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       # taz.de -- Kampagnen gegen Arme: Sozialstaat am Scheideweg
       
       > Das größte wirtschaftliche Wachstum erreichte Deutschland in der
       > Blütezeit des Sozialstaats. Doch der wird jetzt hart angegriffen – ein
       > Antagonismus.
       
   IMG Bild: Zeigen dem Sozialstaat den Rücken: Kanzler Friedrich Merz, CDU (r), und sein Finanzminister Lars Klingbeil, SPD (l)
       
       Immer dann, wenn es der einheimischen Wirtschaft schlecht und den Armen
       noch schlechter geht, ertönt der Ruf nach dem Abbau des Sozialstaats,
       begleitet von wohltönenden Begriffen wie „Konsolidierung des Erreichten“,
       „politische Kurskorrektur“ und „grundlegende Reform“. In solchen
       Umbruchsituationen dient der Sozialstaat Spitzenpolitikern und
       Regierungsparteien als Sündenbock, der es ihnen ermöglicht, die eigene
       Schuld an ökonomischen Fehlentwicklungen zu leugnen und sie den von
       Transferleistungen abhängigen Menschen in die Schuhe zu schieben.
       
       Seit Monaten wird von Rechtsextremisten, Konservativen, Neoliberalen samt
       ihren Leitmedien kampagnenartig Stimmung gegen den Sozialstaat gemacht.
       Spitzenpolitiker nutzten ihre Sommerinterviews für Bürgergeld-Bashing. Mit
       der Reform von Hartz IV hatte einst die Ampel einige Verbesserungen für
       Transferleistungsbezieher/innen geschaffen. Nun stellt AfD-Chefin Alice
       Weidel die Forderung auf, Ausländern und Menschen mit doppelter
       Staatsangehörigkeit kein Bürgergeld mehr zu zahlen, weil sie nie ins
       deutsche Sozialsystem eingezahlt hätten.
       
       Dabei ist das Bürgergeld keine Versicherungs-, sondern eine
       Grundsicherungsleistung, die allen Erwerbsfähigen zusteht, deren
       soziokulturelles Existenzminimum nicht gewährleistet ist. Denn die Würde
       des Menschen – wohlgemerkt nicht des Deutschen – ist unantastbar. Dass
       Weidel diese Fundamentalnorm unserer Verfassung infrage stellt, zeigt
       einmal mehr, dass die AfD nicht auf dem Boden des Grundgesetzes steht.
       
       Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Markus Söder rückte
       die Nationalität ebenfalls in den Vordergrund, als er in seinem
       Sommerinterview verlangte, auch jenen ukrainischen Kriegsflüchtlingen kein
       Bürgergeld mehr zu zahlen, die sich schon vor dem Stichtag 1. April 2025 in
       Deutschland aufgehalten haben. Stattdessen sollen sie ausnahmslos die um
       120 Euro pro Monat niedrigeren Asylbewerberleistungen erhalten. Umgekehrt
       stellt sich wegen des Gleichheitsgrundsatzes die Frage, warum Ukrainerinnen
       und Ukrainer gegenüber anderen Kriegsflüchtlingen privilegiert und diese
       schlechter behandelt wurden und werden.
       
       Bundeskanzler Friedrich Merz brachte eine „Deckelung bei den Mietkosten“
       der Menschen im Bürgergeldbezug ins Gespräch, die es längst gibt.
       Schließlich mussten 334.000 Bedarfsgemeinschaften im vergangenen Jahr von
       ihrem kargen Regelsatz durchschnittlich 116 Euro jeden Monat für die Miete
       aufwenden, weil ihr Jobcenter diese nicht oder nicht voll übernahm. Anstatt
       das Problem an der Wurzel zu packen und Maßnahmen zur Senkung der
       Wohnungsmieten zu ergreifen, machte Merz lieber die davon am härtesten
       Betroffenen zu Sündenböcken.
       
