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       # taz.de -- Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien: Ein Hauch Willy Brandt
       
       > Christian Lindner zitiert Egon Bahr, Olaf Scholz guckt niedlich wie ein
       > Hundewelpe: Wie die Ampel-Verhandler ihren Koalitionsvertrag vorstellen.
       
   IMG Bild: Ein Hauch Willy Brandt? Bei historischen Anspielungen ist die Ampel schmerzfrei
       
       Berlin taz | Ganz staatsmännisch beginnt Olaf Scholz mit Corona. Erst
       nachdem der Sozialdemokrat und Kanzler in spe betont hat, wie ernst die
       Lage ist, und die Maßnahmen der Ampel aufgezählt hat, kommt er zum Sinn
       dieser Pressekonferenz. „Meine wichtigste Botschaft dazu lautet: Die Ampel
       steht“, sagt Scholz. SPD, Grüne und FDP eine der Wille, das Land besser zu
       machen. Ihnen gehe es nicht um eine Politik des kleinsten gemeinsamen
       Nenners. „Wir wollen mehr Fortschritt wagen.“
       
       Eine Anspielung auf Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“, das zeigt schon,
       dass es hier um etwas Großes geht. Neben Scholz stehen auf der Bühne im
       Berliner Westhafen-Center, einer alten Lagerhalle, die anderen
       ChefverhandlerInnen der Ampel: Annalena Baerbock, Robert Habeck, Christian
       Lindner und die beiden SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert
       Walter-Borjans. Stolz stellen sie einen 177 Seiten starken
       Koalitionsvertrag vor, die Inhalte also, die die neue Regierung ausmachen
       sollen.
       
       All dies ist durchaus ein großer Wurf. Erstmals in der Geschichte der
       Bundesrepublik werden SPD, Grüne und FDP in einer Bundesregierung
       zusammenarbeiten, und sie verweisen die Union nach 16 Jahren in die
       Opposition. Dabei haben die drei Parteien ein wahres Kunststück vollbracht.
       Seit gut einem Monat haben über 300 PolitikerInnen von SPD, Grünen und FDP
       über hunderte Inhalte verhandelt – und kaum etwas ist nach außen gedrungen.
       Diese professionelle Vertraulichkeit wird von allen Seiten gelobt. Am
       Mittwoch bedankten sich die VerhandlerInnen einzelner Teams überschwänglich
       auf Twitter.
       
       Inhaltlich wird die Ampel Deutschland in einigen Bereichen modernisieren,
       in anderen droht aber Stillstand. Ein Beispiel für zu erwartenden
       Fortschritt ist der Klimaschutz: Er werde sich als Querschnittsthema durch
       alle Bereiche ziehen, versprechen die Grünen – von Verkehr über Industrie,
       Bauen und Wohnen hin zur Landwirtschaft und der Außenpolitik.
       
       ## Ampel verspricht 80 Prozent Erneuerbare bis 2030
       
       In der Tat sind manche Vorhaben ambitioniert. So verspricht die Koalition
       etwa, dass der Anteil der erneuerbaren Energien am deutschen Verbrauch 2030
       bei 80 Prozent liegen soll. Dafür wird eine Solarpflicht auf Dächern
       eingeführt und vorgeschrieben, dass 2 Prozent der deutschen Landfläche für
       Windräder zur Verfügung stehen müssen.
       
       „Wir sind auf 1,5-Grad-Pfad mit diesem Koalitionsvertrag“, betont
       Grünen-Chef Habeck. Die Orientierung am Pariser Klimaschutzziel war eine
       Bedingung seiner Partei für eine Regierungsbeteiligung gewesen. Ob Habecks
       Behauptung stimmt, wird von Umweltverbänden in den kommenden Tagen penibel
       nachgerechnet werden. Es gibt Punkte, die daran zweifeln lassen. So
       verzichtet die Koalition der FDP zuliebe auf ein Tempolimit. Auch wird der
       CO2-Preis nicht erhöht, den die Grünen im Wahlkampf noch als zentrales
       Instrument für ökologische Politik gepriesen hatten. Scholz lässt
       angesichts hysterischer Spritpreis-Debatten nichts anbrennen.
       
       Auch sozialpolitisch tut sich einiges: Die SPD hat die schnelle Erhöhung
       des Mindestlohns auf 12 Euro durchgesetzt, es gibt einen langsamen Einstieg
       in eine Kindergrundsicherung und weniger Sanktionen bei Hartz IV, das in
       ein Bürgergeld umbenannt werden soll. Anderswo tritt die Koalition auf der
       Stelle. Es wird etwa keine Regelsatzerhöhung für Hartz-IV-EmpfängerInnen
       geben, die Sozialverbände schon lange fordern. [1][Auch die Spaltung der
       Gesellschaft in Arm und Reich fasst das Bündnis nicht an], weil mit der FDP
       keine Steuererhöhungen für Wohlhabende zu machen sind.
       
