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       # taz.de -- Klaus Töpfer im Interview: Die Perfektion der Wohlstandslüge
       
       > Wie kriegt man Konservative dazu, ernsthafte Klimapolitik zu machen,
       > Klaus Töpfer?
       
       taz FUTURZWEI: Herr Töpfer, die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann hat den
       Satz gesagt: »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar«. Sagen wir im
       politischen Raum die Wahrheit über das Notwendige beim Klimaschutz? 
       
       KLAUS TÖPFER: Ich verweise auf ein Interview, das Fritz Vorholz 1992, also
       nach der Rio-Konferenz, mit mir für die Zeit gemacht hat. Die Überschrift
       ist: »Ende mit der Wohlstandslüge«. Einige Wahrheiten sind also schon seit
       Längerem bekannt, wurden den Menschen auch zumutbar gemacht. Aber: In der
       Breite der Gesellschaft wurde dies nicht akzeptiert, wurde verdrängt,
       führte nicht zu Maßnahmen. Diese Haltung ist jetzt nur noch schwer zu
       vertreten: Die dramatischen Klimaprobleme sind unübersehbar. 
       
       Man kann auch den gegenteiligen Eindruck haben, dass die Wohlstandslüge
       ausgeprägter ist denn je. Jetzt sind wir in einer Situation, in der sehr
       viel mehr anders werden muss, als es gegenwärtig diskutiert wird. 
       
       Sicherlich stimmt, dass die Lücke zwischen ehrlicher, wissenschaftlich
       basierter Analyse und dem daraus resultierenden notwendigem Handeln
       schneller überbrückt werden muss. Diese Wahrheit ist nicht nur zumutbar,
       die Menschen sind immer mehr bereit, ihre Einstellung zu ändern, sich vor
       den Konsequenzen des Zustands der Natur nicht wegzuducken. Es muss klar,
       deutlich und vor allem zuverlässig informiert werden. Vertrauen in
       Wissenschaft und in politisches Handeln sind unerlässlich. Immer mehr
       Bürgerinnen und Bürger, Wirtschaft und Verbraucher müssen auf diese Reise
       mitgenommen werden, müssen bei der Entwicklung von Handlungskonzepten
       Subjekt und nicht Objekt sein. 
       
       Die Frage ist nur: Was ist der Weg? Es gibt ein Zitat von Volker
       Mosbrugger, Leiter des Senckenberg-Museums: »Den Menschen ging es noch nie
       so gut wie heute und der Erde noch nie so schlecht.« Das beschreibt im
       Grunde genommen unser politisches Problem: Dass auf der positiven Seite
       zivilisatorische und materielle Fortschritte stehen, von denen die Leute
       profitieren. Aber die Voraussetzung für diese Verbesserungen ist
       Zerstörung. Das ist die Situation, deshalb gibt es Fridays for Future.
       Daher stellt sich die Frage, ob jetzt nicht harte Konfrontation mit dieser
       Realität angesagt ist? 
       
       Auch für die härteste Radikalkur gegen die Wohlstandslüge wird in einer
       offenen parlamentarischen Demokratie die Mehrheit überzeugt werden müssen.
       Ich zitiere aus Laudato si’, der Umweltenzyklika des Papstes: »Darum können
       wir stumme Zeugen schwerster Ungerechtigkeiten werden, wenn der Anspruch
       erhoben wird, bedeutende Vorteile zu erzielen, in dem man den Rest der
       Menschheit von heute und morgen die extrem hohen Kosten der
       Umweltzerstörung bezahlen lässt.« Diese ethische Position ist im besten
       Sinne des Wortes eine konservative Aussage. Diese Position mehrheitsfähig
       zu machen, mag auch eine harte Konfrontation beinhalten. Aber diese
       Konfrontation kann den Menschen zugemutet und die daraus folgenden
       Handlungsnotwendigkeiten können durchgesetzt werden. 
       
       Nicht der Konfrontation wegen. Wir haben ja über lange Zeit einen Weg
       zurückgelegt, der in vielerlei Hinsicht verdienstvoll und produktiv war.
       Trotzdem gilt der Mosbrugger‘sche Satz. 
       
