 24. Februar wieder wichtiger ist.
       Serbien ist russlandnah, in Bosnien und Herzegowina kann es jederzeit
       wieder gewaltsame Eskalationen geben. „Ich bin meiner Fraktion sehr dankbar
       für das Vertrauen“, sagt er.
       
       Als Kanzler Scholz Anfang Juni den Balkan bereiste, hat Ahmetovic dem
       bosnischen Fernsehen ein Interview gegeben, auf Bosnisch. Das [2][Time
       Magazine] hat ihn kürzlich zitiert.
       
       Ahmetovic erzählt diese Erfolgsgeschichten stolz. Seine Presseerklärungen
       verschickt sein Büro stets zusammen mit einem vorteilhaften Foto von ihm,
       damit zweifelsfrei klar ist, um wen es geht.
       
       Annika Klose hat gleich in der ersten Fraktionssitzung eine toughe Ansage
       gemacht. Die Jüngeren sollten auch wichtige Ausschüsse bekommen – nicht nur
       die alten Hasen. Die Ausschussverteilung ist die Hartwährung im Bundestag –
       und bildet ab, wer etwas zu sagen hat. Alteingesessene mussten sich hinten
       anstellen, was für hitzige Debatten sorgte.
       
       Abdi wird entwicklungspolitische Sprecherin und Obfrau im
       Entwicklungsausschuss. Damit ist sie zuständige Hauptansprechpartnerin für
       die Fraktionsführung. Fachlich völlig gerechtfertigt, denn die Juristin
       arbeitete vorher drei Jahre als Projektmanagerin für die Gesellschaft für
       Internationale Zusammenarbeit, GIZ. Dennoch ein großer Schritt für einen
       Bundestagsneuling.
       
       Als Putin die Ukraine überfällt, ist Sanae Abdi noch dabei, sich in die
       Mechanismen des Parlamentsbetriebs einzuarbeiten. Nun soll sie als Obfrau
       der größten Fraktion spontan eine Sondersitzung des Ausschusses einberufen.
       „Darauf bereitet einen niemand vor“, sagt sie. Nachts arbeitet sich Abdi
       ins Thema ein. Die Sitzung findet zwei Tage nach dem Überfall statt; die
       zuständige Ministerin Svenja Schulze ist auch dabei.
       
       Klose wollte in den Ausschuss Wirtschaft und Soziales, den „Kernbereich der
       Sozialdemokratie“. Und hatte Erfolg. Sie habe zehn Jahre gefordert, dass
       Hartz IV wegmuss. Jetzt arbeitet sie sich in die Sozialgesetzgebung ein und
       bereitet das Bürgergeld mit vor. Hubertus Heil hat erste Eckpunkte des
       Gesetzentwurfs in dieser Woche vorgestellt.
       
       Die Arbeit im Ausschuss laufe gut, die Zusammenarbeit mit Heil und dem
       Ministerium trotz Meinungsunterschieden auch, sagt Klose. Der endlose
       Streit in der SPD um die Abschaffung der Sanktionen ist weitgehend
       beigelegt. Die SPD verfolge mit Ausbildungsplatzgarantie, Bürgergeld und 12
       Euro Mindestlohn eine linke Idee des Sozialstaats. Das sei „richtig cool“,
       findet Klose. Vom Protest zum Machen. Zu schön, um wahr zu sein. Dass die
       Fraktion die Neuen so früh auf so wichtige Posten befördert hat, ist ein
       schlauer Zug des In-die-Pflicht-Nehmens.
       
       Der Bundestag ist ein Tanker, der Gesetze produziert und mit vielen
       Arbeitsstunden befeuert wird. Das Plenum, aus dem die Debatten übertragen
       werden, ist nur der sichtbare Teil – das Sonnendeck. Doch der
       Maschinenraum, das sind die 25 ständigen Ausschüsse samt Unterausschüssen.
       Hier werden Gesetzesentwürfe diskutiert, abgestimmt, nachgebessert. Wer Tag
       für Tag im Maschinenraum schuften muss, hat keine Zeit, an Meuterei zu
       denken.
       
       Inzwischen sind zehn Monate seit der Bundestagswahl vergangen. Zehn Monate
       Politik im Krisenmodus: Als sich der Bundestag konstituierte, war die
       Pandemie auf ihrem Höhepunkt, im Februar überfiel Russland die Ukraine und
       nun droht Deutschland mit dem russischen Gasboykott eine Wirtschaftskrise.
       Noch nie seit 1949 waren Bundestag und Regierung mit so vielen Krisen auf
       einmal konfrontiert.
       
