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       # taz.de -- Klimapolitik und Schutz von Indigenen: Windkraft versus Menschenrechte
       
       > Indigene sollten beim Kampf gegen die Erderhitzung einbezogen werden.
       > Doch was passiert? Durch den Bau von Windparks verlieren sie ihre
       > Lebensgrundlagen.
       
   IMG Bild: Windräder schön und gut – aber die Energiewende darf nicht auf Kosten indigener Gruppen gehen
       
       Der Übergang zu Erneuerbaren Energien hat sich als zentraler Beitrag zur
       Begrenzung der Erderhitzung erwiesen – einer komplexen Krise in
       vielfältigen Formen und Dimensionen, die sich nicht nur auf den Alltag der
       Menschen auswirkt, sondern alles Leben auf unserem Planeten gefährdet. Der
       Wechsel zu nachhaltiger Energiegewinnung ist Teil der Lösung, wenn wir den
       Klimawandel stoppen wollen.
       
       Auf dem Weg dahin sind indigene Bevölkerungsgruppen und ethnische
       Minderheiten wichtige Beteiligte, die nicht übersehen werden dürfen. Die
       [1][Weltbank] weist darauf hin, dass die traditionellen indigenen Gebiete,
       die nur gut 20 Prozent der Erdfläche ausmachen, 80 Prozent der verbliebenen
       Biodiversität unseres Planeten halten.
       
       Außerdem verfügen sie über ein in Jahrtausenden gewachsenes Wissen darüber,
       wie sie den durch den Klimawandel erzeugten Gefahren begegnen müssen, wie
       sie sie verringern oder sich an sie anpassen können. Obwohl diese Gruppen
       also bei der Verteidigung unseres Planeten in vorderster Linie stehen,
       wurden sie in der Regel von der öffentlichen Debatte über Lösungen
       ausgeschlossen. Man hat sie stattdessen verfolgt, bedroht und attackiert.
       
       Indigene Gruppen und Ethnien werden [2][insbesondere in Lateinamerika
       diskriminiert] und sind strukturellem Rassismus ausgesetzt. Armut und
       Ausgrenzung treffen sie ebenso hart wie soziale Ungerechtigkeit. Nach
       Informationen der Weltbank machen indigene Gruppen nur 6 Prozent der
       Weltbevölkerung aus, aber 15 Prozent der Menschen, die in extremer Armut
       leben.
       
       Ihre Lebenserwartung liegt um 20 Jahre niedriger als die der
       nicht-indigenen Bevölkerung, und ihr Zugang zur Justiz und anderen
       Entscheidungsträgern ist sehr erschwert. Diese Nachteile machen es für sie
       mühsam, die negativen Auswirkungen des Klimawandels abzuwehren. Sie sind
       ihnen deshalb stärker ausgesetzt.
       
       ## Deutlich geringere Lebenserwartung
       
       Wir konnten diese Trends selbst in der agrarischen und indigenen
       zapotekischen Gemeinschaft in der Gemeinde Unión Hidalgo mit 15.000
       Einwohner*innen am Isthmus von Tehuantepec im Süden Mexikos beobachten.
       Der Isthmus ist der wichtigste Standort für die Windenergiegewinnung in
       ganz Mexiko. Dutzende großer Windenergiefarmen sind bereits aktiv vor Ort.
       In Unión Hidalgo ist ein Windpark namens „[3][Piedra Larga]“ errichtet
       worden, seine 114 Windturbinen ragen in kaum 500 Meter Abstand von der
       Gemeinde in den Himmel.
       
       Die Windparks werden als Beitrag zur Energietransformation und als
       ökonomische Alternative vorgestellt, um die Armut in der Region zu beenden.
       Tatsächlich wurden sie aber auf sehr fruchtbaren Böden errichtet, was das
       auf Landwirtschaft und Viehzucht basierende Entwicklungsmodell der
       zapotekischen Gemeinden zerstörte. Die Windkraftbetreiber behaupten, dass
       nur 2 Prozent der Gesamtfläche für die Stromgewinnung benötigt werden und
       die übrigen Flächen anderweitig genutzt werden können.
       
       In Wirklichkeit werden beim Bau dieser Anlagen große Gebiete eingezäunt und
       bewacht. Zutritt ist nicht mehr erlaubt. Die Windparks verletzten die
       Menschenrechte der indigenen Bevölkerung, darunter ihr Recht auf
       Selbstbestimmung. Ebenso wenig wurde beachtet, dass indigene Gemeinschaften
       laut mexikanischem Recht solchen Vorhaben auf ihrem Land vorab, ungehindert
       und auf der Grundlage vollständiger Informationen auch über die
       Umweltfolgen zustimmen müssen.
       