       Die neoliberale Weltsicht des Kanzlers wie die seines Finanzministers Lars
       Klingbeil (SPD) hält Wettbewerbsfähigkeit und Wohlfahrtsstaatlichkeit für
       antagonistische Gegensätze. Dabei ist die soziale Sicherheit der Lohn- und
       Gehaltsabhängigen eine Grundvoraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg.
       Nur wenn die Beschäftigten keine Angst vor Erwerbslosigkeit, einem
       Arbeitsunfall, Krankheit und Armut im Alter haben, sondern wissen, dass
       ihnen und ihrer Familie diese Existenzrisiken durch ein gut
       funktionierendes System der sozialen Sicherung erspart bleiben, können sie
       ihre Arbeitsproduktivität optimal entfalten. Das nachhaltigste Wachstum
       sowie den größten Wohlstand verzeichnete die Bundesrepublik daher nicht
       zufällig während der späten 1960er Jahre und frühen 1970er Jahre, als der
       Sozialstaat seine Blütezeit erlebte. Damals wurde er im öffentlichen
       Diskurs nur von Ewiggestrigen infrage gestellt und als „Klotz am Bein der
       Volkswirtschaft“ verteufelt.
       
       ## Hartz IV wieder hoch im Kurs
       
       Auch in den Folgejahren erreichte der Frontalangriff auf den Sozialstaat
       die gegenwärtige Breite. Sogar Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
       glaubte jüngst, sich in die hitzige Debatte mit einer glatten Unwahrheit
       einschalten zu müssen, als er behauptete, die Kosten des Bürgergelds liefen
       „aus dem Ruder“. Die Wahrheit ist: Sie reichen, gemessen am Staatshaushalt
       der Bundesrepublik und am deutschen Bruttoinlandsprodukt, längst nicht an
       die einstigen von Hartz IV heran. Diese alte Grundsicherung, die SPD und
       Grüne mit dem Bürgergeld „überwinden“ wollten, steht – zur „Neuen
       Grundsicherung“ aus dem Wahlprogramm der Union geadelt – heute wieder hoch
       im Kurs.
       
       Aus dem Ruder indes laufen die Militär- und Rüstungsausgaben.
       Verteidigungsminister Boris Pistorius muss in Kabinettsitzungen nur laut
       und vernehmlich „Putin“ sagen, schon können sich die überwiegend
       US-amerikanischen Großaktionäre von Rheinmetall auf noch saftigere
       Dividenden und weiterhin explosionsartig steigende Kursgewinne freuen. Im
       „rheinmetallischen Kapitalismus“ (O-Ton Christian Rickens, Journalist), der
       mit dem Rheinischen Kapitalismus der Adenauer-Ära bloß noch den Wortstamm
       des Adjektivs gemeinsam hat, stellt sich die Frage: Rüstungs- oder
       Sozialstaat? Merz hat ausnahmsweise recht: Wenn der Einzelplan 14
       (Wehretat) wie von seiner Regierung veranschlagt bis zum Jahr 2029 auf
       152,8 Milliarden Euro nahezu verdreifacht wird, ohne dass man irgendwelche
       Steuern erhöht, lässt sich der Sozialstaat in seiner bisherigen Form nicht
       erhalten. Denn selbst wenn man die Vergrößerung der Bundeswehr und die
       gigantischen Rüstungsprojekte auf Pump finanziert, wachsen damit
       zwangsläufig verbundene Zins- und Tilgungslasten enorm.
       
       Heute befindet sich die Wohlfahrtsstaatsentwicklung an einer historischen
       Wegscheide: Entweder wird der „Um-“ oder Abbau des sozialen
       Sicherungssystems in dieser Legislaturperiode verschärft fortgesetzt und
       der Übergang vom Sozialversicherungsstaat à la Bismarck zu einem Fürsorge-,
       Almosen- und Suppenküchenstaat besiegelt oder ein Neuanfang in Richtung
       seines Ausbaus zu einer solidarischen Bürgerversicherung gewagt.
       
       6 Oct 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christoph Butterwegge
       
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