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       # taz.de -- Kinderkuren in der DDR: Am Anfang war die Tat
       
       > Was im Westen die Kinderverschickung war, hieß in der DDR Kinderkur.
       > Viele erlebten dort sexualisierte Gewalt. Geglaubt hat ihnen lange
       > niemand.
       
   IMG Bild: Das Haus Dahmshöhe liegt abgeschieden im Havelland, bis zum nächsten Ort sind es zwei Kilometer
       
       Fürstenberg/Havel taz | Ein großer Wandteppich hängt im Treppenhaus,
       handgeknüpft. Er zeigt die stilisierte Fassade eines stattlichen Hauses mit
       zwei Türmen, hohen Fenstern und ziegelrotem Dach. Kinder und Erwachsene
       stehen Hand in Hand, als wollten sie einen Reigen um das Haus tanzen.
       Zweige, Blumen, Tiere, Menschen wie in einem naiven Wimmelbild verorten das
       Haus in ländlicher Umgebung. Darüber in Stickschrift ein Datum: 30. Mai
       1948. Darunter, angelehnt an das Goethe-Zitat: „Am Anfang war die Tat“.
       
       Tatkräftig wollte der Sozialismus den Aufbau des Landes vorantreiben, und
       die ersten Kinder, die Ende der 40er ins nordbrandenburgische Dahmshöhe
       kamen, waren vermutlich kriegsmüde, krank und unterernährt. Das Wandbild
       suggeriert: Hier könnt ihr fröhlich sein, hier kümmert man sich um euch.
       Für die zwei Frauen, die im Mai 2022 einen Rundgang durch das Haus machen,
       bedeutet diese Inschrift etwas anderes.
       
       „Kennst du das?“, fragt Diana Mehmel ihre Begleiterin. „Hing das Wandbild
       früher schon hier?“ Sie bleibt irritiert stehen. „Ich kenne das nicht“,
       sagt Katrin L. entschieden. Die beiden Frauen sind an diesem Tag nach
       Dahmshöhe gekommen, weil sie einer Tat nachspüren, die ihr Leben
       einschneidend beeinflusst hat. Was genau ist ihnen hier geschehen? Das
       Wandbild gibt keinen Aufschluss. Es ist von ebenso heiterer wie
       deprimierender Eindimensionalität. Zweifel, Ängste, Fragen haben darin
       keinen Platz.
       
       Erinnere ich das richtig? Kann ich meinem Gefühl, kann ich mir trauen?
       Diese Fragen beschäftigen in dieser Geschichte mehrere Menschen. Es sind
       kennzeichnende Fragen für diejenigen, die in ihrer Kindheit
       Traumatisierendes erfahren haben und damit allein geblieben sind. In
       manchen Fällen überlagert oder überblendet das Erlebte alles drumherum.
       Oftmals aber hinterlässt es einen schwammigen und dennoch massiven Abdruck
       im Körper und einen harten Abdruck in der Seele. Je länger es zurückliegt,
       je traumatischer das Erfahrene war, desto vager ist oft die Erinnerung:
       abgespaltenes Material, das uns im Laufe des Lebens immer wieder einholt.
       Manchmal hilft es, an den Ort zurückzukehren, wo alles begann.
       
       ## Unzuverlässige Erinnerung
       
       Dieser Ort ist in dieser Geschichte Haus Dahmshöhe. Wie ein verwunschenes
       Schloss liegt das denkmalgeschützte Haus im Havelland da, umgeben von einer
       parkähnlichen Anlage mit einer großen Terrasse. „Das Schwimmbecken ist
       weg“, werden Diana Mehmel und Katrin L. feststellen, als sie das Terrain
       sondieren, wo sie in ihrer Kindheit einige quälende Wochen verbracht haben.
       Die Topografie des Gedächtnisses ist unzuverlässig, zu zweit lassen sich
       Erinnerungen leichter rekonstruieren und ertragen. Katrin L. will nicht,
       dass ihr Familienname in der Zeitung veröffentlicht wird.
       