       In [4][Unión Hidalgo] haben sich elf Jahre nach dem Bau des ersten
       Windparks die Versprechen wirtschaftlicher Entwicklung nicht erfüllt.
       Vielmehr hat sich ein Gefühl der Unsicherheit und der Gewalt entwickelt.
       Offizielle Daten zeigen, dass 57,6 Prozent der Bevölkerung weiterhin in
       Armut leben, 35,1 Prozent haben in ihren Häusern keinen Zugang zu
       grundlegender öffentlicher Versorgung, 37,1 Prozent leben in
       Ernährungsunsicherheit und 21,4 Prozent haben keinen Zugang zur
       Gesundheitsversorgung.
       
       Außerdem hat sich die Gewalt innerhalb der indigenen Bevölkerung
       verschärft, weil Leute mit einem Interesse am Zustandekommen der Projekte
       die Gemeinden gespalten und deren sozialen Zusammenhalt zerstört haben.
       Vertreter der Windkraftbetreiber locken mit Stipendien, Jobs oder
       Aufträgen, wenn sie ihre Anlagen bauen wollen. Die Unternehmen machen
       solche Versprechungen in der bewussten Absicht, bestimmte Gruppen in der
       Region des Isthmus gegeneinander auszuspielen.
       
       ## Leere Versprechungen
       
       Dabei zeigen die bisherigen Erfahrungen, dass die Unternehmen ihre Zusagen
       nicht einhalten, wenn sie die Baugenehmigung erhalten haben. Nachdem die
       Kommune Unión Hidalgo 2015 erfahren hatte, dass ein neuer Windpark auf
       ihrem Territorium errichtet werden sollte, suchte sie die Unterstützung von
       [5][ProDesc], um den Bau dieses Projekts zu verhindern.
       
       Nach monatelangen Recherchen wurde bekannt, dass hinter dem geplanten
       Windpark eine mexikanische Tochtergesellschaft von Électricité de France
       (EDF) stand, dem französischen Staatsunternehmen und einem der weltweit
       größten Energieproduzenten. Dieser große Windpark namens „Gunaa Sicarú“
       hätte sich über eine Fläche von mehr als 47 Quadratkilometern erstreckt.
       
       Es wäre das größte Windprojekt in Lateinamerika gewesen und hätte den Ort
       vollständig mit Windturbinen umgeben. Das Unternehmen informierte die
       Gemeinde jedoch nicht über alle Einzelheiten und den Umfang des Projekts,
       geschweige denn über dessen ökologische und soziale Auswirkungen.
       
       Was danach folgte, war ein holpriger, aber auch bislang nie erprobter
       Ansatz zur Verteidigung der Menschenrechte, bei dem jedes vor mexikanischen
       und transnationalen Gerichten verfügbare Rechtsmittel eingesetzt wurde, um
       das Land und Territorium von Unión Hidalgo zu verteidigen. Die Kommune,
       unterstützt von ProDesc, griff auch auf außergerichtliche Maßnahmen zurück,
       wie sie die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen vorsehen.
       
       2021 reichte Unión Hidalgo mit Unterstützung von ProDesc und [6][der
       deutschen Nichtregierungsorganisation ECCHR] als erste Gemeinschaft auf dem
       amerikanischen Kontinent eine Klage in Frankreich ein, die [7][das
       innovative französische Gesetz zur Sorgfaltspflicht von Unternehmen]
       einsetzte.
       
       Nach 5 Jahren Rechtsstreit, in denen der Bau des Windparks erfolgreich
       verhindert wurde, befand die mexikanische Bundeskommission für
       Elektrizität, dass das Gunaa-Sicarú-Projekt technisch nicht realisierbar
       sei. Dies ist der erste Sieg für eine Kommune in einem Land, in dem
       Straflosigkeit die Regel ist, wenn multinationale Unternehmen und Konzerne
       an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind.
       
       Dieser Erfolg zeigt uns, worüber beim Thema Energiewende noch nachgedacht
       werden muss: Die bestehenden freiwilligen Mechanismen, Unternehmen für
       Verletzungen von Menschenrechten verantwortlich zu machen, sind
       unzureichend. Die wenigen bestehenden gerichtlichen Mechanismen weisen noch
       große Lücken auf: Wer sind die geeigneten Richter für solche Fälle, wer
       sollte die Beweislast tragen, wie sollte ein angemessener Umgang von
       Unternehmen mit Kommunen aussehen.
       
