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       # taz.de -- Koalitionskrach in Österreich: Die kalkulierte Klimakrise
       
       > Knapp vor Ende der Legislaturperiode profilieren sich die
       > österreichischen Grünen nun mit Mut gegen den konservativen Partner. Der
       > tobt.
       
   IMG Bild: Koalition mit Konfliktpotenzial: Klimaministerin Leonore Gewessler (Grüne) und Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) bei einer Pressekonferenz 2023
       
       Eine solche Pressekonferenz sieht man auch nicht alle Tage: Montag Abend
       trat Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer zu einer Eilerklärung vor die
       Presse, verkündete, dass er gegen eine Entscheidung seiner Umwelt- und
       Klimaministerin Leonore Gewessler vor dem EuGH klagen werde und dass zudem
       eine Anzeige wegen des Verdachts des Amtsmissbrauchs gegen die
       Ressortchefin eingebracht werde. Zugleich erklärte der Kanzler der
       konservativen Volkspartei, dass er weder die Koalition mit den Grünen
       beenden noch die Entlassung der Ministerin aus dem Amt vorschlagen werde.
       
       Eine Ministerin habe „einen Rechtsbruch begangen“, ein „krasses
       Fehlverhalten“ gezeigt, die Erwartungen, die Koalition zu beenden, könne er
       verstehen, so Nehammer, allerdings: „Ich werde das nicht tun.“ Immerhin,
       der Ministerrat am Mittwoch wurde abgesagt. In einem Raum wollten die
       Kontrahenten dann doch nicht sein. Zu viel Gefühlsaufwallung.
       
       Eine koalitionäre Klimakatastrophe – wenngleich eine kalkulierte. Die
       Koalition aus ÖVP und Grünen ist in einer schweren Krise. Der Anlass ist an
       sich wenig spektakulär: Gewessler hatte in Brüssel im zuständigen EU-Rat
       der [1][„Renaturierungsrichtlinie“] zugestimmt, die die Pflege des Meeres,
       die Befeuchtung von Mooren, den Rückbau begradigter Flussläufe, die
       Pflanzung von Bäumen usw. vorschreiben will.
       
       Es ist kein rein „grünes“ Projekt, sondern eines der Kommission von Ursula
       von der Leyen, die meisten Christdemokratien sind auch dafür. Aber um die
       qualifizierte Mehrheit im Rat zu gewährleisten, war Österreichs Stimme
       notwendig.
       
       ## Hat die Ministerin Recht gebrochen?
       
       Österreich hat kein Meer, wenig Moore und sowieso viele Wälder. Und die
       Landwirtschaft wird wegen ein paar Blumenwiesen mehr nicht untergehen.
       
       Die ÖVP war dennoch dagegen, die Grünen dafür. Die Ministerin hat
       zugestimmt. Dazu muss man wissen: Das darf sie aufgrund ihrer
       Ministerverantwortung tun. Der Kanzler hat seinen Ministerinnen nichts zu
       befehlen, er hat noch nicht einmal eine Richtlinienkompetenz.
       
       Allerdings: Alle neun Bundesländer hatten einen Beschluss gegen die
       Richtlinie gefasst, und die können die Ministerin binden. Wiederum
       allerdings: Zwei sozialdemokratische Bundesländer sind ausgeschert und
       haben sich nach einigen Nachverhandlungen nunmehr für die veränderte
       Richtlinie ausgesprochen. Reicht das, um den vorherigen Beschluss
       aufzuheben? Ja, sagen die Grünen. Nein, sagt die ÖVP.
       
       Zudem ist strittig, ob die Ministerin nicht „das Einvernehmen“ mit dem
       Landwirtschaftsminister hätte suchen müssen. Das ist nämlich
       vorgeschrieben, wenn eine Zustimmung auch die Kompetenzen anderer
       Ministerien markant berührt. Die Rechtsexperten sind sich uneinig. Gut
       möglich, dass die Ministerin tatsächlich gegen Verfassung und Recht
       verstoßen hat.
       
       ## Schienbeintritt nach allzu vielen Kompromissen
       
       Uneinig sind sich die Rechtsexperten auch, was aus alldem folgen kann: Gilt
       der Beschluss in jedem Fall, auch wenn sich später einmal herausstellt,
       dass die österreichische Zustimmung illegal war? Oder wird die Richtlinie
       dann außer Kraft gesetzt? Auch hier: Die einen meinen so, die anderen
       meinen anders. Am Ende werden das Gerichte entscheiden. Der belgische
       EU-Ratsvorsitzende Alain Maron sagte schon einmal vorsorglich, für ihn
       zähle nur, wie die österreichische Vertreterin abstimme, die
       innerösterreichische Kontroverse „geht mich nichts an“.
       
       Die rechtlichen Fragwürdigkeiten sind freilich nur ein Aspekt der ganzen
       Chose. Die österreichischen Grünen, seit fünf Jahren Juniorpartner in einer
       Koalition mit der ÖVP, mussten viele Kompromisse runterschlucken. Und jetzt
       treten sie dem Koalitionspartner einmal richtig gegen das Schienbein. Der
       Grund dafür ist erstens die Richtlinie selbst – hätte die Ministerin hier
       dagegen gestimmt, hätten die Grünen wohl jede Glaubwürdigkeit verloren –,
       und andererseits die Tatsache, dass die Koalition in ihre finalen Monate
       geht.
       
