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       # taz.de -- Kolumne Wir retten die Welt: Irrsinn der praktischen Vernunft
       
       > Der Begriff „Vernunft“ ist zu einem Kantholz des Kapitalismus verkommen.
       > Das zeigt das Urteil zum Kükenschreddern.
       
   IMG Bild: Das massenweise Kükenschreddern bleibt vorübergehend erlaubt
       
       Es war Blödsinn und wahrscheinlich auch gefährlich. Aber doch auch
       irgendwie notwendig. Den ganzen Tag war es schwül wie im Dampfbad gewesen.
       Und gerade als ich abends aufs Fahrrad stieg, um zum Baden zu fahren,
       begann das Gewitter. Am See angekommen, war ich klatschnass, über mir
       rollte der Donner und zuckten die Blitze. Als der Sturm ein bisschen
       weitergezogen war, ging ich trotz Gegrummel und Geblitze für ein paar
       Minuten ins Wasser. Nein, vernünftig war das wirklich nicht.
       
       Aber immerhin: Es war meine eigene private Unvernunft, die nur mir
       geschadet hätte, wenn mich im See ein himmlischer Elektroschock gegrillt
       hätte. Diese falsche Entscheidung hätte keinem geschadet – außer vielleicht
       meiner Familie oder den LeserInnen dieser kleinen Kolumne. Privat treffen
       wir ja ohnehin jeden Tag mehr oder weniger rational in vielen Bereichen
       unsere Wahl.
       
       Es ist aber etwas ganz anderes, wenn im Namen des Volkes das
       Bundesverwaltungsgericht befindet: Für die nächste Zeit sei es noch
       „vernünftig“, [1][jährlich 45 Millionen Küken gleich nach dem Schlüpfen zu
       töten], nur weil sie das falsche Geschlecht haben. Ethisch ist das ein
       Skandal. Vor allem zeigt es, wie sehr der Begriff „Vernunft“ zu einem
       Kantholz des Kapitalismus verkommen ist. Auch ohne einen Exkurs durch 3.000
       Jahre Philosophiegeschichte sollte klar sein, dass Vernunft das „Vermögen
       zur Erkenntnis“ ist. Rational ist, was logisch, angemessen und für
       möglichst viele möglichst gut ist.
       
       [2][Das ist die industrielle Landwirtschaft sicher nicht. Im Gegenteil: Sie
       erzeugt millionenfaches Leid und zerstört unsere Lebensgrundlagen.] Wie
       kann das vernünftig sein? Nur wenn man eine „Vernunft“ akzeptiert, die für
       Kostenreduktion und Optimierung der industriellen Verwertungsmaschine des
       Lebens über Leichen geht. Diese „Vernunft“ kann sich nichts anderes
       vorstellen, als dass diese Form der Nahrungsherstellung die beste oder
       einzige Möglichkeit ist, um uns zu ernähren. Aber diese Annahme ist
       irrational.
       
       ## Gerichte: Auch Kohle dient „Allgemeinwohl“
       
       Ganz ähnlich ist das beim „Gemeinwohl“. Immer noch werden Dörfer zerstört
       und Menschen enteignet, weil sie der Braunkohle im Weg stehen. Begründet
       wird das auch von den höchsten Gerichten damit, die Energiegewinnung aus
       der Kohle diene dem „Allgemeinwohl“.
       
       Das ist heutzutage aber komplett irre: Erstens können wir den Strom anders
       produzieren, zweitens ruinieren die Kohlekraftwerke fleißig genau das
       Allgemeinwohl, das wir „stabiles Klima“ und Heimat nennen. Auch Autobahnen
       werden gern mit dem „Gemeinwohl“ begründet, ebenso wie jede Art von
       Wirtschaftswachstum, so zerstörerisch es auch sein mag: Schafft es Jobs und
       Profit, trägt es nach dieser Lesart zum Gemeinwohl bei, auch wenn es eher
       das Gemeinunwohl fördert. So ist das in einem Wirtschaftssystem, das selbst
       noch über Wachstum jubelt, wenn es darin besteht, die Schäden des Wachstums
       zu beseitigen.
       
       Angebliche Vernunft und vorgetäuschtes Gemeinwohl gelten in unserer Ordnung
       immer dann viel, wenn sie ein System stabilisieren, das unsere
       Lebensgrundlagen destabilisiert. Bei so viel rationalem Verhalten kann es
       nur helfen, ab und zu komplett unvernünftig zu handeln. Man muss ja nicht
       gleich bei Gewitter schwimmen gehen.
       
       14 Jun 2019
       
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