       Sie sagt: „Meiner Meinung nach standen am Pool mehr Bäume. Wir hatten von
       den Kiefern immer diese klebrigen Nadeln im Wasser.“ Diana Mehmel sagt: „An
       die Nadeln kann ich mich nicht erinnern. Ich war im Winter hier, das hilft
       mir gerade. Ich bin relativ stabil, weil ich im Winter hier war. Das
       triggert nicht so extrem.“
       
       Von 1948 bis 1990 war das heutige Haus Dahmshöhe ein Kinderkurheim. Pro
       Jahr wurden hier etwa 700 Kinder im Vier-Wochen-Turnus durchgeschleust.
       Denn wie in der BRD gab es auch in der DDR das Phänomen der massenhaften
       Kinderverschickung, dort hieß es schlicht: Kinderkur.
       
       Etwa 1o Millionen Kinder waren zwischen 1949 und 1989 in der BRD betroffen;
       in der sehr viel kleineren DDR mit einer Bevölkerung von unter 20 Millionen
       wurden immerhin rund 2,6 Millionen Kinderkuren von der Sozialversicherung
       als Heilkuren oder zur Prophylaxe durchgeführt. Die Zahl der Kinder, die
       vorbeugend eine Kur verordnet bekamen, war etwa doppelt so hoch wie die bei
       Genesungskuren, hat die Historikerin Julia Todtmann ermittelt.
       
       Todtmann schreibt derzeit an ihrer Masterarbeit in Public History. Sie ist
       die Erste, die zum Phänomen des Kinderkurwesens in der DDR forscht. Obwohl
       das System der Kinderkuren dort überwiegend staatlich organisiert war,
       ähneln die ärztlichen Vorgaben – Haltungsschäden, Atemwegserkrankungen,
       Zunahmekuren – und die Erfahrungen vieler Betroffener denen aus
       Westdeutschland: Sie fühlten sich schikaniert, lieblos behandelt. „Im
       Erleben der Kinder gibt es viele Ähnlichkeiten“, sagt Todtmann. Doch wie
       sah es mit organisatorischen Strukturen und pädagogischen Konzepten aus?
       
       ## Struktur oder Einzelfall?
       
       Todtmann hat Archive durchforstet, Statistiken, Richtlinien und Protokolle
       gelesen und für den empirischen Teil ihrer Arbeit einen Fragebogen
       erarbeitet, den 140 Personen beantwortet haben. „Ich wollte ein Heim
       beispielhaft untersuchen, um herauszubekommen: Was gab es für persönliche
       Erfahrungen, und was finden wir an Belegen für Gewalterfahrungen?“,
       erklärt sie. „Bei den BRD-Heimen spielt das Thema eine große Rolle. 6.000
       Betroffene berichten mittlerweile [1][von unterschiedlichsten Formen von
       Gewalt]. Und meine Frage war natürlich: Findet man das in der DDR auch in
       diesem Umfang?“
       
       Man findet, aber nicht in diesem Umfang, nicht vom gleichen Zuschnitt.
       
       Todtmann entschied sich für das Kinderkurheim Dahmshöhe – kein anderes Heim
       hatte bei ihrer Umfrage so viele negative Treffer. Es sei zugleich das Heim
       gewesen, über das man in Internetforen am meisten Einträge findet. Zwar gab
       es bei der Auswertung ihrer Umfrage auch einige positive Berichte zu
       Dahmshöhe, aber insgesamt sechs Menschen schildern Erfahrungen dort in
       Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt. Todtmann wollte wissen, „ob es
       begünstigende Faktoren dafür gab“.
       
       Zwei der sechs Betroffenen sind Diana Mehmel, 45, und Katrin L., 49, die
       im Mai gemeinsam mit Todtmann Haus Dahmshöhe besuchen. Kennengelernt haben
       sich die Frauen über die Gruppe der „DDR-Kurkinder“ der Bundesinitiative
       der [2][Verschickungskinder]. Diana Mehmel ist 1983 als Sechsjährige in
       Dahmshöhe zur Kur gewesen, Katrin L. 1984 mit zwölf Jahren. Mehmel wurde
       Zeugin, L. Opfer sexuellen Missbrauchs, beide mutmaßlich durch den
       damaligen Heimleiter.
       
