URI: 
       # taz.de -- Klimapolitik und Ökonomie: Das Wachstumsparadox
       
       > Die Umwelt retten bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum – geht das? Über
       > den Optimismus und die Nutzlosigkeit zweier Studien.
       
   IMG Bild: Lassen sich ökonomisches Wachstum und Rücksicht auf die Umwelt wirklich verbinden?
       
       Quizfrage: Was war die größte Umweltschutzmaßnahme, die die Welt bisher
       erlebt hat? Die zynische Antwort lautet: die beiden Weltkriege. Sie haben
       Chaos und Inflationen hinterlassen – und damit sehr effektiv verhindert,
       dass die europäische Wirtschaft zwischen 1914 und 1950 nennenswert wachsen
       konnte. Erst als politische Ruhe einkehrte, holten die Europäer auf und
       näherten sich dem Lebensstandard der US-Amerikaner an.
       
       Man stelle sich einmal vor, die beiden Weltkriege hätte es nicht gegeben:
       Dann wären auch in Deutschland oder Frankreich schon in den 1930er Jahren
       massenhaft Autos über die Straßen gerollt. In den USA gab es 1928 bereits
       204 Pkws auf 1.000 Einwohner – diesen Wert erreichte die Bundesrepublik
       erst Mitte der 1960er.
       
       Ohne die Weltkriege wären wir vielleicht schon 1990 mit jenen Problemen
       konfrontiert worden, die uns jetzt besorgen: tauende Permafrostböden,
       [1][schmelzende Polarkappen] und ein geschwächter Jet-Stream, der die
       Sommer entweder zu kalt und nass oder aber zu heiß und trocken werden
       lässt. So schrecklich die Weltkriege waren: Uns Nachgeborenen haben sie
       Zeit gekauft.
       
       Allerdings waren die Weltkriege keineswegs die einzigen Ereignisse, die
       unfreiwillig zum Umweltschutz führten. Paradoxerweise war auch die Zunft
       der neoliberalen VWL-Professoren durchaus hilfreich, um Natur und Klima zu
       schonen. Mainstream-Ökonomen glauben zwar, sie wüssten am besten, wie „der
       Markt“ funktioniert. Faktisch haben sie jedoch alles getan, um die
       Wirtschaft abzuwürgen. Die Reallöhne wurden mutwillig gedrückt und der
       Staat zur „Schwarzen Null“ gezwungen. Seither ist die private und
       öffentliche Nachfrage so schwach, dass sich Investitionen kaum lohnen und
       das Wachstum kriecht.
       
       ## Wachstum ist gewollt
       
       Besonders umweltfreundlich war es übrigens, die Finanzmärkte zu fördern.
       Plötzlich war Wachstum tatsächlich „entkoppelt“ und brauchte gar keine
       Ressourcen mehr. Durch die spekulativen Geschäfte in den virtuellen
       Börsenwelten entstanden fiktive Gewinne – während die Realwirtschaft kaum
       noch zulegen konnte.
       
       In Deutschland wuchs die Wirtschaftsleistung in den vergangenen zwanzig
       Jahren im Durchschnitt nur etwas mehr als 1 Prozent. Ohne die Fehler der
       Neoliberalen wäre wahrscheinlich ein Plus von 3 Prozent im Jahr möglich
       gewesen. So pervers es ist: Kriege und falsche Theorien haben bisher am
       meisten dazu beigetragen, die Umwelt zu schonen. Dass dies kein
       Zukunftsmodell sein kann, versteht sich von selbst.
       
       Aber wie soll die Umwelt dann geschützt werden? Eine Antwort ist nicht
       leicht, denn die Geschichte hält noch eine Lektion parat: Der Kapitalismus
       ist enorm widerstandsfähig. Der neoliberale Glaube an den „Markt“ hätte den
       Markt zwar fast ruiniert. Trotzdem, und das ist die eigentliche Nachricht,
       ist es noch nicht einmal den Spekulanten gelungen, das Wachstum völlig zu
       zerstören.
       
       Zudem ist Wachstum gewollt. Von der CSU bis zu den Linken bekennt sich
       jeder zum permanenten Aufschwung, weil die gesamte Wohlfahrt daran hängt.
       Ob Rentensysteme, Arbeitsplätze oder Steueraufkommen: Sie alle entwickeln
       sich nur störungsfrei, wenn die Wirtschaft wächst.
       
       ## Lösungsvorschläge durch Studien
       
       Also scheint nur die Flucht nach vorn zu bleiben: Inzwischen befassen sich
       diverse Forschungsinstitute mit der Frage, wie sich Klimaschutz und
       Wachstum verbinden lassen. Allein in den vergangenen zwei Wochen wurden
       zwei dicke Studien publiziert – [2][vom Umweltbundesamt] und vom
       [3][Forschungszentrum Jülich]. Um die Ergebnisse etwas summarisch
       zusammenzufassen: Windkraft, Photovoltaik und Wasserstoff heißen dort die
       Lösungen.
       