       „Es war eine extrem dichte Zeit.“ Klose staunt noch immer über die Größe
       des Apparates Bundestag. „Bei den Jusos gibt es auch Hierarchien. Aber hier
       läuft es schon sehr anders.“
       
       Verändern die Newcomer tatsächlich das Parlament oder verändert die Politik
       die Jungpolitiker:innen? „Klar verändert einen die Politik“, sagt Abdi. Ans
       Rednerpult des Bundestages zu treten, empfindet sie als etwas ganz
       Besonderes. „Da redet man natürlich anders als auf dem Juso-Bundeskongress
       oder bei einer Demo.“ Nimmt sie sich nun mehr zurück? Sie wägt ihre Worte.
       „Ja.“ Pause. „Auf Parteitagen tritt man progressiver auf. Aber dort ist die
       höchste Konsequenz, dass ein Antrag an den Vorstand verwiesen wird.“ Nun
       müsse sie eben auch immer die möglichen Folgen ihres Handelns vor Augen
       haben. Sie sei gewählt, habe Verantwortung übernommen, dieser müsse sie
       gerecht werden.
       
       Vor über 100 Jahren hat der Soziologe Max Weber diese Übernahme von
       Verantwortung für die Folgen des eigenen Handels in seinem Vortrag „Politik
       als Beruf“ als Verantwortungsethik bezeichnet. Dem Verantwortungsethiker
       stellte Weber den Gesinnungsethiker gegenüber, der sich nur dafür
       verantwortlich fühle, „daß die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt“.
       Obwohl Weber beide Typen nicht als absolute Gegensätze verstanden wissen
       wollte, war doch für ihn klar, dass politisches Handeln auf dem Weg der
       Verantwortungsethik erfolgt. Wird man also als gewählte Abgeordnete
       zwangsläufig zur Verantwortungspolitiker:in? Abdi nickt. „Das trifft es.“
       
       Umstritten war diese Dichotomie immer, ließen sich doch auf diese Weise
       auch Atomkraftgegner oder Friedensaktivisten zu Gesinnungsethikern
       abstempeln. Träumer eben. Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine erleben
       beide Typen eine Renaissance. Die Verantwortungsethiker liefern Waffen und
       rüsten auf, die Gesinnungsethiker sind skeptisch. Die jugendlichen
       Gesinnungsethiker, die unter dem Druck der äußeren Krise und in
       20-Stunden-Tagen zu Verantwortungsethikern werden – ein schönes Bild. Aber
       es stimmt nicht ganz.
       
       Denn Abdi, die den Begriff der Verantwortungsethik für sich als passend
       bezeichnet, findet ja nach wie vor, dass „wir allein mit der Aufblähung des
       Verteidigungsetats nicht mehr Sicherheit erreichen“. Man müsse eben auch
       stärker über internationale Zusammenarbeit und ein neues Verständnis von
       Entwicklungspolitik sprechen. Um Krisen schon zu begegnen, wenn sie sich
       anbahnen und nicht erst, wenn sie akut werden. Steht hier eine Generation
       Neue Ostpolitik?
       
       SPD-Chef Lars Klingbeil, mit 44 Jahren auch noch jung für den Posten, hat
       kürzlich gefordert, dass Deutschland seine Führungsrolle in der Welt
       annehmen müsse. Doch was heißt das? Wo Abdi mehr Geld für Entwicklung
       fordert, will Ahmetovic mehr Militär, einen harten Kurs gegenüber Russland
       und eine selbstbewusste Außenpolitik. Die SPD brauche eine neue Ostpolitik,
       sagt Ahmetovic. „Wir haben bei den deutsch-polnischen Beziehungen viel
       nachzuholen.“ Er ist viel unterwegs, in Bosnien, Serbien, Polen. Für den
       Westbalkan gibt es Zuckerbrot (EU-Beitritt) und Peitsche
       (Wirtschaftsbeziehungen). Für Serbien sei Deutschland der wichtigste
       Handelspartner. Der Ex-Präsident der bosnischen Republik Srpska, Milorad
       Dodik, beschimpfte ihn kürzlich als „Hitlerjungen“.
       