       Natürlich sind erfolgreiche umweltpolitische Programme umgesetzt worden.
       Unsere Flüsse weisen eine bessere Wasserqualität auf, die Luftbelastung
       wurde wesentlich verringert, die Kreislaufwirtschaft ist bei der
       Bewältigung der Abfallmengen erfolgreich entwickelt worden. Die negativen
       Folgen des wirtschaftlichen Wachstums der Vergangenheit wurden durch
       Gesetze bekämpft, vermindert oder beseitigt. Es zeigt sich dabei: Zunehmend
       wachsen wir wirtschaftlich nur noch durch die Beseitigung negativer
       Konsequenzen vorangegangenen Wachstums. Wachstum läuft insofern leer. 
       
       Jetzt wird es interessant. 
       
       Das Kriterium der Bewertung von Natur und Umwelt wird vornehmlich mit der
       Nützlichkeit für den Menschen verbunden. So haben wir sicherlich aktuell
       mehr Hühner und Schweine als früher. Gleichzeitig ist jedoch die Vielfalt
       der Arten bei Hühnern und Schweinen rückläufig. Wir verarmen im Reichtum.
       Das Bienenvolksbegehren in Bayern zeigt, dass diese Abnahme von Vielfalt
       Menschen unruhig und nachdenklich macht. Dass die Ursachen, die Vielfalt
       infrage stellen, etwa im Einsatz von Pflanzenschutz, zurückgeführt werden
       müssen. 
       
       Die Mitteilungen der Klimawissenschaft gehen in etwa so: Wir haben jedes
       Jahr dramatischere Befunde auf der empirischen Ebene und eine Verkürzung
       des Handlungszeitraumes. Dann wird aber gleichzeitig gesagt: Noch ist Zeit.
       Dann kommt die ganze Arie mit »Wir können ja unseren Wohlstand behalten und
       trotzdem Klimaschutz machen …«. Ist es nicht höchste Zeit, mit diesem
       magischen Narrativ aufzuhören? 
       
       Eine Post-Wachstumsgesellschaft wird immer intensiver erörtert. Änderungen
       im Verhalten der Menschen machen dieses veränderte Wachstumsnarrativ
       umsetzbar: Die Nachfrage nach vegetarischer und veganer Ernährung steigt
       weit überproportional an. Lassen Sie mich aber hinzufügen: Acht Jahre lang
       habe ich in Afrika, konkret in Nairobi, Kenia gelebt, und das
       Umweltprogramm der Vereinten Nationen geleitet. Eine junge Bevölkerung, ein
       in der Breite der Bevölkerung extrem niedriger Wohlstand: Wirtschaftliche
       Entwicklung ist da zwingend. Diese wirtschaftliche Entwicklung erfordert
       Energie, und die Aufgabe eines technologisch führenden Landes wie
       Deutschland ist es daher, wettbewerbsfähige Energietechniken zu entwickeln,
       die wirtschaftliches Wachstum ohne negative Konsequenzen für Natur und
       Umwelt ermöglichen. Die Solarenergie ist dafür ein wichtiger Beleg. In
       Nairobi wird von vielen Menschen die Post-Wachstumsgesellschaft nicht
       ernsthaft akzeptiert. 
       
       Heißt? 
       