       Das Kinderkurheim Dahmshöhe mag ein Einzelfall sein – Hinweise auf sexuelle
       Übergriffe fand Todtmann für 3 von 155 ermittelten Kinderkurheimen. „Wir
       kennen die Dunkelziffer nicht“, schränkt sie ein. „Aber ich habe keine
       Belege dafür gefunden, dass sexueller Missbrauch in den Kinderkurheimen an
       der Tagesordnung war.“
       
       Dennoch: Könnte die Institution Heim als solche durch ihre geografische
       Abgeschiedenheit, ihre erzieherischen Vorgaben und die fehlende soziale
       Kontrolle durch Eltern oder Schule die ungestörte Ausübung von
       körperlicher, psychischer oder sexualisierter Gewalt begünstigt haben? Wo
       war der Staat, der doch angeblich über alles wachte? An wen können sich
       Betroffene heute wenden? Wer und was hilft ihnen bei der Aufarbeitung und
       Bewältigung des Erlebten?
       
       ## Begegnung mit der Angst
       
       Die drei Frauen haben auf der Terrasse von Haus Dahmshöhe Platz genommen.
       Das ehemalige Kinderkurheim wird inzwischen von der Lebenshilfe als
       Begegnungsstätte für Menschen mit Behinderung betrieben. Die heutige
       Leiterin empfängt freundlich und hält sich im Hintergrund. Diana Mehmel
       sagt: „Ich glaube, wir müssen Schritt für Schritt gehen.“ Das heißt, die
       Innenräume zu besichtigen, Duschräume, Toiletten und Schlafräume ausfindig
       zu machen. Das heißt auch: Erinnerung und Bilder hochrufen, Ängste in den
       Griff kriegen.
       
       Katrin L. ist schon einmal nach Dahmshöhe gereist, vor einem Jahr in
       Begleitung eines Pflegers, damals war sie in stationärer psychiatrischer
       Behandlung. An die Rückfahrt kann sich die 49-Jährige nicht erinnern, so
       heftig war ihre emotionale Reaktion. „Ich habe die Fotogalerie im Haus
       angeschaut. In dem Moment, wo ich den Heimleiter gesehen habe, hat es bei
       mir im Kopf geknallt. Das schemenhafte Bild aus meinen Albträumen passte
       genau darauf. Er ist zwar jünger auf dem Foto, aber seitdem weiß ich, dass
       er es war.“
       
       Dieses Mal verläuft der Besuch besser, L. wächst in der Situation über ihr
       altes Ich hinaus. Obwohl sie zunächst nicht mit ihrem Namen und Gesicht in
       dieser Geschichte auftauchen wollte, lässt sie sich fotografieren und
       beschließt, ihre Geschichte mit ihrem Vornamen zu erzählen.
       
       Die gelernte Kranken- und Altenpflegerin lebt am Stadtrand von Cottbus.
       Ihre Zweizimmerwohnung und den Balkon teilt sie sich mit ihren drei
       Therapiekaninchen. Das dicke weiße bereitet ihr Kummer wegen einer
       möglichen Diabetes. Die Tiere nehmen viel Raum ein, so wie auch L.s Ängste
       und psychische Krisen sich in ihrem Leben breitgemacht haben. Zweimal war
       sie als Kind zur Kur: einmal als Sechsjährige im sächsischen Greiz und mit
       zwölf in Dahmshöhe. Schon nach dem ersten Kuraufenthalt kam sie mit „einer
       Wesensveränderung“ zurück, „danach habe ich zwei Jahre lang nachts
       durchgebrüllt“.
       
       Konkrete Erinnerungen an den ersten Aufenthalt hat sie nicht. Der Verdacht
       auf sexuellen Missbrauch ist auch für Greiz nicht auszuschließen. Sechs
       Jahre später wurde sie erneut zur Kur geschickt, „ich war zu dünn, wirklich
       zu dünn“, erzählt sie, auch, dass sie in der Schule gemobbt wurde. „Ich
       habe mich schon immer gefragt, ob ich anders bin als andere. Ich hatte
       stets Angst vor Menschen. Wenn mir ein Junge zu nah gekommen ist, entstand
       sofort Panik. Aber ich wusste nicht, warum.“
       
