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       # taz.de -- Körperverletzung im Amt: Mit anonymer Faust
       
       > Verfahren zu Polizeigewalt werden fast immer eingestellt, heißt es in
       > einer neuen Studie. Meist, weil die Beamt*innen nicht identifizierbar
       > waren.
       
   IMG Bild: Vom Wasserwerfer zu Fall gebracht – Polizeigewalt hat viele Formen
       
       Köln taz | Für die Polizei ist Gewaltanwendung unter bestimmten Bedingungen
       straffrei. Dazu gehört Verhältnismäßigkeit: Beamt*innen sind verpflichtet,
       das geringste zielführende Mittel zu wählen. Wer darüber hinaus Gewalt
       anwendet, macht sich strafbar. Doch diese Straftat wird in Deutschland kaum
       verfolgt. Auch das Ausmaß von [1][Polizeigewalt] ist unbekannt.
       
       [2][Eine neue Studie] kommt nun zum Schluss, dass das Dunkelfeld
       “mindestens fünfmal so groß ist wie das Hellfeld“. Grundlage des
       Zwischenberichts sind 3.375 Berichte von Betroffenen aus allen
       Gemeindegrößen: vom Dorf bis zur Großstadt mit über 500.000
       Einwohner*innen.
       
       Es ist die bislang größte Untersuchung zu Polizeigewalt im
       deutschsprachigen Raum: Seit 2018 untersucht das Forschungsprojekt
       „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte“ unter Leitung von
       Kriminologie-Professor Tobias Singelnstein an der Ruhr-Universität Bochum
       (RUB) körperliche Gewalt durch Polizist*innen, die Betroffene als
       unverhältnismäßig bewerten.
       
       Bereits bekannt war, dass jährlich über 2.000 Anzeigen gegen Polizist*innen
       eingehen. Während Staatsanwaltschaften durchschnittlich in etwa 20 Prozent
       aller Ermittlungen Anklage erheben, sieht es hier anders aus: Weniger als 2
       Prozent der Anzeigen führen zu einer Anklage. Weniger als 1 Prozent endet
       mit einer Verurteilung.
       
       ## Grundlos schnell eskaliert
       
       Die RUB-Studie untersucht nun, in welchen Situationen es zu wahrgenommener
       Polizeigewalt kommt und welche Folgen sie für Betroffene hat. Ferner geht
       es darum, wieso Anzeigen meist ausbleiben und Staatsanwaltschaften fast
       alle Verfahren einstellen. Die Befragten beteiligten sich online: Sie sind
       überwiegend männlich, zur Zeit des Vorfalls durchschnittlich 26 Jahre alt
       und hochgebildet (Fach- oder Hochschulreife). 16 Prozent haben einen
       Migrationshintergrund.
       
       Da die Auswahl der Befragten nicht zufällig erfolgte, ist die Stichprobe
       nicht repräsentativ. Trotzdem ließen sich Schlussfolgerungen für die
       Gesamtsituation ziehen, schreiben die Autor*innen. “Die Befragten
       schilderten sehr vielfältige Situationen […] Vor diesem Hintergrund kann
       davon ausgegangen werden, dass rechtswidrige polizeiliche Gewaltausübungen
       prinzipiell in allen Einsatzsituationen vorkommen können.“
       
       Drei Situationen nennen Befragte besonders häufig: Demonstrationen und
       politische Aktionen (55 Prozent), Fußballspiele und andere
       Großveranstaltungen (25 Prozent) sowie Einsätze außerhalb von
       Großveranstaltungen (20 Prozent), beispielsweise Verkehrskontrollen. Ein
       erheblicher Anteil der Befragten sei zunächst unbeteiligt gewesen, habe den
       Polizeieinsatz ursprünglich nur beobachtet.
       
       Etwa ein Drittel der Betroffenen schildert, für sie sei kein Grund
       ersichtlich gewesen, warum sich Handlungen der Polizei überhaupt gegen sie
       richteten. Über die Hälfte berichtet schnelle Eskalation: dass keine zwei
       Minuten vergingen zwischen dem ersten Kontakt bis zur Gewaltanwendung.
       
       ## Ohnmachtsgefühle
       
       Bei den körperlichen Folgen dominieren leichtere bis mittelschwere
       Verletzungen, wie Prellungen und Blutergüsse. Knapp 20 Prozent der
       Befragten geben an, schwere Verletzungen erlitten zu haben, wie
       Knochenbrüche, schwere Kopf- und innere Verletzungen. Manche berichten von
       bleibenden Schäden (4 Prozent).
       
       Von psychischen Folgen berichten über 80 Prozent, insbesondere “Wut, Angst
       oder Unwohlsein beim Anblick der Polizei“. Über die Hälfte sagt, sie meide
       ähnliche Situationen. Auch von größerer Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit,
       Schlafstörungen und Freudlosigkeit berichten Betroffene. Etwa ein Drittel
       hätte aufgrund körperlicher Folgen ärztliche Hilfe aufgesucht, von
       psychologischer Hilfe berichten knapp 10 Prozent.
       
       Anzeige erstatteten nur 9 Prozent. Viele von ihnen sagen, dass sie weitere
       Fälle unrechtmäßiger Gewalt verhindern wollten. Betroffene, die nicht
       anzeigten, begründeten das dagegen mit dem Gefühl, eh keine Chance zu
       haben. “Viele nennen Angst vor einer Gegenanzeige, das Gefühl, dass ihnen
       niemand glaubt, und die Nichtidenzifizierbarkeit der Beamt*innen“, sagt
       Singelnstein der taz.
       
       Tatsächlich hätten Staatsanwaltschaften fast alle abgeschlossenen Verfahren
       der Betroffenen ohne Anklage eingestellt (93 Prozent). Häufiger Grund auch
       hier: Nichtidentifizierbarkeit. Dass die ein derart zentrales Problem sei,
       habe er nicht erwartet, sagt Singelnstein. Aber: „Es ließe sich einfach
       lösen, durch Kennzeichnungspflicht. Flächendeckend, nicht nur in einigen
       Bundesländern.“
       
       Auch brauche es eine separate Stelle, an die Betroffene sich wenden können.
       “Die Polizei wird solche Probleme haben, solange Gewalteinsatz zu ihren
       Aufgaben gehört. Sie ist eine Institution mit über 200.000 Menschen:
       Natürlich gibt es Beamt*innen, die ihre Autorität für Misshandlungen
       missbrauchen. Die Frage ist vor allem, wie die Polizei mit diesem Problem
       umgeht.“ Das Forschungsprojekt arbeitet auch mit Polizist*innen und ist bis
       2020 geplant.
       
       17 Sep 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Polizeigewalt/!5618971
   DIR [2] https://kviapol.rub.de/index.php/inhalte/zwischenbericht
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anett Selle
       
       ## TAGS
       
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