       Gegenwärtig leben knapp acht Milliarden Menschen auf der Erde. Als ich 1938
       geboren wurde, waren es nur 2,6. Das Bevölkerungswachstum ist aber in
       unserer Welt sehr unterschiedlich verteilt. Als ich vor einigen Tagen die
       »Bevölkerungsuhr« befragte, zeigte sie, dass in Deutschland bis dahin an
       diesem Tag etwa 1.500 Kinder geboren wurden, dass in der gleichen Zeit etwa
       1.700 Menschen gestorben sind. In Indien waren im gleichen Zeitraum 75.000
       Kinder geboren, die Sterbefälle lagen deutlich darunter. Wirtschaftliche
       Entwicklung muss eine Antwort auf diese Unterschiede geben können. Dabei
       geht es für mich nicht um die große Transformation. Wichtig sind flexible,
       auch rückholbare Maßnahmen. Da wir Menschen stets bei unvollkommenen
       Informationen entscheiden, müssen nicht beachtete negative Folgen unseres
       Handelns aufgefangen und neu bewertet werden können. Dabei ist der Hinweis
       auf unvollkommene Informationen und Risiko keineswegs ein Alibi für ein
       ständiges Verschieben des Handelns. Das Vorsorgeprinzip, das 1992 in Rio
       gegen den großen Widerstand der USA durchgesetzt wurde, ist
       Handlungsauftrag! 
       
       Die Union ist doch eine Law-and-Order-Partei und hat auch zum Teil eine
       Law-and-Order-Kundschaft. Könnte man das nicht auf das Klimaproblem
       übertragen? Heute wird ja Law and Order zunehmend als etwas Unstatthaftes
       betrachtet. 
       
       Immer wieder weise ich darauf hin, dass in einem Rechtsstaat
       ordnungsrechtliche Festlegungen zwingend geboten sind. Klares
       ordnungspolitisches Handeln ist nicht Law and Order, das ist Rechtsstaat.
       Die in unserem Gespräch bereits genannten Beispiele für umweltpolitisch
       erreichte Verbesserungen von Luft- und Wasserqualität sind durch
       Ordnungsrecht erzielt worden. Ein konkretes Beispiel: In den 80er-Jahren
       des letzten Jahrhunderts waren wir in Deutschland mit einem Waldsterben
       konfrontiert. Die wissenschaftliche Analyse kam zum Ergebnis, dass die
       Schwefeldioxidemissionen, vornehmlich aus Kohlekraftwerken dafür
       verantwortlich waren. Von vielen wurde gefordert, deswegen eine Steuer oder
       eine Abgabe auf SO2 zu legen. 
       
       Diesem Rat sind Sie nicht gefolgt. 
       
       Nein. Es wurde vielmehr eine Großfeuerungsanlagen-Verordnung erarbeitet mit
       einem klaren Grenzwert von 300 Milligramm SO2 pro Kubikmeter. Der Protest
       dagegen war gewaltig in der Wirtschaft, die Wirkung wurde bezweifelt. Das
       Ergebnis: Rauchgasentschwefelungsanlagen wurden entwickelt. Die Emissionen
       von SO2 sanken in kürzester Zeit drastisch. Ein Mehr an SO2 wurde verboten.
       Freiwilligkeit allein oder ein SO2-Preis hätte diese Zielsetzung nicht
       erreicht. Das Ordnungsrecht hatte den Wettbewerb um die kostengünstigsten
       Techniken zur Vermeidung von SO2-Emissionen sichergestellt. Nochmals: Es
       ist rechtsstaatlich geboten. Mein finanzwissenschaftlicher Lehrer an der
       Universität in Münster hat darauf hingewiesen: Wer durch Steuern steuern
       will, wird sein Ziel nicht erreichen. 
       
       Aber heute sitzen die sogenannten Realpolitiker immer da und sagen, wir
       setzen auf Anreize, wir setzen auf die Einsicht und so weiter. 
       
       Anreize sind durchaus ergänzende Maßnahmen, vor allem dann, wenn neue
       Techniken entwickelt und erst später wirtschaftlich erfolgreich werden.
       Wieder ein Beispiel: Das Erneuerbare-Energien-Gesetz hat Anreize für die
       großtechnische Anwendung und die technologische Weiterentwicklung dieser
       Energiegewinnung sinnvoll eingesetzt. Dadurch ist es möglich geworden, dass
       die Kosten für eine Kilowattstunde Solarenergie in vergleichsweise kurzer
       Zeit drastisch gesunken sind: von fünfzig auf fünf Eurocent. Einsicht und
       das Mitdenken und Mithandeln jedes einzelnen Bürgers, so wertvoll und
       hilfreich es ist, kann einen klaren ordnungsrechtlichen Rahmen nur
       ergänzen, nicht aber ersetzen. Eine Privatisierung der Klimapolitik ist
       nicht die zwingend notwendige Antwort auf die dramatische Externalisierung
       der Kosten unseres Wohlstands auf die Natur. Die Externalisierung auf den
       Menschen ist mit der sozialen Marktwirtschaft beantwortet worden. Mit Blick
       auf die Externalisierung, auf die Schöpfung, auf die Natur und Umwelt,
       erfordert die gleiche Konsequenz eine ökologische Marktwirtschaft. 
       