       ## Die verwundete Seele
       
       Die Geschehnisse in Dahmshöhe erinnert sie schemenhaft und fragmentiert.
       „Ich sehe, wie eine männliche Gestalt zur Tür hereinkommt. Bei mir bricht
       Panik aus. Dann spüre ich, wie er sich aufs Bett setzt, anfängt mich zu
       begrapschen und mir die Hose auszuziehen – und dann der Rest halt. Ich
       spüre das richtig.“ Und sie erinnert sich an eine Frau, die dabei ihre Arme
       festhält. „Danach herrscht völliger Blackout.“
       
       Nach ihrer Rückkehr war sie still, blieb stumm. Als eine Klassenkameradin,
       die von ihrem Vater sexuell missbraucht worden war, etwas später Suizid
       beging, konnte L. zunächst keinen Zusammenhang zu den eigenen Erfahrungen
       herstellen. Sie erlebte andere „sexuelle Übergriffe“ in der Verwandtschaft,
       in der Öffentlichkeit. „Vielleicht weil ich mich nicht gewehrt habe, weil
       ich Angst vor Menschen hatte.“
       
       L. wirkt zart, scheu, wie ein Mensch mit einer verwundeten Seele, aber
       nicht wie eine, die alles auf sich nimmt. Sie besitzt bissigen Humor und
       hat Abwehrstrategien entwickelt. Nach einem Burnout musste sie jahrelang
       pausieren, ist nur eingeschränkt erwerbsfähig, heute arbeitet sie 12
       Stunden pro Woche im Krankenhaus. Als sie ihrer Mutter von den sexuellen
       Übergriffen erzählte, brauchte es lange, bis diese ihrer Tochter glaubte.
       Und es brauchte Jahre, bis Katrin L. selbst die Zusammenhänge erkannte.
       
       „Ich lag im Krankenhaus, die Diagnose PTBS stand schon. Der Verdacht auf
       sexuellen Missbrauch auch“, erinnert sich L. „Wir wussten aber nicht, wie
       und wo genau es stattgefunden hat. Da habe ich das Thema Kinderkur
       angesprochen und mein Therapeut meinte, ich solle mich mal dahinterklemmen
       und recherchieren, wo ich gewesen bin.“ PTBS steht für Posttraumatisches
       Belastungssyndrom.
       
       Anhand von Ansichtskarten aus der Kur konnte sie das Kinderkurheim
       Dahmshöhe im Internet identifizieren und fand auf der Webseite
       gutefrage.net Kommentare, die ihre bösen Ahnungen bestätigten. In der
       Psychiatrischen Institutsambulanz von Spremberg, wo L. bis heute in
       Behandlung ist, lernt sie das Wort Trauma kennen und auf sich zu beziehen.
       Alles, was damit einhergeht – Flashbacks, Albträume, Intrusionen,
       Dissoziationen – kann sie anschaulich erklären. Intrusionen seien heftiger
       als Albträume, weil sie traumatische Erlebnisse physisch und schmerzvoll
       wieder durchleben lassen. L. nennt es ihr „Kopfkino“. Wenn es zu intensiv
       wird, dann kann es passieren, dass sie „dissoziiert“: eine
       Bewusstseinsspaltung, die das Erlebte vom Körper abtrennt. „Der Körper
       schaltet dann ins Stand-by. Ich kann mich nicht äußern, nicht bewegen,
       bekomme alles wie hinter einem Schleier mit. Eine Dissoziation ist ein
       totaler Kontrollverlust über meinen Körper.“
       
       ## Der mutmaßliche Täter
       
       Katrin L. und Diana Mehmel sind vorsichtig, als sie das Innenleben von Haus
       Dahmshöhe inspizieren. Umbauten erschweren die Rekonstruktion. Wo im Keller
       damals Bürstenmassagen an nackten Kinderkörpern stattfanden, ist heute eine
       Saunalandschaft. Und wo war der Schlafsaal der Mädchen? Und wo die
       Toilette, in der Diana Mehmel ihre Schlafanzughose auswusch, nachdem sie
       „vor Angst eingepinkelt“ hatte?
       
