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       # taz.de -- Klimaschutz in Italien: Vom Nachzügler zum Musterland?
       
       > Italien pumpt besonders viel Geld in den klimagerechten Umbau des Landes.
       > Umweltverbände kritisieren, dass die Industrie dabei zu sehr geschont
       > wird.
       
   IMG Bild: Soll es auch in Italien bald öfter geben: Windräder, hier auf Sardinien
       
       Rom taz | Wird Italien in den nächsten Jahren zum Umweltparadies, mit
       höherer Energieeffizienz, mit dem Ausbau der Elektromobilität, mit der
       Steigerung des Anteils der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung?
       Wenigstens die Zahlen legen das nahe. Aus dem [1][europäischen Programm
       „Next Generation EU“] erhält das Land mit 191,5 Milliarden Euro so viel wie
       kein anderes EU-Mitglied, und auf diese Summe will es noch einmal 30
       Milliarden aus eigenen Haushaltsmitteln draufpacken. Stolze 68,6 Milliarden
       und damit fast ein Drittel sind allein für das Kapitel „Grüne Revolution
       und ökologischer Übergang“ eingeplant.
       
       Ins Bild passt, dass die Regierung unter dem früheren EZB-Präsidenten
       [2][Mario Draghi nach seinem Amtsantritt im Februar 2021] das bisherige
       Umweltministerium in „Ministerium für den ökologischen Übergang“ umgetauft
       hat. Dort residiert jetzt der Physiker Roberto Cingolani, der die
       Oberaufsicht für die Verwendung der ihm anvertrauten Milliarden hat.
       
       6,5 Milliarden Euro will er nach dem „Nationalen Plan für Wiederaufschwung
       und Resilienz“ in nachhaltige Landwirtschaft sowie in „Kreislaufökonomie“
       stecken. Damit ist vorneweg die Erhöhung der Recyclingquoten beim Müll
       gemeint. Mit 25 Milliarden Euro ist jedoch der größte Batzen für
       „Energiewandel und nachhaltige Mobilität“ vorgesehen.
       
       ## Italien hat es geschafft, CO2-Ausstoß pro Kopf zu senken
       
       Mit einer Quote der Erneuerbaren von 34 Prozent bei der Stromerzeugung und
       von knapp 18 Prozent beim gesamten Energieverbrauch liegt das Land
       gleichauf mit anderen wichtigen EU-Staaten; vor allem in den Jahren 2006
       bis 2013 hatte es mit großzügigen Förderprogrammen den Ausbau von Wind-,
       Sonnen- und Biomassenenergie vorangetrieben. Auch infolge dieser Politik
       konnte Italien den jährlichen CO2-Ausstoß pro Kopf von fast 10 Tonnen im
       Jahr 2008 auf 7,2 Tonnen senken; der EU-Durchschnitt liegt bei 8,5 Tonnen.
       
       Erreicht wurde dieses Resultat immerhin in dem Land, das mit seiner
       Industrieproduktion in der EU auf Platz zwei hinter Deutschland und noch
       vor Frankreich liegt. Jetzt soll es weiter deutlich verbessert werden,
       nachdem sich seit 2014 wenig bewegte.
       
       6 Milliarden Euro sollen in erneuerbare Energien fließen, zum Beispiel in
       die „Agro-Photovoltaik“, sprich in große Solaranlagen, unter denen sich
       landwirtschaftliche Anbauflächen befinden. Außerdem will die Regierung
       „Energie-Erzeugergemeinschaften“ fördern, in denen sich Bürger*innen
       zusammenschließen, um energetisch praktisch autark zu werden. Und Schwung
       soll auch wieder in den Ausbau der Offshore-Windräder ebenso wie der
       Biogasanlagen kommen.
       
       ## 110 Prozent der Sanierungskosten zahlt der Staat
       
       Stolze 15 Milliarden Euro nehmen Draghi und sein Umweltminister Cingolani
       für Gebäudesanierungen in die Hand. Zehntausende Wohnbauten sollen in den
       nächsten Jahren dank Fassadendämmung und neuer Heizungsanlagen ihre
       Energiebilanz deutlich verbessern. Um ihr Ziel zu erreichen, macht die
       Regierung Bürger*innen und Wohnungsunternehmen ein Angebot, das man kaum
       ausschlagen kann: Sie bekommen die Sanierung geschenkt. 110 Prozent der
       Kosten übernimmt der Staat mit auf zehn Jahre gestreckten
       Steuerabschlägen.
       