       Was wir echt nicht mehr hören können, ist, wenn irgendein CDU-Politiker,
       Sie nicht, daherkommt und sagt: »Ja, wir sind ja für die Bewahrung der
       Schöpfung!« Das ist so ein entleerter Begriff! 
       
       Dass Begriffe durch inflationären Gebrauch inhaltsleer werden, bedeutet
       nicht, dass sie in ihrem Kern nicht richtig sein können. Um noch einmal
       Laudato si’ zu zitieren. Dort wird festgehalten: Der Schrei der Armen und
       der Schrei der Natur müssen zusammengehört werden. Der Papst fordert eine
       ganzheitliche Ökologie. Frei übersetzt nenne ich dies eine ökologische und
       soziale Marktwirtschaft. Dabei spreche ich bewusst von Schöpfung. Der
       Begriff Umwelt ist sehr anthropozentrisch – hier der Mensch, dort die
       Umwelt, die der Mensch ausbeuten kann. Schöpfung macht klar, dass diese
       Objekt- und Subjektbeziehung zwischen Mensch und Umwelt falsch ist. 
       
       Das beständig wiederholte magische Denken bis weit in die Grünen hinein
       sagt, dass dieses Wohlstandsniveau aufrechtzuerhalten ist, und trotzdem
       kann man die Dritte Welt befreien, den Klimawandel bekämpfen, die große
       Transformation machen. Da ist die Frage: In welcher Weise kann man das in
       eine politische Kommunikation produktiv einbringen zu sagen: »Scheiße, das
       könnt ihr vergessen.« Das geht nicht. 
       
       Es ist leider ein recht verbreitetes Verhalten, die Beantwortung einer
       Frage, die Lösung eines Problems, damit zu umgehen, dass man eben nicht
       »Scheiße, das könnt ihr vergessen!« sagt, sondern: »Das müssen wir noch
       weiter durchdenken, da müssen wir eine Lösung finden.« oder ähnlich. Dieses
       Verhalten kann man sicherlich als repressive Toleran bezeichnen. Die
       Antwort wird verschoben mit dem Ziel, sie eigentlich nicht beantworten zu
       können und wollen. 
       
       Jetzt kommt der Töpfer mit Marcuse um die Ecke! 
       
       Wenn es den Tatbestand trifft, warum nicht? 
       
       Repressive Toleranz bei Marcuse bedeutet: Ich verhalte mich tolerant
       gegenüber falschen Verhältnissen. Ich stelle Einigkeit darüber her, dass
       man etwas nicht skandalisiert und weiter so laufen lässt. Der Begriff ist
       hier auch richtig am Platz, weil ja die konservative Politik in Sachen
       Klima die falschen Verhältnisse die ganze Zeit toleriert und noch weiter
       befördert? 
       
       Dass dies nicht nur bei der von Ihnen genannten konservativen Politik der
       Fall ist, sondern in der Breite unserer Gesellschaft reales Handeln
       kennzeichnet, werden Sie sicherlich bestätigen. Die Konsequenz daraus muss
       doch sein, dass ein konservatives, an einen Wertekanon gebundenes Denken
       diesen Weg nicht geht. Gerade deswegen halte ich es für dringend geboten,
       ein konservatives Narrativ nicht als inhaltsleere Forderung zu zerreden,
       sondern substanziell auszufüllen. In den letzten Jahren und sogar
       Jahrzehnten ist diese Herausforderung nicht aufgegriffen worden. Der
       spezifische, aus den eigenen Werten abgeleitete konservative Ansatz für
       Klima- und Umweltpolitik ist nicht entwickelt worden – eine Lücke, die eben
       nicht durch repressive Toleranz ausgefüllt werden kann. 
       
