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       # taz.de -- Klimawende auf Kosten der Armen?: Die klügsten Köpfe müssen ran 
       
       > Die grüne Wirtschaft wird kommen, die Elektroautos werden in unseren
       > Super-Eco-Cities surren – aber anderswo werden die Leute verrecken. 
       
   IMG Bild: Hier fahren die Teslas, dort brechen die Deiche: Müll wird abgeladen am Ufer des Buriganga-Flusses in Dhaka, Hauptstadt von Bangladesh
       
       Von [1][INGO ARZT ] 
       
       Wir schaffen das, wir Menschen. Wir werden die Klimakrise als Spezies
       überleben. Alle Technologien sind da, um unseren Lebensstil ökologisch
       fortzuführen. Die Solarrevolution schlägt durch, sie wird Kohle, Öl und
       auch Gas wegfegen wie einst das Auto die Kutsche. Batterien werden
       billiger, energiedichter, immer massenhafter produziert; sie können bald
       komplett recycelt werden. Damit dann Elektroautos antreiben. Fliegen lässt
       sich doch auch CO2-neutral, mit Kerosin auf Basis von Algen. Soll ich
       weitermachen? Stahl geht auch ohne Klimaschäden, einfach CO2 unter die Erde
       pressen. Klimakiller Rindfleisch? Machen wir bald aus Zellkulturen, ohne
       Kuh. 2050 sind wir CO2-neutral, sagt die EU, sagt die Bundesregierung, sagt
       sogar der CSU-Vorsitzende Markus Söder. Eine ökologische Gesellschaft im
       Jahr 2050 ist kein Utopia. Und das alles mit Jobs und Wohlstand. 
       
       Die Geschichte vom grünen Wirtschaftswunder also. Aber da ist dieses
       Bauchgefühl, dass etwas nicht stimmt. Denken wir ihm mal rational
       hinterher. 
       
       Was, wenn Folgendes passiert: Wenn im Jahr 2050 viele Menschen stolz mit
       ihren recycelten Ökoautos durch die Metropolen dieser Welt lustwandeln, die
       gut gebildeten und gut verdienenden Schichten auf diesem Globus sich
       gegenseitig Ökotechnologien verkaufen – und im Mittelmeer so viele
       Klimaflüchtlinge ertrinken wie nie? Bangladesch keine Landwirtschaft mehr
       hat, weil die Böden versalzen sind? In den Küstenstädten dort die Deiche
       brechen, wo eh nur die Armen wohnen? 
       
       ## Der Klimawandel wird soziale Ungleichheit potenzieren
       
       Mit Glück wird die Menschheit die Ökowende schaffen. Aber, bleibt sie bei
       ihrer gegenwärtigen Ignoranz, wird das Entscheidende vergessen: Die zu
       retten, für deren Rettung es kein Businessmodell gibt. Die soziale Spaltung
       wird durch den Klimawandel verschlimmert werden, ach was, sie wird
       potenziert. Weil die herrschende Wirtschaftsordnung Ökotechnologien genauso
       monopolisieren wird wie Daten und Öl und nirgends zu sehen ist, dass die
       Menschheit ihre Ungleichheit zwischen Ländern und Schichten überwindet.
       Dafür bräuchte es eine aus heutiger Sicht unvorstellbare Zärtlichkeit
       zwischen den Völkern. Eine bisher nie dagewesene Umverteilung zugunsten der
       am schlimmsten vom Klimawandel Betroffenen. 
       
       Im fossilen Zeitalter ging Armutsbekämpfung so: Die Menschheit hat immer
       mehr Kohle, Öl und Gas verbrannt, den Reichtum daraus vor allem den ohnehin
       Wohlhabenden zukommen lassen, trotz dessen ging das Elend zurück. 1981
       lebten nach Daten der Weltbank 42 Prozent der Weltbevölkerung in Armut,
       2015 waren es 9,9 Prozent, der Energieverbrauch stieg in der Zeit um 35
       Prozent pro Kopf. Gleichzeitig schwoll die Einkommensungleichheit stark an,
       wie der World Inequality Report zeigt. Viele Staaten organisierten ihre
       Gesellschaften in den letzten vierzig Jahren also immer ungerechter und
       kaschierten das geschickt, weil in einem allgemeinen, von fossilen
       Energieträgern befeuerten Aufschwung auch für die Ärmsten mehr übrig blieb.
       Doch dieses Modell ist am Ende. Wir müssen das Kunststück schaffen, mit
       sehr knappen erneuerbaren Ressourcen den Ärmsten zu helfen, sich an den
       Klimawandel anzupassen. Das Problem ist viel mehr als ein technologisches:
       Pathetisch gesprochen braucht es dazu eine Art Weltsozialstaat. Wenn es an
       Gruppen wie die Extinction Rebellion oder Fridays for Future etwas zu
       kritisieren gibt, dann, dass sie diesen Aspekt zu vergessen drohen. 
       
       Der Aufbau eines globalen Schutzschildes gegen den Klimawandel muss rasend
       schnell kommen. Zuletzt beschrieb 2018 eine internationale Gruppe von
       Wissenschaftlern, dass selbst die Einhaltung des Zwei-Grad-Ziels des
       Klimaabkommens von Paris zu wenig sein könnte. Die Erde könnte durch
       Dominoeffekte wie tauende Permafrostböden und Eisschilde in eine neue
       Heißzeit taumeln. Große Teile Afrikas, Südspanien und Sizilien wären dann
       unbewohnbare Wüsten. Vielen Menschen auf dem afrikanischen Kontinent, in
       Indien, Pakistan oder Bangladesch, Papua Neuguinea, Bolivien oder Venezuela
       könnten in einer kollabierenden Gesellschaft ums Überleben kämpfen müssen,
       das zeigt der ND-GAIN Country Index über die am schlimmsten betroffenen
       Länder. 
       