       Dahmshöhe ist nicht der richtige Rahmen, um diese Erlebnisse zu erzählen.
       Der Wohnraum von Diana Mehmel in einem alten Dreiseithof in der
       Oberlausitz, wo sie mit ihrer Familie lebt, ist geschütztes Terrain. Im
       Vorgarten blühen Blumen, das Kind ist in der Schule. Mehmel war sechs,
       gerade eingeschult, als sie nach Dahmshöhe geschickt wurde. „Also ich
       erinnere überhaupt nicht viel von dieser Kur, aber diese eine Nacht weiß
       ich noch genau. Der Leiter kam mitten in der Nacht rein, ich habe schon
       geschlafen. Er setzte sich gegenüber an die Bettkante zu einem Mädchen,
       streichelte ihr den Kopf und sagte immer wieder: ‚Ach, mein blondes
       Fischköppel.‘ “ In der DDR hießen so alle Mädchen, die aus dem Norden
       kamen, erklärt sie.
       
       „Ich habe die Luft angehalten, das weiß ich noch. Ich wollte mich
       unsichtbar machen.“ Mehmel bekommt Herzrasen. „Wenn ich davon erzähle,
       gehen die Bilder wieder los. Wie ich mich heimlich aufs Klo schleiche,
       mitten in der Nacht, mit Riesenherzklopfen, wo ich versuche, meine Kleidung
       auszuwaschen.“ Das Verrückte sei gewesen, dass sie im ersten Moment
       eifersüchtig war. „Ich dachte: Oh, die hat’s gut. Die streichelt er. Danach
       wird’s schwarz, und dann weiß ich noch, dass ich mir mit sechs Jahren in
       die Hose gemacht habe. Ich hatte Todesangst, erwischt zu werden.“
       
       Heimleiter war Alfred Goldmann, Jahrgang 1920. Nach dem Krieg machte er
       eine Lehrerausbildung und arbeitete in diesem Beruf, bevor er 1974 bis 1988
       die Leitung des Kinderkurheims Dahmshöhe übernahm. Er verstarb 2004. Neben
       Katrin L. und Diana Mehmel berichten vier weitere Menschen unabhängig
       voneinander in Todtmanns Umfrage davon, dass Goldmann übergriffig geworden
       sei, indem er in die Duschen ging, wo die Kinder nackt standen oder
       abgebürstet wurden. Er hätte auch Kinder auf den Schoß genommen, was diese
       als Grenzüberschreitung wahrgenommen hätten. „Und keiner konnte sich
       offenbaren, weder dort noch zu Hause“, sagt Todtmann.
       
       ## Suche nach anderen Betroffenen
       
       Haus Dahmshöhe liegt weit ab vom Schuss. Etwa zwei Kilometer sind es ins
       Nachbardorf Altthymen, das ebenso zu Fürstenberg zählt wie das noch
       kleinere Dahmshöhe. Im Haus von Ortsvorsteher Manfred Saborowski riecht es
       nach Holz, weil gerade umgebaut wird. Für eine Jubiläumschronik von
       Dahmshöhe hat er die Stationen des „Waldschlösschens“ nachgezeichnet, das
       ehemalige Gutshaus hat eine wechselhafte Geschichte: jüdische
       Bankiersvilla, Enteignung durch die Nazis, später Schule, Kurheim.
       
       Saborowski findet es falsch, dass „eine Handvoll Menschen Haus Dahmshöhe
       miesmachen“ wollen. „Der eine hat gute Erinnerungen, der andere schlechte“,
       sagt er. „Ich lerne nur Leute kennen, die sich gern an die Zeit im
       Kinderkurheim erinnern. Aber die äußern sich ja nicht laut.“ Eine Frau
       hätte im Internet stattdessen vom „Kinder-KZ“ geschrieben, empört er sich.
       „Dass ein erwachsener Mensch diesen Vergleich zieht, ist völlig
       unangemessen. Wir hatten schließlich das KZ Ravensbrück in der Nähe“, sagt
       Saborowski. Häftlinge des Konzentrationslagers mussten auf dem Gelände von
       Dahmshöhe Baracken für eine SS-Reiterstaffel errichten.
       