       Wir haben durch Fridays for Future eine gesellschaftliche Dynamik pro
       Klimapolitik und die Union denkt sich: »Naja, das könnte ja auch wieder
       weggehen und wenn wir uns jetzt zu sehr bewegen, dann machen wir vielleicht
       einen Fehler und dann frisst uns die AfD auf.« Wie schätzen Sie das denn
       ein? 
       
       Zygmunt Bauman, der große Sozialwissenschaftler, hat kurz vor seinem Tod in
       einem Spiegel-Interview gesagt: »Die Macht verlässt die Politik.« Die Macht
       verschiebt sich von der Politik hin zu Finanzmärkten, zu wirtschaftlichen
       Großstrukturen, besonders dabei zu IT-Unternehmen. Gleichzeitig stellt sich
       die Frage, inwieweit der Mensch die Technik beherrscht oder bereits die
       Technik den Menschen. Der Papst nennt dies das »technokratische Paradigma«.
       Wiederum: Dies ist eine tief in konservativem Denken zu verankernde Ethik. 
       
       Die Sozialpsychologie würde immer sagen: Werte folgen der Praxis und nicht
       umgekehrt. Und wir haben ja jetzt gegenwärtig eine realpolitische
       Situation, wo alles das, was wertbezogen ist durch das, was man tut – sei
       es Verhalten zu kriegerischen Konflikten, sei es die Frage der
       Klimapolitik, sei es vieles andere –, maximal weit von den vorgetragenen
       Werten entfernt ist. Die Lücke zwischen dem, was man postuliert und dem,
       was man tut, führt auch zu einer totalen Orientierungslosigkeit, die bis in
       das politische Handeln selbst hineinreicht. Und insofern stimmt ja alles,
       was Sie sagen. Nur: Wo gibt es den Move, dass das ein neuer Konservatismus
       wird? 
       
       Zunächst belastet es mich wenig, wenn dafür nicht oder noch nicht breite
       Mehrheiten konstatiert werden können. Der evangelische Pfarrer und
       Philosoph Martin Schweizer hat treffend formuliert: »Wo kämen wir hin, wenn
       alle sagten, wo kämen wir hin, und keiner ginge, um zu sehen, wo wir
       hinkämen, wenn einer ginge.« Dass ich als 81-Jähriger gerne als Beleg für
       dieses konservative Narrativ zitiert werde, macht man nicht mir zur Freude,
       sondern als Konkretisierung der Lücke, die in meiner Partei entstanden ist.
       Es ist mehr ein Arschtritt für andere als ein Lob für mich. 
       
       Aber wer ist denn in der CDU da außer dem stellvertretenden
       Parteivorsitzenden Andreas Jung? 
       
       Wenn du über einige Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte, die Wohlstandslüge
       nicht als Problem gesehen oder akzeptiert hast, kann es nicht verwundern,
       dass dies Auswirkungen auf die Personalstruktur hat. Diese Lücke
       aufzuarbeiten wird wohl ein längerer Weg sein. Dieses Profil zu gewinnen,
       fällt äußerst schwer, wenn im besonderen Maße dadurch auch wirtschaftliche
       Parameter grundsätzlich hinterfragt werden. Diese Nachdenklichkeit ist
       jetzt aufgebrochen, der Nährboden für dieses konservative Narrativ ist
       fruchtbarer geworden, als er es bisher gewesen ist. Was sagt doch der
       Volksmund: »Die beste Zeit, einen Baum zu pflanzen, war vor dreißig Jahren.
       Die zweitbeste ist jetzt.« 
       
       Nun haben wir diese Situation mit einer großen Diskrepanz zwischen Werten
       und Handeln, eine Entleerung des Konservatismus in sozial-ökologischer
       Hinsicht. Jetzt haben wir aber auch Fridays for Future. Jugendbewegungen
       können ziemliche Dynamiken entfalten, insbesondere dann, wenn der
       Widerspruch zwischen den herrschenden Gruppen und den nachrückenden jungen
       Gruppen zu groß wird. Jetzt könnte es doch eine Möglichkeit geben, dass der
       Druck, der von unten kommt, so groß wird, dass plötzlich eine Position wie
       Ihre von einer konservativen, vielleicht sogar jüngeren Person aufgegriffen
       wird. Denkbar oder nicht? 
       