       ## Bis zum Jahr 2050 werden fünfzig bis siebenhundert Millionen Menschen
       ihre Heimat verlassen müssen 
       
       Auf UN-Ebene ist die Anpassung an den Klimawandel längst Programm, steht
       auch im Pariser Klimaabkommen drin. Die reichen Staaten der Welt haben
       versprochen, ab 2020 dafür hundert Milliarden US-Dollar im Jahr zur
       Verfügung zu stellen. Natürlich keine Steuergelder, das müsste man ja den
       Wähler*innen erklären, da zählen auch Investitionen Privater dazu, was
       übersetzt bedeutet: Wir machen aus dem Klimawandel ein Exportgeschäft für
       die heimische Industrie. Eine ganze Fülle an UN-Arbeitsgruppen erarbeitet
       Pläne, wie Landwirtschaft, Eisenbahnen, Bildungswesen, Gesundheitssysteme
       weltweit an den Klimawandel angepasst werden können, Entwicklungsländer
       schreiben dazu brav, was sie brauchen. 
       
       Das ist alles wichtig und gut. Der Klimawandel wird so hart zuschlagen,
       dass jedes Projekt, jedes Programm, jede Million Leben retten kann. Aber es
       ist, als drohe der Erde der Einschlag eines riesigen Asteroiden und die
       Weltgemeinschaft lässt als Gegenmaßnahme pdf-Dokumente online stellen. 
       
       Ganze 13 Leute kümmern sich in der Task Force on Displacement im Auftrag
       des Klimasekretariats der Vereinten Nationen darum, was mit Menschen
       passiert, die wegen des Klimawandels ihre Heimat verlieren. 13 Menschen für
       einen ganzen Globus. Das ist kein Versagen der UN, sondern der
       Weltgemeinschaft. Man will es nicht wissen: Der Mensch zerstört Böden,
       durch Dünger, Beton, Bergbau oder Rodung, das verschlimmert den
       Klimawandel, der wiederum Böden zerstört. Dieser Teufelskreis wird bis zum
       Jahr 2050 fünfzig bis siebenhundert Millionen Menschen zwingen, ihre Heimat
       zu verlassen, schreibt der Weltbiodiversitätsrat, auch eine
       UN-Organisation. Da sind die Flüchtlinge wegen steigender Meeresspiegel und
       Hitzewellen noch nicht drin. 
       
       ## Die Mittel reichen hinten und vorne nicht 
       
       Niemand prüft regelmäßig, ob die ursprünglich von der Weltbank berechneten
       fünfundsiebzig bis hundert Milliarden Dollar im Jahr für die Anpassung an
       den Klimawandel eigentlich noch zeitgemäß sind. So ein Preisschild ist ja
       auch verdammt praktisch. Klimakrise? Hundert Milliarden im Jahr, rund 0,125
       Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung, und fertig. 
       
       Doch die Mittel reichen hinten und vorne nicht. Allein die fünfzig ärmsten
       Länder der Welt brauchen bis zum Jahr 2030 jährlich fünfzig Milliarden
       Dollar für ihre Gesundheitssysteme, um Krankheiten zu bekämpfen, die durch
       Fluten und Hitze zunehmen. Sonst werden jährlich 108.000 Kinder unter 15
       Jahren an Malaria oder Durchfallerkrankungen zusätzlich sterben. Das steht
       im jüngsten Adaptation Gap Report (»Bericht zur Anpassungslücke«) der
       Vereinten Nationen. 
       
       Und das sind nur die Auswirkungen der bereits manifesten Erderwärmung. 
       
       Das Beispiel zeigt, wie maximal zynisch die reichen Länder sind. Sie
       versprechen hundert Milliarden Dollar jährlich, die schon heute zu wenig
       sind. Das Gravierende dabei ist, dass die Summe auf der Annahme basiert,
       dass sich die Erde im Mittel nur um zwei Grad erwärmt. Was, wenn es mehr
       wird? Dafür trifft niemand Vorsorge. Obwohl es verdammt realistisch ist. 
       
       ## Die fünfzigtausend klügsten Köpfen der Welt müssen die Menschheit auf
       einen ausufernden Klimawandel vorbereiten 
       
       Meine Forderung, und ich hoffe, die Klimaschützer dieses Landes tragen sie
       hinaus: Deutschland und die EU müssen dafür sorgen, dass ein Team von,
       sagen wir mal, den fünfzigtausend klügsten Köpfen dieser Welt damit
       beginnt, die Menschheit auf einen ausufernden Klimawandel vorzubereiten. 
       
       Für alle dann unbewohnbaren Gebiete müssen Pläne zu Evakuierungen
       erarbeitet werden. Europa muss Vorbereitungen treffen, bis Ende des
       Jahrhunderts zweihundert Millionen Klimaflüchtlinge aufzunehmen. Auf
       UN-Ebene muss ein Rechtsanspruch aller Erdenbürger verankert werden, an
       einem sicheren Ort zu leben. Die reichen Staaten müssen zulassen, dass
       jeder Mensch das Recht erhält, die Mittel zum Überleben der Klimakrise bei
       Staaten und Unternehmen in den Industrieländern einklagen zu können. 
       
       Selbstverständlich gibt es dazu eine Alternative. Sie besteht darin, dass
       wir im Jahr 2050 mit unseren Elektroautos durch unsere superökologischen
       Solarstädte gurken, uns vegan ernähren und die Menschen des globalen Südens
       guten Gewissens verrecken lassen.
       
       12 Nov 2019
       
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