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       # taz.de -- Karlsruhe zu Drogentests in Haft: Pinkelaufsicht muss nicht sein
       
       > Das Bundesverfassungsgericht gibt der Klage eines Häftlings gegen
       > Urintests auf Drogen statt. Die Begründung: Es gebe Alternativen.
       
   IMG Bild: Auch bei der Urinprobe gelten Persönlichkeitsrechte
       
       Freiburg taz | Gefängnisinsassen können verhindern, dass sie bei der
       Drogenkontrolle nackt vor einem Aufseher pinkeln müssen. Das entschied
       jetzt [1][das Bundesverfassungsgericht] in einem Fall aus Bochum. Der
       Bochumer Häftling verbüßte seit 2014 eine Haftstrafe wegen räuberischer
       Erpressung. Im November und Dezember 2020 musste er binnen eines Monats
       viermal zur Drogenkontrolle. Zwar gab es keinen konkreten Verdacht gegen
       den Häftling, doch die Anstaltsleitung begründete die anlasslosen
       Kontrollen mit der Aufrechterhaltung der [2][Ordnung in der Haftanstalt].
       
       Um zu verhindern, dass der Häftling die Urinproben manipuliert, etwa indem
       er fremden Urin abgibt, fand die Probe unter Aufsicht statt. Ein
       Vollzugsbeamter musste dabei freien Blick auf den pinkelnden Penis des
       Häftlings haben.
       
       Gegen diese gängige Prozedur protestierte der Bochumer Häftling. Er schäme
       sich, insbesondere weil für die „entwürdigende Maßnahme“ sein regelmäßiger
       Betreuer eingeteilt wurde.
       
       Doch weder die Anstaltsleitung noch die nordrhein-westfälischen Gerichte
       nahmen seinen Protest ernst. Die Pinkelaufsicht diene nicht dazu, ihn zu
       erniedrigen oder zu bestrafen, er werde auch nicht zu einem „Schauobjekt“
       herabgewürdigt. Auch Gefangene, die bisher nicht als Drogenkonsumenten
       aufgefallen sind, müssten kontrolliert werden, weil viele Gefangene erst im
       Vollzugsalltag mit Drogen in Berührung kommen. Die Urinkontrolle unter
       Aufsicht sei daher rechtmäßig gewesen.
       
       ## Schwerer Eingriff in das Persönlichkeitsrecht
       
       Das sah eine mit drei Richtern besetzte Kammer des
       Bundesverfassungsgerichts nun aber anders. Die Anstaltsleitung habe die
       Persönlichkeitsrechte des Häftlings verletzt. Staatliche Maßnahmen, die mit
       einer Entkleidung verbunden sind, stellten stets einen schweren Eingriff in
       das Persönlichkeitsrecht dar, so die Richter:innen. Zwar ließen sich im
       Strafvollzug Eingriffe, die den Intimbereich und das Schamgefühl des
       Inhaftierten berühren, nicht immer vermeiden. Bei solchen Maßnahmen habe
       der Gefangene aber „Anspruch auf besondere Rücksichtnahme“, die ihm die
       Bochumer Anstaltsleitung jedoch verwehrt habe.
       
       Dabei hätte die Anstaltsleitung nicht einmal auf ein Drogenscreening
       verzichten müssen, so die Richter. Denn seit 2017 sieht das
       NRW-Strafvollzugsgesetz als Alternative zur Urinkontrolle die Blutabnahme
       an der Fingerkuppe vor, wenn der Gefangene einverstanden ist. Der Bochumer
       Häftling hatte dies sogar ausdrücklich angeboten. Indem die Anstaltsleitung
       diese naheliegende Alternative verweigerte, habe sie die Rechte des
       Häftlings verletzt.
       
       In anderen Bundesländern, wie in Baden-Württemberg, ist ein körperlicher
       Eingriff zur Drogenuntersuchung, also auch die Blutabnahme, noch generell
       verboten. Doch auch hier zeigte das Verfassungsgericht eine Alternative
       auf: Wenn sich der Häftling vor der Urinkontrolle gründlich durchsuchen
       lässt, um sicherzustellen, dass er keinen Fremdurin mit sich führt, könne
       er anschließend auch ohne Beobachtung pinkeln.
       
       Die Richter stellen sogar generell infrage, ob anlasslose Drogenkontrollen
       im [3][Gefängnis] zulässig sein können. Sie lassen dies offen, weil die
       Verfassungsbeschwerde bereits erfolgreich war. Manche Länder erlauben
       Drogenkontrollen bei Häftlingen bereits heute nur dann, wenn „der Verdacht
       besteht, dass sie Suchtmittel besitzen oder konsumieren“.
       
       10 Aug 2022
       
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