       Es ist Wahlkampf. Am 29. September wird ein neuer Nationalrat gewählt. Und
       da wollen und müssen die Grünen eine gewisse Kantigkeit zeigen. Während
       einer laufenden Legislaturperiode, wo man auf den Kompromisswillen der
       anderen Seite angewiesen ist, wo es ein ständiges Geben und Nehmen am
       Verhandlungstisch gibt, ist das nur sehr beschränkt möglich.
       
       Simpel gesagt: Die Grünen haben jetzt noch drei Monate, den allzu großen
       Kompromisswillen der vergangenen Jahre vergessen zu machen. Denn gerade in
       Teilen ihres Wählerpotenzials attestiert man der Ökopartei seit Jahren eine
       zu große Konzilianz gegenüber dem rechtskonservativen Koalitionspartner.
       
       ## Unrealistische Erwartungen von Grünenwähler:innen?
       
       Ein Stück weit ähnelt ihre Lage damit der der deutschen Grünen, die nach
       der Niederlage bei der Europawahl in einer Strategiedebatte stecken:
       Müssten auch sie in der Ampelkoalition wieder mehr Profil zeigen, um bei
       der Kernklientel Vertrauen zurückzugewinnen – nach schmerzhaften
       Zugeständnissen etwa beim Klimaschutzgesetz oder in der EU-Asylpolitik?
       Oder sollten sie im Gegenteil noch pragmatischer auftreten, um nicht noch
       mehr Wähler*innen nach rechts zu verlieren?
       
       Wie sich der neue Kurs der österreichischen Grünen bei den
       Nationalratswahlen auswirkt, wird man auch von Berlin aus genau
       beobachten. Dort muss man schließlich bald die Weichen für den
       Bundestagswahlkampf 2025 stellen.
       
       Man kann tatsächlich unterschiedlicher Meinung sein, für wie fair man die
       Kritik an grünen Kompromissen hält – oder ob sie nicht von
       [2][unrealistischen Erwartungen] grüner Wähler und Wählerinnen geprägt
       ist, die wenig Verständnis haben für die Langsamkeit, Sachzwänge und die
       Mühlen des demokratischen Prozesses.
       
       In Österreich hatte schließlich die ÖVP unter Sebastian Kurz die Wahlen vor
       fünf Jahren mit 37 Prozent triumphal gewonnen. Gemeinsam mit der
       ultrarechten FPÖ wäre sie auf eine komfortable parlamentarische Mehrheit
       gekommen. Die Grünen brachten gerade einmal 14 Prozent auf die Waagschale.
       Gemessen daran haben sie keine schlechte Bilanz vorzuweisen.
       
       ## Punktsieg für die Grünen
       
       Die Klima- und Umweltministerin hat [3][einiges vorangebracht]. In den
       Coronajahren haben die grünen Minister einigermaßen vernünftigen Kurs
       gehalten, während der konservative Koalitionspartner oft irrlichterte und
       sehr autoritäre Maßnahmen verhängen wollte. Vor allem hatten die Grünen die
       Korruptionsermittlungen gegen ihren Koalitionspartner nicht behindert und
       am Ende sogar [4][am Sturz von Sebastian Kurz mitgewirkt]. Kurzum: So
       „feig“ und „angepasst“, wie es ihnen viele Kritiker unterstellen, waren die
       Grünen fürwahr nicht.
       
       Dennoch müssen sie einen Absturz bei den nächsten Wahlen befürchten. Die
       diskursive Atmosphäre, die vor fünf Jahren den Grünen noch sehr günstig
       war, ist durch das populistische Ökologie-Bashing sehr viel negativer
       geworden. Das eigene Wählerpotenzial ist frustriert. Neue linke Anti- und
       Protestparteien haben einen Aufschwung, von den Kommunisten bis zur
       „Bierpartei“. Eine durchaus heikle Konkurrenzsituation.
       
       Die Entschlossenheit der Umweltministerin Leonore Gewessler, die generell
       eine unaufgeregte Resolutheit ausstrahlt, wird ihnen hier sicherlich
       helfen. Die Koalitionspartner sind jetzt in der Phase, in der sie sich
       gegeneinander profilieren. Die ÖVP stellt sich gegen „die irren Grünen“,
       wie das viele ihrer Parteigänger wünschen, die Grünen lassen sich nichts
       mehr gefallen.
       
       In dieser Woche ging das Match eindeutig an die Grünen – sie haben einen
       Erfolg heimgebracht, während der Kanzler tobt, aber gleichzeitig anmerkt,
       nichts Relevantes gegen den Entschluss der Ministerin tun zu können. Die
       Grünen haben einmal gezeigt, wie mutig sie sein können. Freilich: So etwas
       kann man sich auch nur als Wahlkampfshow erlauben, auf die Dauer könnte man
       so natürlich nicht regieren.
       
       Mitarbeit: Tobias Schulze
       
       18 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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