       Noch immer steht [3][auf der Ortsseite] von Altthymen, das Kinderkurheim
       habe einen „ausgezeichneten Ruf“ besessen. Diana Mehmel empört das. „Ich
       erwarte ja nicht, dass dort steht, in dem schönen Schloss hätte massenhaft
       sexueller Missbrauch stattgefunden. Aber diesen Satz sollte man löschen.“
       Als Sechsjährige konnte sie nicht richtig erfassen, was sie gesehen hatte.
       Später kamen die Schuldgefühle, dass sie dem betroffenen Mädchen nicht
       geholfen hat.
       
       Mehmel arbeitet heute bei „Trude“, einer Beratungsstelle für Betroffene
       sexuellen Missbrauchs im sächsischen Niesky. Seit zwanzig Jahren ist die
       Diplomheilpädagogin, die eine Ausbildung zur Systemischen Therapeutin und
       Traumapädagogin angeschlossen hat, in dem Bereich tätig. „Meine eigene
       Geschichte war sicher ein Motor, mich um das Thema zu kümmern.“
       
       Wie Katrin L. fragte auch sie vor zwei Jahren bei gutefrage.net: „Bist du
       auch in Dahmshöhe gewesen?“ Und sie nahm Kontakt zu der Autorin [4][Anja
       Röhl] auf, die als Erste über das [5][Schicksal der westdeutschen
       Verschickungskinder] geschrieben hat. Innerhalb weniger Jahre hat sich dank
       ihres Engagements eine bundesweite Initiative gebildet, aus der Dutzende
       Heimort- und Landesgruppen und erste Forschungsprojekte entstanden sind.
       Die [6][Gruppe der DDR-Kurkinder], rund 80 Beteiligte, wird heute von
       Mehmel koordiniert.
       
       Die DDR war kleiner, das Kinderkurwesen zentralisiert und überschaubarer
       als das Verschickungssystem in der BRD. Als die Historikern Julia Todtmann
       das Buch von Anja Röhl las, stellte sie fest, „dass dort die DDR-Kinder
       nicht vorkommen“. Röhl erklärte ihr, dass sie die Strukturen in der DDR
       nicht ausreichend gekannt und deswegen ausgespart habe. Todtmann entschloss
       sich, ihre Masterarbeit zu diesem Thema zu schreiben. Als Kind war auch sie
       kurz vor der Wende zur Kur, jedoch nicht in Dahmshöhe. Ihre Erfahrungen
       seien weniger drastisch als die anderer, sagt sie, „sie lagen eher im
       Bereich der emotionalen Kälte“. 78 Prozent der von ihr befragten Personen
       gaben an, mit ihrem Kuraufenthalt „negative Gefühle“ zu verbinden: Angst,
       Drill, Essenszwang, körperliche und seelische Entblößung.
       
       ## Noch am Anfang der Forschung
       
       Todtmann, 38, sitzt im Wintergarten ihres Hauses in Eichwalde bei Berlin,
       vor ihr der Laptop, auf dem sie ihre Recherchen gesammelt hat. Der Master
       in Public History, einer Fachrichtung, die sich mit Erinnerungskultur
       beschäftigt, wird ihr zweiter akademischer Abschluss; sie unterrichtet
       bereits Geschichte an einem Berliner Gymnasium.
       
       Was war anders bei der sozialistischen Kinderverschickung im Vergleich zur
       BRD? Es gab keine privaten oder konfessionellen Träger, die an den
       Kinderkuren verdienten. Staatliche Zuschüsse zu kirchlichen Einrichtungen
       gab es nur bis 1958; Kostenträger war meist die staatliche
       Sozialversicherung. Der Staat konnte sich als Fürsorger profilieren, der
       der Gesundheit seiner Bürger:innen große Bedeutung zumaß. „Das gute
       Gesundheitssystem galt als Errungenschaft, es begründete die Überlegenheit
       des sozialistischen Systems“, sagt Todtmann.
       
       Dies erklärt auch die große Zahl der prophylaktischen Kuren. Anders als für
       das Verschickungswesen der BRD hat Todtmann im vergleichbaren Zeitraum für
       die DDR „keinen Hinweis auf strukturelle Gewalt im Kinderkurwesen“
       festgestellt. Sie geht davon aus, dass „verschiedene Faktoren
       Gewaltausübung in den Heimen begünstigten, ohne dass sie Teil eines
       pädagogischen oder medizinisch-therapeutischen Maßnahmenplans waren“.
       