       Ahmetovic hat sich für eine Beteiligung der Bundeswehr an der EU-Mission in
       Bosnien und Herzegowina starkgemacht. 50 deutsche Soldat:innen werden
       dort stationiert. „Der westliche Balkan ist geostrategisch immens wichtig“,
       sagt er. Und Ahmetovic hat die erneute Beteiligung der Bundeswehr an der
       Eufor-Althea-Mission in Bosnien und Herzegowina forciert. „Ich gehörte zu
       den ersten, die auf unsere Verteidigungsministerin Christine Lambrecht
       zugegangen sind und gesagt hat: Christine, bitte prüft einmal die Lage! Es
       ist notwendig, dass Deutschland wieder in Bosnien-Herzegowina vertreten
       ist. Sonst könnte es möglicherweise wieder zu einem Konflikt kommen.“
       Manchmal scheint er vor juveniler Frische fast zu vibrieren.
       
       Die 49 haben zwar einen ordnungsgemäßen Koordinierungsrat, politisch
       ausgewogen nach Zugehörigkeit zu den drei großen fraktionsinternen
       Strömungen: Parlamentarische Linke, rechte Seeheimer und mittige
       Netzwerker. Als eigene Strömung begreifen sie sich nicht. Man trifft sich
       in jeder zweiten Sitzungswoche, diskutiert und trinkt dann noch ein Bier in
       der Ständigen Vertretung. Gemeinsame Stellungnahmen oder Presseerklärungen
       gab es allerdings noch nicht. Auch kommen nicht alle zu den Treffen, eher
       die Hälfte.
       
       Links gegen Rechts, Jusos gegen Minister, Seeheimer gegen Parlamentarische
       Linke – dieses Ordnungsmuster ist in der SPD-Fraktion ohnehin ziemlich
       ausgebleicht. Beim Sommerfest der Parlamentarischen Linken Anfang Juli
       begrüßt deren Chef Matthias Miersch ganz besonders herzlich die Seeheimer
       und Netzwerker.
       
       Die Juso-Linke Annika Klose hat den ersten Schreck, dass viele der 49er bei
       Seeheimern und Netzwerkern gelandet sind, inzwischen überwunden. Manche
       Jüngere seien zu den Netzwerkern gegangen, weil sie die nett fanden – und
       manche zur Parlamentarischen Linken, weil sie gern inhaltlich Debatten
       führen wollten, meint Klose.
       
       Was aber tritt als Ordnungsmuster an die Stelle der Flügel? Vielleicht die
       Generation, das Alter. Nicht als vollständiger Ersatz, eher als
       Orientierung. Auch Ahmetovic glaubt, dass die 49er „politisch sehr
       heterogen sind“. Aber da sei auch der Wille, große politische Fragen
       mitzugestalten.
       
       Abdi findet, dass man im Bundestag schon ziemlich viel verändert habe.
       „Abgeordnete, die länger dabei sind, bestätigen mir, dass die vielen neuen
       jungen Leute frischen Wind reingebracht haben.“
       
       Klose schätzt an den 49ern vor allem, dass man dort „Tacheles reden kann“.
       In der Fraktion sei es üblich, erst mal „drei positive Sachen zu sagen,
       bevor man einen Punkt Kritik äußert“. Bei den Jüngeren könne man Kritik
       üben, „ohne zu sagen, wie dankbar man für alles ist“.
       
       Aber dass sie nicht nur den Stil, sondern auch den Inhalt der Debatten
       verändern können, müssen die Jungen noch unter Beweis stellen. In der
       Politik geben momentan der Kanzler und die Minister:innen Richtung und
       Tempo vor. Die Fraktion wirkt dahinter blass. Man könne auch etwas bewegen,
       indem man bedacht handele, meint Abdi. Sie habe das Gefühl, auch als
       einzelne Bundestagsabgeordnete etwas verändern zu können, „definitiv“. Sie
       verweist auf den Haushalt für Entwicklungspolitik. „Dass dieser nicht
       geschrumpft ist, sehe ich als Erfolg.“
       
       Anfang September werden sich die 49er im großen Kreis treffen, um darüber
       zu sprechen, was sie zusammenhält und welche Themen sie setzen wollen.
       Abdi, Ahmetovic und Klose werden dabei sein.
       
       22 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/jessica-rosenthal-ein-sondervermoegen-allein-fuer-die-bundeswehr-greift-viel-zu-kurz-a-4ff27e6a-b393-441d-aefa-a212c2a9584b
   DIR [2] https://time.com/6170974/olaf-scholz-germany-interview/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Lehmann
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