       Beide Studien gehen davon aus, dass die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2050 um
       95 Prozent sinken müssen. Zugleich soll es aber weiterhin
       Wirtschaftswachstum geben: Jülich nimmt ein Plus von jährlich 1,2 Prozent
       an, während das Umweltbundesamt mit verschiedenen Szenarien rechnet.
       
       Was niemanden überraschen dürfte: Auch ein ökologisches Deutschland würde
       nie autark sein. Wir sind nicht in der Lage, genug Energie und
       Nahrungsmittel für derzeit 83 Millionen Bürger herzustellen. Alle Szenarien
       gehen davon aus, dass wir auch im Jahr 2050 mindestens 50 Prozent der
       Energie importieren müssen – dann aber hoffentlich in Form von Wasserstoff,
       der ökologisch unbedenklich in sonnen- oder windreichen Gegenden erzeugt
       wird.
       
       Riesige Windfarmen könnten in Kanada, Chile, Island, Argentinien und China
       entstehen, Photovoltaik-Großanlagen in Marokko, Peru, Chile, Algerien und
       Saudi-Arabien errichtet werden. Bisher fehlt diese Infrastruktur zwar
       komplett, aber wir reden ja vom Jahr 2050.
       
       Doch Importe allein würden nicht reichen. Gleichzeitig müsste sich die
       Ausbeute der deutschen Windkraft und Photovoltaik etwa vervierfachen. Es
       wäre noch nicht einmal besonders teuer, Verkehr, Wohnungen und Industrie
       auf Ökostrom umzustellen. Wie Jülich vorrechnet, würden die gesamten
       Mehrkosten bis 2050 nur 1.850 Milliarden Euro betragen. Dies klingt zwar
       nach viel Geld, wären aber ganze 2,8 Prozent der Wirtschaftsleistung, was
       mühelos zu stemmen wäre.
       
       ## Ein großer Denkfehler
       
       Der ökologische Umbau wäre also möglich, kommt aber in der Praxis kaum
       voran. Wo liegt der Denkfehler? Er verbirgt sich in einem Satz, der sich
       sinngemäß in beiden Studien findet. Um Jülich zu zitieren: „Nicht
       berücksichtigt sind volkswirtschaftliche Effekte, wie beispielsweise
       Wertschöpfung oder mögliche Beschäftigungseffekte. Hierfür bedarf es einer
       volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die im Rahmen dieser Analyse nicht
       durchgeführt wurde.“
       
       Aus dem Forscherdeutsch übersetzt, bedeutet das: Jülich und das
       Umweltbundesamt nehmen zwar Wachstum an – sagen aber nicht, wie es
       entstehen soll. Denn Wachstum ist, wenn die „Wertschöpfung“ zunimmt. Genau
       über diese Wertschöpfung wollen sich die Forscher aber keine Gedanken
       machen. Bei ihnen fällt das Wachstum direkt vom Himmel. In der Kirche heißt
       dieser Ansatz: jungfräuliche Geburt. Wie Jesus in Marias Bauch kam, will
       man dort lieber nicht erörtern. Den Heiland soll es einfach geben. Ähnlich
       ist es bei den Umweltforschern, wenn sie das Wachstum begründungslos
       postulieren.
       
       Anders ausgedrückt: In den Studien aus Jülich und vom Umweltbundesamt
       fehlen die ökonomischen Rückkopplungseffekte. Den Forschern entgeht, dass
       ihre Vorschläge [4][genau jenes Wachstum] abwürgen würden, das sie so
       gedankenfrei voraussetzen.
       
       Beispiel Verkehr: In den Studien ist unstrittig, dass es keine Lösung ist,
       weiterhin auf das Auto zu setzen. Die Öko-Energie würde schlicht nicht
       ausreichen, um alle Pkws mit einem Elektromotor oder einer Brennstoffzelle
       auszurüsten. Die meisten Bürger müssten also Bus oder Bahn fahren, wenn
       Deutschland bis 2050 fast keine Treibhausgase mehr emittieren will.
       
       Momentan arbeiten aber Millionen Deutsche direkt oder indirekt in der
       Autoindustrie. Womit sollen sie künftig ihr Geld verdienen? Wenn der
       öffentliche Nahverkehr ausgebaut wird, könnten einige die Bahnen und Busse
       bauen, andere als Lokführer und Busfahrer anheuern – aber eben nicht alle.
       
       Ähnlich ist es in der Bauindustrie: Die Studien beschreiben völlig richtig,
       dass der Flächenfraß gestoppt werden muss. Doch bleibt die Frage
       ausgespart, wovon die Beschäftigten beim Bau künftig leben sollen. Es
       dürfte nicht alle mit Arbeit versorgen, Fassaden zu dämmen oder Windräder
       aufzustellen.
       