       Es gab pädagogische Richtlinien, die „sogar erstaunlich fortschrittlich und
       kindernah“ gewesen seien. Die frühen reformpädagogischen Ansätze wurden
       durch die zunehmende Mangelwirtschaft untergraben. Es fehlte an
       pädagogischem und medizinischem Personal, Ausstattung und Versorgungslage
       waren schlecht. Und auch „die Entindividualisierung als Teil der
       sozialistischen Kollektiverziehung“ vertrug sich nicht mit Ideen, in der
       die Entfaltung des einzelnen Kinds eine Rolle spielt, sagt Todtmann.
       
       Gab es so etwas wie Schwarze Pädagogik in der DDR? Eine Formulierung, die
       in Zusammenhang mit BRD-Kinderkurheimen häufig fällt. „Ich habe den Begriff
       bewusst rausgelassen“, sagt die Historikerin, „er trifft nicht richtig.“
       Sie spricht stattdessen von Machtmissbrauch: „Den hat es eindeutig gegeben.
       Dazu gehören für mich der Disziplingedanke, das Hierarchiegefälle, der
       Essenszwang, der militärische Drill.“
       
       Und wie kam es zu der extremen Form des Machtmissbrauchs in Dahmshöhe?
       Todtmann seufzt. Es gibt so gut wie „keine Archivalien zu Dahmshöhe“. Was
       sich bei jedem Besuch zeigt: Das Haus liegt mitten im Wald, sechs Kilometer
       sind es bis nach Fürstenberg. „Das kommt schon einem geschlossenen sozialen
       System nahe“, sagt Todtmann. Und: Dahmshöhe war eine eher kleine
       Einrichtung, an die 66 Kinder kurten dort zeitgleich. Es gab zu wenig
       Personal, weil der Arbeitsweg weit und die Bezahlung schlecht war. Die
       Angestellten hatten Zwölf-Stunden-Schichten, zweimal zwei Tage pro Woche.
       
       Zudem dürfte auch die Sozialisation in der Kriegs- und Nachkriegszeit dazu
       beigetragen haben, dass manche Angestellte möglicherweise auch mit Gewalt
       disziplinierten oder über das Fehlverhalten ihrer Chefs hinwegsahen,
       überlegt Todtmann. Weil sie im brandenburgischen Landeshauptarchiv kaum
       Unterlagen zum Kinderkurheim gefunden hat, macht sie sich auf den Weg, um
       drei ehemalige Mitarbeiterinnen zu interviewen.
       
       ## Das Kurheim als abgekapselte Welt
       
       Ortsvorsteher Saborowski hat den Kontakt vermittelt. Es ist ein spezieller
       Besuch, denn eine der drei Frauen, Jutta Goldmann, ist die Schwiegertochter
       des ehemaligen Heimleiters. Die gelernte Erzieherin hat vor 1976 und dann
       erst wieder ab 1987 in Dahmshöhe gearbeitet. Als die Lebenshilfe das Haus
       übernahm, wurde sie 1994 Leiterin der Einrichtung. In den fraglichen
       Jahren, als Diana Mehmel und Katrin L. auf Kur waren, arbeitete sie in
       einem Kinderheim auf Rügen.
       
       Die heute 73-Jährige hat Kuchen gebacken und zwei ehemalige Kolleginnen
       dazugeladen, Gerda Cornelius und Margit Jentsch, die von 1968
       beziehungsweise 1973 bis zur Wende in Dahmshöhe gearbeitet haben. Todtmann
       erfragt pädagogische Details, organisatorische Strukturen. Das
       Kinderkurheim wirkt in den Erzählungen der drei Frauen wie eine kleine
       abgekapselte Welt, in der Parteisekretäre, SED-Richtlinien oder
       ministerielle Erlasse eine untergeordnete Rolle spielten.
       
