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       # taz.de -- Knackpunkte der Klimakonferenz: Monster namens Marktmechanismen
       
       > An den „Kohlenstoffmärkten“ droht die COP zu scheitern. Sie könnten die
       > grüne Wende bringen. Oder Klimaschutz zur Luftbuchung machen.
       
   IMG Bild: Besucher der COP sitzen an einem unechten Baum
       
       Madrid taz | Bei der [1][Klimakonferenz in Madrid] gehen die Gespräche in
       die entscheidende Phase. Offiziell ist Freitagabend Schluss mit der COP25.
       Beobachter und Teilnehmer erwarten allerdings, dass sich die Verhandlungen
       mindestens bis Samstag hinziehen. Grund dafür sind [2][jede Menge ungelöste
       Probleme]: zum Beispiel ein Monster namens „Marktmechanismen“.
       
       Sie sind der größte und wichtigste Stolperstein: Es geht um die Frage, ob
       und wie in Zukunft Staaten und Unternehmen weltweit Zertifikate handeln
       können, um ihre CO2-Emissionen zu reduzieren. Das Thema ist komplex – und
       birgt gewaltigen Sprengstoff: Am Erfolg oder Misserfolg eines solchen
       Systems entscheidet sich, ob weltweit der Klimaschutz in den nächsten
       Jahrzenten effektiv und gerecht vorangetrieben wird – oder ob ein System
       errichtet wird, das nur auf dem Papier das Klima schützt.
       
       Hier die wichtigsten Fragen und Antworten:
       
       Warum ein Handel mit Zertifikaten? Ganz einfach: Weil er im Pariser
       Abkommen steht. Artikel 6 etabliert „einen Mechanismus zur Reduktion von
       Treibhausgasen und zur Unterstützung der nachhaltigen Entwicklung“ (SDM).
       Mit diesem Mechanismus sollen Emissionszertifikate zwischen Staaten und
       Unternehmen gehandelt werden.
       
       In der Theorie profitieren davon alle: Wenn ein deutsches Stahlwerk den Bau
       eines Windparks in Indien finanziert, kann es sich die Emissionen anrechnen
       lassen, die dort gegenüber einem neuen Kraftwerk vermieden werden. Das
       deutsche Unternehmen reduziert billig seine Emissionen. Die indische Seite
       bekommt nicht nur Geld, sondern auch Technik und Know-how. Im Idealfall
       nutzen sowohl das Unternehmen als auch der indische Staat das eingesparte
       Geld für neue grüne Investitionen.
       
       ## Der reiche Norden will sich freikaufen
       
       Da CO2 ein globales Problem darstellt, ist es egal, wo man es einspart.
       Allerdings unterstützt das System noch zusätzlich die Ungerechtigkeit im
       Klimaschutz: Der reiche Norden, der das Problem zum großen Teil verursacht
       hat, will sich damit im armen Süden von seinen Klimasünden freikaufen.
       
       Warum sind diese „Marktmechanismen“ so wichtig? Weil schon jetzt viele
       Unternehmen, Städte und Staaten damit werben, demnächst „klimaneutral“ zu
       sein. Dafür werden Siemens, Bosch, Lufthansa & Co. aber ihre eigenen
       Emissionen nicht so schnell auf null bringen – sondern suchen Wege, solche
       Reduktionen zu kaufen.
       
       Auch Staaten wie Deutschland oder die EU streben die grüne Null an, müssen
       dafür aber sehr schnell noch mehr Emissionen reduzieren. Für höhere
       Klimaziele in 2030 wollen Berlin und Brüssel zumindest teilweise
       Reduktionen zukaufen. Auf der anderen Seite stehen Länder, die relativ
       günstig Emissionen senken können: durch neue Wälder, Wind- und Sonnenkraft
       statt Kohle, neue Industrieanlagen.
       