       Ich halte das nicht nur für denkbar, ich halte das auch für realisierbar
       und umsetzbar mit klarer politischer Strategie. Ich konkretisiere das: Die
       soziale Marktwirtschaft muss zu einer ökologisch, sozialen Marktwirtschaft
       weiterentwickelt werden, nicht als schöne Floskel, sondern mit Substanz und
       klarem Wertebezug. Das ist machbar. Was wir dafür dringend brauchen, ist
       wie gesagt ein konservatives Narrativ. Bei einer Partei mit dem »C« im
       Namen ist dies mit dem Bezug auf den christlichen Wertekanon ebenso
       möglich, wie es das bei der Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft war.
       In einer solchen Partei kannst du nicht Politik machen, ohne dass du
       dieses, was ich jetzt doch Schöpfung nenne, zum Kern deiner Politik machst. 
       
       Aber wir haben es mit einem Paradoxon zu tun, dass ökologisch das
       Konservative das Progressive ist. Das verwirrt sowohl die Progressiven als
       auch die Konservativen. 
       
       Ich sehe darin keineswegs ein Paradoxon, aber auch kein
       Alleinstellungsmerkmal. Ich bin nicht der Meinung, dass es hilfreich ist,
       darauf hinzuweisen, dass Politik die Kunst des Möglichen ist. 
       
       Das hat Angela Merkel zur Verteidigung des sogenannten Klimapakets der
       Bundesregierung gesagt. 
       
       Politik ist für mich die Kunst, das Notwendige möglich zu machen. 
       
       Die 1969er Willy-Brandt-Regierung hat mit einer knappen Mehrheit eine große
       Veränderung gemacht. Sind wir jetzt auch an einem Punkt, wo wir auf eine
       knappe Mehrheit zielen müssen von 51 Prozent oder 52, um zu sagen: Wir
       machen das jetzt und dann gibt es einen richtigen Clash mit den anderen?
       Kann man das, muss man das der Gesellschaft zumuten, und wo bleibt die CDU
       dann? 
       
       Im Zweifel werden Mehrheiten nur noch zustande kommen, wenn vorher nie
       gesehene Koalitionen gedacht und umgesetzt werden. Die 68er-Revolution hat
       bewirkt, dass aus einer Bewegung eine neue Partei entstanden ist. Eine
       Bewegung muss sich politisch aktivieren. Das ist Grundbedingung für eine
       parlamentarische Demokratie. Eine Bewegung ist nicht verantwortlich. Aber
       ich möchte alles daransetzen, dass demokratische Verantwortung übernommen
       wird. Dafür, was entschieden wird. Also: Macht doch Politik! Da werden Sie
       möglicherweise bei meiner Partei auch nicht nur freudig begrüßt werden. 
       
       Bis sich eine Bewegung zu einer politikfähigen Partei entwickelt, kann es
       dauern. 
       
       Wie erreiche ich es, dass die Zeitachse mit der Notwendigkeit im Einklang
       steht? Die großen Protestierer von früher sind heute sehr aktive Politiker.
       Wenn ich den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg sehe, komme ich
       nicht auf die Idee, dass er ein Revolutionär geblieben wäre. 
       
       Nochmal zu der Kernfrage: Sowohl die CDU als auch die Sozialdemokratie und
       die gesellschaftsliberalen Kräfte haben alle auf der Grundlage von fossilem
       Industrialismus ihre Interessen vorangetrieben. Wie ändert man das? 
       