       Goldmann spricht die Vorwürfe gegen ihren Schwiegervater selbst an. Sie
       habe vor ein paar Jahren einen Anruf erhalten, als sie noch dort arbeitete.
       Eine junge Frau, die erschrocken reagierte, als Goldmann sich mit ihrem
       Nachnamen meldete. „Sie war eine von den größeren Mädels, die von meinem
       Schwiegervater häufig, so hat sie es ausgedrückt, bevorzugt behandelt
       wurden.“ So durfte sie mit nach Neustrelitz fahren, Wurst holen, was als
       Privileg galt. „Und weil ich gemerkt habe, dass da irgendwas
       Schwerwiegendes in ihr arbeitet, habe ich nachgehakt: ‚Sagen Sie mir bitte,
       was war.‘ – ‚Nein, nichts. Ich habe da eine Zuwendung erfahren, die mir zu
       Hause gefehlt hat. Keine körperliche Berührung, ich war einfach mal wer.‘ “
       
       Jutta Goldmanns Bereitschaft zum Gespräch zeugt von einer offensiven
       Herangehensweise. Eine Möglichkeit, mit ihrer persönlichen Befangenheit
       umzugehen. In der kurzen Zeit, in der sie bis zur Verrentung ihres
       Schwiegervaters im Kinderkurheim Dahmshöhe gearbeitet habe, sei ihr „nichts
       aufgefallen“, sagt sie. „Selbstverständlich akzeptiere ich alles, was die
       Mädchen damals empfunden haben. Ich stelle nichts davon infrage und möchte
       nichts herunterspielen.“
       
       Sie hat zwei Töchter, die im sozialen Bereich arbeiten. Sie weiß um die
       Sensibilität des Themas. Auf die „Seemannsabende“ angesprochen, die Alfred
       Goldmann mit Akkordeon und Liedersingen für die Kinder veranstaltet haben
       muss, sagen Jentsch und Cornelius: „Wir hatten dann zeitiger Feierabend.“
       Anzeichen dafür, dass einzelne Mädchen verstört gewesen seien, hätten sie
       „auf keinen Fall“ bemerkt.
       
       ## Was bleibt und was kommen muss
       
       Bei Diana Mehmel und Katrin L. hält die tiefe Verstörung bis heute an.
       Möchte L. eine Traumatherapie machen? „Jein“, sagt sie. „Ich hätte gern ein
       Stück meiner Erinnerung zurück, obwohl es vielleicht besser ist, wenn sie
       nicht zurückkommt. Aber letztlich will ich Gewissheit.“ Der Zweifel, der
       stets ein Selbstzweifel ist, weil sich die Tat, die am Anfang stand, nicht
       aufklären lässt, bohrt sich in Betroffene hinein, macht verletzlich. L.
       sagt: „Ich suche andere Mädels aus der Zeit, die auch in Dahmshöhe
       vergewaltigt worden sind. Ich brauche die Bestätigung von anderer Seite.
       Ich brauche das zur Heilung, obwohl, Heilung gibt es ja in dem Sinne nicht.
       Bitte, bitte, meldet euch!“
       
       Anfang Juli stellen Diana Mehmel und Katrin L. mit Unterstützung der
       Opferhilfe Sachsen einen Antrag beim Fonds für sexuellen Missbrauch. Bis zu
       10.000 Euro können in Form von Sachleistungen – besondere Therapien, wie
       zum Beispiel Traumabehandlungen oder Therapiekaninchen – bewilligt werden.
       Der Fonds wird zur Hälfte aus Bundesmitteln und zur anderen Hälfte durch
       beteiligte Organisationen bestritten. Die Lebenshilfe steht rechtlich für
       Dahmshöhe nicht in der Verantwortung. Mehmel hat trotzdem Hoffnungen, dass
       sie sich in der Pflicht zur Unterstützung sieht. „Auf der Hinfahrt haben
       wir ein bisschen Visionen gesponnen“, sagt sie. „Katrin hatte die schöne
       Idee, eine Skulptur oder kleine Gedenktafel am Haus oder im Garten
       aufzustellen, wo Betroffene hinkommen und sagen können: Ich lege mein
       Blümchen hin als Symbol für das, was mir als kleiner Maus passiert ist.“
       
       Hinweis: 
       
       In Kooperation mit dem RBB ist aus der taz-Recherche zum Thema das
       [7][Feature „Kinderkuren in der DDR“] entstanden.
       
       24 Jul 2022
       
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