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       # taz.de -- Kommentar Fußball-Patriotismus: Ein Fetzen Euphorie für Einfältige
       
       > Bald ist wieder Zeit für entfesselten Patriotismus und Nationalflaggen.
       > Zur WM wird die größte Gemeinschaft beschworen, die der Deutsche kennt.
       
   IMG Bild: Das Grundgesetz flattert halt nicht so hübsch im Wind
       
       Ein Krieg steht vor der Tür, doch keine Sorge, Deutschland, Rettung naht:
       „Mit dieser Deutschlandfahne sind Sie für die kommende WM bestens gerüstet!
       Bekennen Sie bei den anstehenden Feiern, Public Viewings und Gartenpartys
       Farbe!“ Sich rüsten, Farbe bekennen, zwei Ausrufezeichen – ja, bald ist es
       wieder soweit, am 14. Juni beginnt die Fußball-WM und der Handel macht
       mobil für die große Schlacht. Die beteiligten Heere wollen schließlich
       ausgestattet sein mit ausreichend Hoheitszeichen, um dem Höhepunkt ihres
       sonst so trostlosen Daseins, dem zyklisch wiederkehrenden nationalen Taumel
       in schwarz-rot-goldner Einfalt gebührend entgegenfiebern zu können.
       
       Als am 8. Juli 1990 im römischen Olympiastadion der Schlusspfiff des
       WM-Finales der westdeutschen Mannschaft den WM-Titel bescherte, hallte
       donnernder Jubel von Rostock bis nach Garmisch, von Aachen bis nach
       Frankfurt/Oder. Die Einheit ideell vollzogen drei Monate vor dem
       offiziellen Termin, die Gemeinschaft geschmiedet, noch bevor die Pässe
       umgetauscht waren. Fahnen aber hatten alle schon und schwenkten sie auch
       fleißig. Schwarz-Rot-Gold. Wer sich nicht völlig benebelt dem patriotischen
       Rausch ergeben wollte, wurde abgestraft, die Grünen und auch Oskar
       Lafontaine erinnern sich nur zu gut an die Niederlage zur ersten
       gesamtdeutschen Bundestagswahl.
       
       Seitdem gewann die deutsche Herren-Fußballnationalmannschaft noch zwei
       große Titel, die Europameisterschaft im Jahr 1996 und die Weltmeisterschaft
       2014. Der Gipfel der Fahnenschwenkerei aber wurde unterwegs erklommen. 2006
       erreichte „Die Mannschaft“ zwar nur das WM-Halbfinale, als Austragungsland
       jedoch versank Deutschland in einem Ozean von Flaggen. Das sogenannte
       Sommermärchen war der Dammbruch des prononcierten Patriotismus.
       
       Was vorher noch recht verdruckst nach nationalem Anschluss suchte, fühlte
       sich nun berufen, ganz offen und „entspannt“ Farbe zu bekennen, eine
       riesige Party der Massen in schwarz-rot-goldner Rüstung. Eine Party, die
       naturgemäß davon lebte, das eigene vom anderen zu unterscheiden, die
       anderen zu besiegen vor allem, und sei es nur symbolisch auf dem Platz.
       Wenn die Welt zu Gast bei Freunden ist, reicht es anscheinend nicht,
       gemeinsam ein Bier zu trinken, nein, es muss ordentlich gekämpft werden.
       Man muss Flagge zeigen.
       
       ## Die größte Gemeinschaft für den Deutschen ist die nationale
       
       Das Stadion ist Kriegsschauplatz, zivilisiert und regelfest zwar, die
       Heimatfront auf den Rängen aber jubelt den heldischen nationalen Athleten
       zu, grad so als hieße es, in wenigen Augenblicken die Festung Brest zu
       nehmen. Es geht ums Ganze, um uns, um Deutschland. Die größte Gemeinschaft,
       die der Deutsche kennt, ist und bleibt eben die nationale. Kein politisches
       oder soziales Ziel, kein Links und kein Rechts können je so groß sein wie
       die Nation – ein poröser Klumpen zweifelhaften Glanzes, mehr Gefühl als
       Idee, dem anzugehören ein Geburtsrecht ist, das noch jede Unzulänglichkeit
       in Status und Vermögen, jede Zurückgesetztheit, jede Erniedrigung der
       eigenen atomisierten Existenz zu überstrahlen vermag.
       