       Die ökologische und soziale Marktwirtschaft ist kein abgeschlossenes
       Kapitel. Das muss immer wieder neu erfunden und weiterentwickelt werden,
       sowohl der Sozialstaat als auch der ökologische Staat. Zu glauben, jetzt
       habe man die richtige Lösung gefunden, jetzt bräuchte man nicht mehr zu
       denken, ist ein großer Fehler. Da wird beim Ökologischen genauso sein. Man
       muss es in eine permanente Veränderungsdynamik einbringen. 
       
       Welche fünf ordnungspolitischen Maßnahmen würden Sie zügig umsetzen? 
       
       Bei der Frage höre ich schon alle rufen: »Gesetze! Um Gottes willen!« 
       
       Also? 
       
       Also: Wir müssen gesetzlich festlegen, wie hoch der CO2-Ausstoß im Auto
       sein darf und diesen Grenzwert dynamisch nach unten entwickeln, verlässlich
       und damit für alle planbar. Das ist für die Mobilität zentral. Ob diese
       Werte besser mit Elektromobilität oder mit synthetischen Kraftstoffen oder
       mit Wasserstoff zu erreichen sind, ist der technischen Dynamik zu
       übergeben. Dabei vergisst man allzu häufig, dass für den Klimaschutz dann
       auch hinreichend Strom aus erneuerbaren Energien verfügbar sein muss. EnBW
       baut in Mecklenburg-Vorpommern den größten Solarpark. Über 450.000 Panels
       erzeugen dann Solarenergie. Das finde ich mal eine positive Nachricht, dass
       wir das bei uns jetzt ernst nehmen, ohne jede öffentliche Förderung, nur
       mit Beibehaltung der Priorität auf Erneuerbare. Das ist doch schon mal ein
       Wort. Das Gegenbeispiel: Die unglaubliche Krise der Windenergie! 
       
       Was noch? 
       
       Wir zahlen achtzig Milliarden Euro Energiesteuer in völliger
       Klimablindheit. Eher ist das Gegenteil der Fall. Wir haben die
       Mehrwertsteuer angeblich unter sozialen Gesichtspunkten gesplittet – in
       vielen Fällen fraglich genug. Unter ökologischen Gesichtspunkten? Null! Das
       muss sich ändern. 
       
       Nummer drei? 
       
       Der gesamte Wärmebereich kann durch Ordnungsrecht klimaneutral gestaltet
       werden. Im Klimapaket der GroKo sind dafür Beispiele zu finden, die aber
       kaum erörtert werden und denen eher zu wenig Beachtung geschenkt wird.
       Gerade in diesem Bereich müssen Anreize insbesondere die sozialen
       Konsequenzen abfedern. 
       
       Nummer vier? 
       
       Nochmals zurück zu den erneuerbaren Energien: Die EEG-Umlage wird nur von
       den Stromkunden gezahlt, wobei die Großverbraucher noch weitgehend
       ausgenommen sind. Die sauberste Energie, regenerativer Strom, wird damit am
       höchsten besteuert. Eine grundlegende, rechtlich basierte Änderung muss
       sicherstellen, dass die Refinanzierung der Forschungs- und
       Entwicklungskosten der erneuerbaren Energien auch im Verkehrs- und
       Wärmebereich getragen werden. 
       
       Nummer fünf? 
       
       Die Klimakatastrophe ist eine globale Katastrophe. Wir müssen uns darüber
       im Klaren sein, dass wir dafür Verantwortung tragen – auch für eine
       klimaneutrale Energieversorgung etwa in Afrika. Dabei ist Entwicklung und
       Klimaneutralität gemeinsam zu verfolgen. Die Produktion von Solarpaneln,
       die Gründung von mittelständischen Handwerksbetrieben zur Installation und
       Wartung, müssen vor Ort erfolgen. Bemühungen unserer
       Entwicklungszusammenarbeit, die zweifellos beachtlich sind, müssen weiter
       verstärkt und rechtlich abgesichert werden. 
       
       Interview: [1][Peter Unfried] und [2][Harald Welzer]
       
       30 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Peter-Unfried/!a75/
   DIR [2] /Harald-Welzer/!a33750/
       
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