       Entscheidend für die Machtbalance in der Ampel ist die Verteilung der
       Ministerien. Hier kann die FDP einen großen Erfolg verbuchen. Sie wird den
       Finanzminister stellen, es ist so gut wie sicher, dass Christian Lindner
       diesen Job selbst übernimmt. Scholz verplauderte sich und gab einen
       eindeutigen Hinweis. Die Finanzpolitik ist entscheidend für den künftigen
       Kurs der Ampel. [2][Auch Grünen-Chef Robert Habeck hatte lange mit dem Amt
       geliebäugelt], angesichts des Drängens der FDP aber nachgegeben.
       
       ## Die Grünen verzichten aufs Finanzministerium
       
       Bei den Grünen wird dies aber nicht als Niederlage gesehen, was nicht
       erstaunlich ist, weil alle Beteiligten im Moment die Ergebnisse schönreden.
       So will es die Logik der Regierungsbildung. Die Verhandlungen seien in der
       Finanzpolitik am schwierigsten gewesen, heißt es in Grünen-Kreisen. „Die
       Linien unterscheiden sich fundamental.“ Angesichts dessen sei das
       Finanzministerium ein „blockiertes Haus“ mit wenig Gestaltungskraft.
       
       Außerdem hatte die Frage, wer das Gesundheitsministerium übernimmt, in
       sozialen Netzwerken für Aufregung gesorgt. In einer geleakten
       Kabinettsliste, deren Quelle unklar war, war in den vergangenen Tagen von
       einem FDP-Gesundheitsminister die Rede gewesen. Dies wäre angesichts der
       eskalierenden Coronakrise eine bemerkenswerte Personalie gewesen, da die
       FDP noch vor wenigen Wochen von einem Freedom Day geschwärmt hatte.
       
       Aber dazu kommt es nicht: Die SPD wird laut Koalitionsvertrag das
       Gesundheitsministerium übernehmen. Aber wird es auch Karl Lauterbach? Das
       ist offen. Auf die Frage eines Journalisten nach der Besetzung redet Scholz
       sich heraus. Er werde Vorschläge machen, die Gremien würden entscheiden.
       Eine scholzige Nichtantwort.
       
       Der Mediziner und Universitätsprofessor Lauterbach, der nachts virologische
       Studien aus den USA liest und sie bei Markus Lanz allgemeinverständlich
       erklären kann, hätte nicht nur die Expertise für den Job, sondern auch
       große Lust. Aber in der SPD halten ihn viele für einen exotischen
       Selbstdarsteller – und für wenig ministrabel.
       
       ## Lindner zitiert Egon Bahr
       
       Außerdem übernehmen die Sozialdemokraten zum Beispiel das wichtige
       Innenministerium, das Verteidigungsministerium und ihr Herzblut-Ressort
       Arbeit und Soziales. Die Grünen konzentrieren sich in der neuen Regierung
       auf ökologische Themen. Sie bekommen das Auswärtige Amt, eine großes
       Klimaschutz- und Wirtschaftsministerium und die Ressorts Umwelt,
       Verbraucherschutz und Landwirtschaft sowie Familie.
       
       Es gilt als sicher, dass Annalena Baerbock Außenministerin wird – und
       Robert Habeck das Klimaschutzressort übernimmt. Ob die Regierung im
       laufenden Geschäft engagierten Klimaschutz in allen Häusern vorantreibt,
       ist dennoch eine offene Frage. Die SPD wird ein neu geschaffenes
       Bauministerium übernehmen, die FDP das Verkehrsministerium. Beide Bereiche
       sind zentral für das Erreichen des Pariser Klimaschutzziels – und weder SPD
       noch FDP sind in diesen Themen mit ökologischem Ehrgeiz aufgefallen.
       
       Die Namen der neuen MinisterInnen werden später bekanntgegeben. Die SPD
       will ihre Kabinettsmitglieder erst am 4. Dezember vorstellen. Die Grünen
       tun das schon am Donnerstag, weil dann die zehntägige Urabstimmung über den
       Koalitionsvertrag beginnt. Die gut 125.000 Grünen-Mitglieder sollen über
       das Gesamtpaket – Vertrag und Personaltableau – abstimmen. Bei SPD und FDP
       segnen Sonderparteitage den Koalitionsvertrag ab. Der neue Kanzler Olaf
       Scholz könnte in der Woche ab dem 6. Dezember gewählt werden.
       
       Das größte Lob für jenen kommt, man höre und staune, an diesem Tag von
       Christian Lindner. Der Freidemokrat zitiert den Sozialdemokraten Egon Bahr.
       Scholz verfüge über ein „inneres Geländer“, um das Land mit einer klaren
       Wertehaltung zu führen und mehr Menschen zu repräsentieren als die, die
       Rot, Gelb und Grün gewählt hätten, sagt Lindner. „Deshalb wird Olaf Scholz
       ein starker Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland sein.“
       
       Scholz guckt in diesem Moment so niedlich wie ein Hundewelpe. Aber das geht
       schnell vorüber. Dann applaudieren sich die Vertreter der Parteien, die in
       den ersten Reihen sitzen, gegenseitig. Auch diesem Anfang scheint ein
       Zauber innezuwohnen.
       
       24 Nov 2021
       
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