       Und schließlich wäre da noch der Verkehr: Hier soll der Individualverkehr
       zurückgedrängt werden, vorneweg per Ausbau der
       Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsstrecken, für die 24 Milliarden Euro
       vorgesehen sind. Doch auch der öffentliche Nahverkehr soll gestärkt werden,
       ebenso wie neue Radwege geplant sind.
       
       Damit die Pläne auch Wirklichkeit werden, will Umweltminister Cingolani
       parallel zum ökologischen den „bürokratischen Übergang“ anschieben. „Wir
       können wunderbare Projekte definieren, aber wir brauchen auch Regeln, die
       es uns erlauben, sie umzusetzen“, erklärt er. „Niemand soll am Ende sagen,
       dass der Übergang nicht stattgefunden hat, weil die Bürokratie gesiegt
       hat.“
       
       So ehrgeizig dieser Plan insgesamt klingt, so wenig Begeisterung löste er
       bei den Umweltverbänden aus. In einer gemeinsamen Erklärung brachten
       Legambiente, der WWF, Greenpeace und andere Organisationen ihre Einwände
       vor. In ihren Augen springt der Plan an vielen Stellen zu kurz oder ist
       gleich eine Mogelpackung.
       
       Das beginnt damit, dass keine Streichung von Subventionen für den Einsatz
       umweltschädlicher Energien vorgesehen ist. Zudem, so rechnen die
       Umweltverbände vor, könne Italien seine Klimaziele bis 2030 nur erreichen,
       wenn es pro Jahr 6.000 Megawatt an Erneuerbaren dazubaut – im
       Regierungsplan seien aber nur 4.000 Megawatt vorgesehen. Wieso, fragen sie,
       sollen nur ein paar Quadratkilometer landwirtschaftlicher Fläche mit
       Solaranlagen überdacht werden, wieso kommen Industriegebäude oder
       aufgelassene Industrieflächen nicht vor?
       
       Auch bei der Steigerung der Energieeffizienz von Gebäuden sind die
       Umweltverbände unzufrieden. Warum geht das ganze Geld in Wohnbauten, fragen
       sie, wieso kommt die Industrie gar nicht vor? Mehr als kritikwürdig finden
       sie auch die Tatsache, dass die Gebäudesanierung von Schulen – für sie
       waren ursprünglich 6 Milliarden Euro vorgesehen – auf 800 Millionen
       heruntergefahren wurde.
       
       ## Wenig neue Ladesäulen, kaum neue Bahnstrecken
       
       Zudem werde für die Elektromobilität viel zu wenig getan: Gerade einmal
       21.000 Ladesäulen im ganzen Land sollen finanziert werden. Und es fehle
       jedwede Vision davon, wie die Städte und der lokale Verkehr in ihnen in
       Zukunft aussehen sollten. In der Tat sind die Zahlen des nationalen Plans
       nicht gerade beeindruckend: Er sieht den Bau von gerade einmal 11 Kilometer
       U-Bahn-, von 85 Kilometer Straßenbahnlinien, von 560 Kilometer Radwegen vor
       – in ganz Italien.
       
       Um ihrem Ärger Luft zu machen, waren schon Ende April
       Greenpeace-Aktivistinnen ausgerückt, um das Schild am zuständigen
       Ministerium für den ökologischen Übergang auszutauschen und in „Ministerium
       für ökologische Fiktion“ umzutaufen. Nicht ganz so hart fällt die Kritik
       des bekannten Umweltschützers Giancarlo Bologna vom WWF aus. Er spricht von
       „lobenswerten Anstrengungen“ der Regierung, setzt aber nach: „Wir haben uns
       etwas deutlich Ernsteres und Konkreteres erwartet.“
       
       5 Jul 2021
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Braun
       
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