       ## Menschenrechte statt Profite
       
       Und wie lässt sich das enorme Machtgefälle zwischen multinationalen
       Unternehmen und sich verteidigenden Kommunen ausgleichen? Dies sind einige
       der Schlüsselfragen, die vollständig beantwortet werden müssen, um den
       indigenen Gemeinschaften im Globalen Süden Sicherheit zu geben.
       
       Aktuell diskutiert die Europäische Union eine „[8][Richtlinie zur
       Due-Diligence-Prüfung der Nachhaltigkeit von Unternehmen]“. Ich möchte die
       europäischen Mitbürger*innen und Nichtregierungsorganisationen in der
       Region auffordern, auf eine Verordnung zu drängen, die die Menschenrechte
       und nicht die Profite in den Mittelpunkt der Diskussion stellt.
       
       Die Energiewende darf nicht auf Kosten der Rechte indigener Gruppen und
       Ethnien gehen. Der Fall Unión Hidalgo zeigt, dass wir beim Kampf gegen den
       Klimawandel die ausbeuterischen und missbräuchlichen Praktiken der
       Rohstoffindustrie nicht wiederholen dürfen. Indigene Gemeinschaften leiden
       seit Jahrhunderten unter Landenteignung, Ausbeutung und Ungleichheit. Sie
       sind jedoch wichtige Akteure beim Schutz der Erde, und dafür sollten sie
       geachtet werden.
       
       Wenn indigene Gemeinschaften beim Schutz unseres Planeten von größter
       Bedeutung sind, dann sollten auch ihre Entwicklungsmodelle im Mittelpunkt
       stehen. Dabei gibt es viele Themen zu diskutieren: die [9][bessere
       Absicherung des Grundbesitzes von Frauen] in ländlichen Gemeinschaften im
       Globalen Süden, die Stärkung der überlieferten indigenen
       Entscheidungsstrukturen, die Förderung kleinteiliger traditioneller
       Wirtschaftsaktivitäten und die Stärkung der Widerstandsfähigkeit der
       indigenen Bevölkerung.
       
       Infolgedessen sollten die Europäer Verbündete werden, um diese anderen
       Vorstellungen von Entwicklung zu fördern, anstatt dem Globalen Süden ihre
       eigenen Modelle aufzudrängen. Es wäre falsch, den Klimawandel damit zu
       bekämpfen, dass wir riesige Wind- und Solarparks in indigenen
       Gemeinschaften im Globalen Süden bauen. Im gegenwärtigen Wirtschaftssystem
       fließt Geld mit extremer Leichtigkeit über alle Grenzen.
       
       Die Verteidigung von Land, Territorium und natürlichen Ressourcen erfordert
       heute mehr denn je, dass Gemeinschaften und NGOs aus dem Globalen Norden
       und dem Globalen Süden zu einer echten transnationalen Zusammenarbeit
       finden. Diese Kooperationen bieten eine bessere Chance, die Menschenrechte
       indigener Gemeinschaften zu verteidigen und dadurch weitere Umweltschäden
       zu vermeiden.
       
       14 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://documents.worldbank.org/en/publication/documents-reports/documentdetail/995271468177530126/the-role-of-indigenous-peoples-in-biodiversity-conservation-the-natural-but-often-forgotten-partners
   DIR [2] /Indigene-im-Amazonas-Regenwald/!5807498
   DIR [3] https://www.thewindpower.net/windfarm_de_17416_piedra-larga.php
   DIR [4] https://www.ecchr.eu/publikation/civil-society-space-in-renewable-energy-projects-a-case-study-of-the-union-hidalgo-community-in-mexico/
   DIR [5] https://prodesc.org.mx/en/who-we-are/
   DIR [6] https://www.ecchr.eu/fall/energieprojekt-in-mexiko-franzoesischer-energieriese-missachtet-indigene-rechte/
   DIR [7] https://fr.wikipedia.org/wiki/Loi_relative_au_devoir_de_vigilance_des_soci%C3%A9t%C3%A9s_m%C3%A8res_et_entreprises_donneuses_d'ordre
   DIR [8] https://www.bvai.de/login/mitglieder/bai-infomails/infomail-ii/2022/fonds-und-marktregulierung/sustainable-finance-eu-kommission-legt-richtlinie-zur-corporate-sustainability-due-diligence-vor
   DIR [9] https://www.wri.org/insights/beyond-title-how-secure-land-tenure-women
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alejandra Ancheita
       
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