       ## Müsste man die Autokonzerne retten?
       
       Der ökologische Umstieg würde jedoch nicht nur Arbeitsplätze kosten; auch
       die kapitalistische Geldlogik würde Probleme schaffen. Noch einmal das
       Beispiel Verkehr: In die Autofabriken wurden Milliarden Euro investiert, um
       sie auf dem neuesten technischen Stand zu halten. Dieses Kapital müsste
       weitgehend abgeschrieben werden, wenn man auf die Bahn umstellt. Die
       Autofirmen würden in die Pleite rutschen, was Banken und weitere Branchen
       mitreißen würde. Würde man die Autokonzerne also retten? Und wenn ja, wie?
       
       Es mag verständlich sein, dass die Forscher in Jülich und im
       Umweltbundesamt diese komplexen Fragen lieber umgehen wollten. Nur leider
       sind ihre Studien dann weitgehend wertlos. Zur Erinnerung: Jülich hat
       präzise ausgerechnet, dass der ökologische Umstieg nur 2,8 Prozent der
       Wirtschaftsleistung kosten würde. Das klingt zwar hypergenau, ist aber
       Unsinn. Denn es wurde gar nicht untersucht, wie sich die
       Wirtschaftsleistung entwickeln würde, wenn man auf eine ökologische
       Ökonomie umstellt. So verschwand aus dem Blick, dass die Wirtschaft
       wahrscheinlich gar nicht wachsen, sondern schrumpfen würde.
       
       Leider ist es nicht folgenlos, dass die Wissenschaftler nutzlose und
       überoptimistische Studien verfassen. Denn die Politik kann nicht sinnvoll
       handeln, solange belastbare Transformationsmodelle fehlen. Also schreiten
       Wachstum und Umweltzerstörung unvermindert voran. Wertvolle Zeit verrinnt,
       während permanent Treibhausgase entweichen und unser Leben bedrohen.
       
       Das Ergebnis ist ein erstaunliches Paradox: Die Neoliberalen wollten das
       Wachstum stets ankurbeln, haben es aber durch ihre falschen Theorien
       unfreiwillig abgewürgt. Umgekehrt wollen die Umweltforscher die Wirtschaft
       zähmen und ökologisch umbauen, präsentieren aber nur Scheinlösungen – und
       sorgen ungewollt dafür, dass sich das Wachstum fortsetzt und die Umwelt
       weiter ruiniert.
       
       25 Nov 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /UNO-schlaegt-erneut-Klima-Alarm/!5581570
   DIR [2] https://www.umweltbundesamt.de/rescue/kurzfassung
   DIR [3] https://juser.fz-juelich.de/record/866735
   DIR [4] /Oekonom-Ulrich-Schmidt-ueber-Konsum/!5635224
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Herrmann
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Energiewende
   DIR Wirtschaftswachstum
   DIR Erderwärmung
   DIR Lesestück Meinung und Analyse
   DIR Lichtblick der Woche
   DIR Besetzung
   DIR Windkraft
   DIR Lebensstil
   DIR Audi
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Extinction Rebellion
   DIR Erneuerbare Energien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Klimaziele von Kanada: Nulldiät jetzt auch für Kanada
       
       Die kanadische Regierung präsentiert ihr Land gern als das amerikanische
       Skandinavien. Tatsächlich ist es ein ziemlich dreckiger Umweltengel.
       
   DIR Acker-Besetzung in Hessen: Wo Protest wächst
       
       Seit über einem Jahr halten in Hessen Aktivisten einen Acker besetzt. Sie
       wollen ein Logistikzentrum verhindern – den Investor haben sie vergrault.
       
   DIR Streit um die Windkraft: Panorama mit Windrad
       
       Windräder werden sich auch im Südschwarzwald drehen. Sie verändern damit
       eine Landschaft, die noch nie natürlich war.
       
   DIR Ökonom über „ökologische Vandalen“: Paech geißelt Lebensstil
       
       Viele Bürger täuschen sich über die Folgen ihres umweltschädlichen
       Lebensstils, sagt der Ökonom Niko Paech. Er fordert ein radikales
       Umsteuern.
       
   DIR Stellenstreichungen bei Audi: Fürchtet euch nicht!
       
       Die Aufgeregtheit um die Stellenstreichung bei Audi ist etwas übertrieben.
       Sie zeigt aber, dass es der deutschen Industrie nicht besonders gut geht.
       
   DIR UNO-Bericht zum Klimaschutz: Vom Klima reden, Kohle schürfen
       
       Viele Staaten wollen das Klima retten. Doch ein neuer UN-Bericht zeigt:
       Ihre Pläne für mehr Kohle, Öl und Gas torpedieren alle Bemühungen.
       
   DIR Demokratie im Wandel: Zehn Jahre sind übermorgen
       
       Übergang vom Alten zum Neuen: Ob Volksparteien oder Green New Deal – wie
       retten wir Strukturen und Institutionen der Gegenwart in die Zukunft?
       
   DIR Energieverbrauch in Deutschland: Immer effizientere Nutzung
       
       Deutschland hat 2018 mehr Energie gespart. Ein Grund ist das Aus alter
       Kohlewerke und AKWs. Private Haushalte trüben jedoch die positive Bilanz.