       Theoretisch gibt es einen großen Markt dafür, die billigsten Wege zu
       weniger Emissionen zu finden. Ist das ein System wie der Europäische
       Emissionshandel? Nein. Höchstens die technischen Rahmenbedingungen könnten
       ähnlich sein (wie zählt man Tonnen, wie werden Reduktionen angerechnet).
       
       Es gibt einen entscheidenden Unterschied: Im EU-Emissionshandel haben die
       Staaten eine CO2-Obergrenze festgelegt, die für jedes Jahr gilt und immer
       weiter absinkt. Es sind also immer weniger Emissionen erlaubt und daher
       steigen die Preise für die Zertifikate.
       
       ## „Kaufen von Ausgleichsmaßnahmen“
       
       Auf eine solche globale Grenze haben sich die Staaten im Pariser Abkommen
       nicht geeinigt. Jedes Land legt nur einen [3][Klimaplan] (NDC) vor, der
       aber nicht einmal Reduktionen enthalten muss. Auch mit einer anderen
       Landwirtschaft oder einer Quote für Ökostrom dürfen die Staaten Klimaschutz
       betreiben.
       
       Es gibt also anders als im EU-System keine Garantie, dass durch den Handel
       tatsächlich CO2 eingespart wird. „Das ist eigentlich kein Emissionshandel,
       sondern das Kaufen von Ausgleichsmaßnahmen“, sagt Gilles Dufresne, Experte
       der Gruppe Carbon Market Watch.
       
       Was wären die Vorteile dieser Marktmechanismen? Wenn er gut funktioniert,
       könnte der Handel einiges bewirken: Arme Staaten bekämen Geld für grüne
       Investments oder Sozialprogramme und könnten saubere Industrien aufbauen.
       Mit der Zeit könnten ihre Klimapläne immer ehrgeiziger werden. Unternehmen
       und Staaten in den Industriestaaten dagegen könnten sich Zeit kaufen und
       Geld sparen, um tiefe Einschnitte bei den Emissionen voranzutreiben.
       
       „Gemeinsam ambitionierte Ziele zu erreichen, nutzt dem Klima mehr, als in
       der nationalen Perspektive zu verharren“, sagt FDP-Klimapolitiker Lukas
       Köhler. Der Experte der Umweltorganisation Germanwatch, Linus Herzig, ist
       deutlich skeptischer, sagt aber auch: Wenn der Zertifikatehandel für
       zusätzliche Reduktionen aus neuen Projekten sorge, kein „Nullsummenspiel“
       würde und klare Regeln hätte, könnte er „zu zusätzlichem Klimaschutz
       führen“.
       
       ## CO2-Lizenzen automatisch löschen
       
       Etwa wenn ein Teil der gekauften CO2-Lizenzen automatisch gelöscht würde:
       Die deutsche Firma würde dann 100 Tonnen Minderung aus Indien kaufen,
       könnte sich aber nur 70 anrechnen.
       
       Wie würde das den Klimaschutz voranbringen? Ein gut geregelter Handel
       könnte weltweit eine Dynamik zu mehr Klimaschutz und Nachhaltigkeit
       auslösen, ist die Hoffnung – vor allem, wenn endlich die Finanzbranche
       diesen Wandel unterstützt. Denn mit den Transaktionen ließe sich viel Geld
       verdienen und vor allem ein durch Klimaschocks drohender Finanzcrash
       verhindern.
       
       Auch deshalb mahnen Weltbank und Internationaler Währungsfonds inzwischen
       laut vor der Klimakrise. Und bei der COP25 in Madrid trafen sich zum ersten
       Mal über 50 Finanzminister zu dem Thema.
       
       Was sind die Risiken des Kohlenstoffhandels? Wenn es schlecht läuft,
       könnten die „Marktmechanismen“ zu einem gigantischen Selbstbetrug werden.
       Weil es keine globale CO2-Obergrenze gibt, die auf jedes Land
       heruntergerechnet wird, sind viele Länder in der Versuchung, weniger CO2
       selbst zu reduzieren, wenn sie es teuer verkaufen können. Das könnte
       verhindern, dass die Länder ihre Klimapläne immer ehrgeiziger machen,
       schließlich schmälern sie ihre „Exportbasis“, wenn sie mehr CO2 vermeiden.
       