       Zusammengehalten wird dieser nationale Klumpen von der Fahne. Sie ist dem
       Patrioten wärmende Hülle vor den Stürmen der Zeit und hält die anderen
       draußen. Dieser Ausschluss kann dabei schnell soweit gehen, dass nicht nur
       feindliche Beflaggung, sondern schon Unwille oder Desinteresse überhaupt
       irgendwelche Farben zu tragen, zu Irritationen und sogar Aggression führen
       können. Wer nicht mit Haut und Haaren, Blut und Boden mit uns ist, ist
       gegen uns.
       
       Dass es durchaus auch ohne Fahne geht, zeigte ausgerechnet Angela Merkel,
       die ja schon von Berufs wegen eher häufig mit der schwarz-rot-goldnen
       Trikolore konfrontiert ist. Legendär sind ihr genervter Blick und beherzter
       Griff, als sie dem selbstbesoffenen Hermann Gröhe bei der CDU-Wahlparty im
       Jahr 2013 die Fahne aus der Hand rupfte und achtlos beiseite tat. Für einen
       Augenblick war der magische Bannkreis unterbrochen, die Nationalflagge
       ihrer beliebigen Heiligkeit beraubt und zu dem albernen Stück Stoff
       geworden, das sie schon immer war: ein Euphoriefetzen bestenfalls, an dem
       schlichtere Gemüter sich festhalten mögen.
       
       Der Renaissance des Patriotismus, dem selbst sonst ganz kluge Zeitgenossen
       auf den Leim gehen, tun solch trübe Lichtblicke keinen Abbruch. Als der
       kleine, irgendwie süßere Cousin des Nationalismus, erlaubt der Patriotismus
       auch empfindsameren Naturen die Flucht vor der kalten sozialen Realität in
       den weichen Schoß der nationalen Gemeinschaft. Die absurdesten Vertreter
       dieser Gattung sind dabei die Verfassungspatrioten. Sie haben immerhin ganz
       aufmerksam den hohen und zu verteidigenden Wert bürgerlicher Rechtsordnung
       und Freiheitsgarantien bemerkt, können und wollen diese aber nicht jenseits
       des beschränkt Nationalen denken. Und wenn es um Fußball geht, dann ist
       auch der Verfassungspatriot ganz bei seiner Rotte, mit der Fahne in der
       Hand. Das Grundgesetz flattert halt nicht so hübsch im Wind.
       
       ## Wer bleibt bei all der Deutschigkeit auf der Strecke?
       
       Jenen, die nun aber wirklich auf Verfassung, Freiheit, Rechtsstaat pfeifen,
       wird das Spiel von den unschuldigen Fahnenschwenkern allzu leicht gemacht.
       Als der Grüne Cem Özdemir der AfD im Bundestag in einer von ehrlicher
       Empörung und erfrischender diskursiver Angriffslust getragenen Rede
       schließlich unter großem Applaus vorwarf (!), ihre Abgeordneten würden bei
       der WM doch heimlich zu den Russen halten, war das ein befremdlicher
       Moment. Özdemir machte en passant unmissverständlich deutlich, worum es bei
       so einer WM und der Beflaggung geht: nicht um das sportliche Ereignis und
       den Spaß nämlich, sondern um die verpflichtende Ertüchtigung nationaler
       Zusammengehörigkeit. Zugleich öffnet eine solche Debattenführung die Tür zu
       dem wirklich gefährlichen Wettstreit darum, wer nun der deutschere Deutsche
       sei. Gefährlich ist das unter anderem deshalb, weil kaum jemand zu sagen
       weiß, wer bei all der überdeutschten Deutschigkeit am Ende auf der Strecke
       bleiben wird.
       
       Andererseits jedoch dürfte für einen kurzen Moment von einem ganz famosen
       Schauspiel geträumt werden: Özdemir und Nahles und Lindner, Gröhe,
       Wagenknecht wetteifern auf einer Tribüne in Moskau mit Höcke und Storch
       darum, wer wohl den patriotischsten Sturm zu entfachen vermag. Beseelt
       schwenken sie riesige, gigantische, also so richtig deutsche
       Deutschlandfahnen, die ihnen dann mit missmutiger Beiläufigkeit von Angela
       Merkel entrissen und in den Staub geworfen werden. Die überdimensionierten
       Stofffetzen drohen nämlich, der fußballbegeisterten Kanzlerin die Sicht auf
       das Spiel zu nehmen. Für dieses Bild allein ließe sich wiederum ganz
       ungeniert auf eine deutsche Finalteilnahme hoffen. Die müssten ja nicht
       auch noch gewinnen.
       
       19 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniél Kretschmar
       
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