       Dann muss sichergestellt werden, dass Reduktionen nicht doppelt angerechnet
       werden – dass sich also in unserem Beispiel Indien die vermiedenen
       Emissionen aus dem Windpark nicht auf seinen Klimaplan anrechnet, wenn es
       die Lizenzen nach Deutschland verkauft. In den Industrieländern und den
       Unternehmen könnte der einfache Ausweg „Marktmechanismen“ dazu führen, dass
       der nötige Umbau der eigenen Wirtschaft und Gesellschaft gebremst wird.
       
       Statt aufwändige, teure und politisch umstrittene Mechanismen (wie die
       Windkraft an Land) voranzutreiben, könnte man sich mit ein paar Milliarden
       von allen Anstrengungen freikaufen. Erste Überlegungen in diese Richtung
       gibt es in der CDU und CSU bereits.
       
       Warum wollen manche diese Instrumente zeitlich begrenzen? Weil die Idee des
       Kohlenstoffmarkts langfristig einen Denkfehler hat. Denn ALLE Länder müssen
       nach dem Pariser Abkommen so schnell wie möglich ihre Emissionen auf null
       bringen. Hoffentlich hat bald also niemand mehr seine Reduktionen zu
       verkaufen – es sei denn, er wird „negativ“ und speichert mehr CO2, als er
       ausstößt. Je länger man aber mit Reduktionen Geld verdienen kann, desto
       länger lohnt es sich, noch Emissionen zu haben.
       
       Das wäre anders, wenn der Handel auf ein paar Jahrzehnte begrenzt würde.
       Wer hat das größte Interesse an diesem Instrument? Als Käufer bieten sich
       praktisch alle Industriestaaten mit ehrgeizigen Klimazielen an. Kurzfristig
       hat die Luftfahrtindustrie ein großes Interesse: Ab 2021 will sie ihr
       „Klimaprogramm“ Corsia starten, mit dem das Wachstum beim Flugverkehr
       „klimaneutral“ werden soll. Dafür braucht es am Beginn wohl einige hundert
       Millionen Tonnen CO2-Reduktion pro Jahr.
       
       Ein fast noch größeres Interesse haben die Staaten, die sich als Anbieter
       sehen: Vor allem Brasilien möchte umstrittene CO2-Zertifikate aus dem
       Schutz des Regenwalds gern weltweit verkaufen. Andere Staaten wie Indien,
       aber auch Russland und die Ukraine drängen darauf, mit alten und derzeit
       praktisch wertlosen CO2-Zertifikaten aus CDM-Projekten (siehe nächste
       Frage) ein paar Milliarden Dollar extra zu verdienen.
       
       Ist so etwas schon einmal versucht worden? Ja, das System hieß „sauberer
       Entwicklungs-Mechanismus“ (CDM). Mit ihm konnten unter dem Kioto-Protokoll
       Unternehmen aus Industrieländern Reduktionen in Entwicklungsländern kaufen.
       Allerdings gilt das System für viele Umweltschützer als gescheitert.
       
       Ein Bericht des Öko-Instituts für die EU befand 2016, dass „85 Prozent der
       Projekte nur mit geringer Wahrscheinlichkeit für zusätzliche Reduktionen
       gesorgt haben“. Das System hat viel Geld erzeugt, aber es ist unsicher, wie
       sehr es dem Klima geholfen hat.
       
       Scheitert die COP in Madrid an dieser Frage? Das ist möglich. Vor allem bei
       den Regeln, wie Doppelanrechnungen zu verhindern sind, scheiden sich die
       Geister. Die EU hat betont, sie wolle lieber die Verhandlungen platzen
       lassen als ein System aufzulegen, dass schlechte Regeln für Jahrzehnte
       festschreibt. Ob das in der letzten Nacht noch gilt, ist fraglich.
       
       13 Dec 2019
       
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