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       # taz.de -- Kommentar Tempolimit in Deutschland: Die Nation ausbremsen
       
       > Klimaschutz, klar. Doch ein Tempolimit brauchen wir auch zur Überwindung
       > gewisser Männlichkeitsbilder und der deutschnationalen Identität.
       
   IMG Bild: Viele reden von Verlangsamung – auch dazu könnte ein Tempolimit beitragen
       
       In Deutschland wurde vieles erfunden. Deutschland, so heißt es immer
       wieder, ist die Nation der Dichter, Denker und Maschinenbauer und fast alle
       von ihnen sind – so behauptet es die vorherrschende Geschichtsschreibung –
       Männer.
       
       Bei Wikipedia findet sich [1][eine Liste von diesen deutschen Männern] und
       ihren erfinderischen Errungenschaften. Die Welt verdankt ihnen etwa den
       Eierschneider, der ein steinhart gekochtes Ei mit nur einem Handgriff in
       akkurate, gleich breite Scheiben zerteilen kann. Und natürlich lässt sich
       keine deutsche Innovationsgeschichte ohne die wegweisenden Erfolge der
       Automobilindustrie erzählen.
       
       Das Jahr 1885 gilt vielen Kraftfahrzeugenthusiast*innen als
       Geburtsstunde des Automobils. Damals entwickelte der Ingenieur und
       Unternehmer Carl Benz das erste Auto mit Verbrennungsmotor. Ein Jahr später
       meldete er es zum Patent an. Der „Benz-Patent-Motorwagen Nummer 1“ fuhr
       eine Höchstgeschwindigkeit von 16 km/h und verbrauchte knappe zehn Liter
       Benzin auf 100 Kilometern.
       
       Vor allem aber war das Auto, das damals optisch noch eher an eine Kutsche
       oder ein Fahrrad erinnerte, auch eins: die maschinengewordene Identität des
       deutschen Mannes. Fortschrittlich, frei, uneingeschränkt und dabei immer
       auch ein bisschen dreckig.
       
       Dieses anstrengende Männlichkeitsbild verkauft sich bis heute gut, auch im
       Tourismussektor: Einen Sportwagen auf deutschen Autobahnabschnitten ohne
       Geschwindigkeitsbegrenzung zu fahren, vermarkten verschiedene
       Reiseanbieter*innen als „stunning experience“. Für 700 Euro aufwärts können
       Fans der German Autobahnerfahrung in einem Flitzer ihrer Wahl mal so
       richtig durchdrehen und angeblich sogar die 300-Stundenkilometer-Grenze
       knacken.
       
       Doch die Autofahrer*innen sehen ihre motorisierte Freiheit auf Deutschlands
       Straßen zunehmend bedroht. [2][Und dabei geht es um mehr] als die
       offensichtlichen wirtschaftlichen Interessen der Autolobby. Es könnte zu
       Ende gehen mit einem wesentlichen Merkmal der deutschen Identität.
       
       ## Der Seitenstreifen der Debatte
       
       Zu Beginn letzter Woche schlug die Kommission Nationale Plattform der
       Zukunft der Mobilität der Bundesregierung vor, neben Steuererhöhungen auf
       Treibstoffe und einer verpflichtende Quote für Elektroautos auch ein
       allgemeines Tempolimit auf den deutschen Autobahnen einzuführen. [3][Die
       Empörung ist groß] und die bloße Vorstellung des gemäßigten Fahrens für
       manch eine*n entsetzlich.
       
       Denn hier geht es um ein Verbot, um die Einschränkung der motorisierten
       Freiheit. Der grenzenlose Möglichkeitsraum der linken Spur, der
       Nervenkitzel des bis zum Anschlag durchgedrückten Gaspedals – das scheint
       in diesem Land für viele ähnlich stark zum nationalen Selbstverständnis zu
       gehören wie das Waffenrecht in den USA. Wer da für das größere Ganze und
       die Zukunft unseres Planeten eine Einschränkung fordert, wird schnell als
       Dieselhasser*in betitelt.
       
       Dabei liegen die Vorteile des Tempolimits für Menschheit und Umwelt auf der
       Hand: Langsamer fahren ist besser für das Klima und rettet Leben. Ein
       Tempolimit auf deutschen Autobahnen wäre ein kleines, aber konsequentes
       politisches Bekenntnis zum Klimaschutz und gegen die Interessen der allzeit
       verwöhnten Autolobby. Der großartigste Nebeneffekt von 130 km/h liegt
       jedoch ein wenig unscheinbar auf dem Seitenstreifen der Debatte: Das
       Tempolimit ist im Wesentlichen antideutsch. Denn mit seiner Durchsetzung
       würde ein wesentlicher Teil deutsch-nationaler Identität sterben.
       
       ## Bremsen gegen Deutschland
       
       Träumen Sie ruhig mal ein bisschen mit mir, im Sinne von the only good
       nation is imagination. Bremsen gegen Deutschland. Langsam aber sicher geht
       eine überholte Idee des deutschen (und irgendwie auch sehr männlichen) Ichs
       unter. Das rettet zum einen ganze Generationen von Fahrschüler*innen vor
       kalten Schweißausbrüchen und Todesängsten, wenn sie auf der A 36 Richtung
       Harz das Gaspedal „einfach mal schön durchdrücken“ sollen. Und andererseits
       könnte mit den fünf schwarzen Diagonalen auf weißem, rundem Untergrund auch
       das Gefühl der deutschen Überlegenheit in der internationalen
       Automobilbranche verschwinden.
       
       Ernst zu nehmende Innovation und zukunftsfähiger Veränderungswille kommen
       da ohnehin längst woanders her. Aus China zum Beispiel, wo in vielen
       Großstädten die Zulassungen für Benziner und Diesel nur noch per Lotterie
       ausgegeben werden, Elektroautos aber sofort auf die Straße dürfen.
       Vielleicht ist der Tod der deutschen Autofahrernation ohnehin längst
       unausweichlich.
       
       Wenn dem so ist, darf man hoffen, dass erst die Narrenfreiheit der
       Autobahnraser*innen dran glauben muss, und dann die ganze absurde
       Vorstellung einer kulturell und ethnisch homogenen Gemeinschaft. Eine der
       größten und zugleich problematischsten Erfindungen bleibt nämlich die
       Nation. Schon 1983 beschrieb der US-amerikanische Politikwissenschaftler
       Benedict Anderson in seinem Buch „Imagined Communities“, dass nationale
       Identität vor allem eines sei: Ein Konstrukt – und somit eine Erfindung.
       Und ein Land der innovativen Denker*innen sollte sich doch ständig
       hinterfragen und neu erfinden wollen, oder nicht?
       
       ## Auf dem Weg zur postnationalen Gesellschaft
       
       Was wäre, wenn das Zeitalter vorbei wäre, in dem sich Deutschland über die
       Freiheit der Autobahn definieren kann? Es müssten sich eben andere
       identitätsstiftende Dinge finden. Deutschland, Ort der Gleichstellung.
       Deutschland, Land sozialer Gerechtigkeit. Deutschland, wo selbst eine
       [4][vom Aussterben bedrohte Mopsfledermaus] voll Zuversicht in den
       Sonnenuntergang flattern kann. Und das alles dank des Tempolimits.
       
       Natürlich können Sie dieses Gedankenspiel weit hergeholt finden. Aber an
       irgendeiner Säule der sogenannten deutschen Leitkultur muss man auf dem Weg
       zur postnationalen Gesellschaft ja zu sägen anfangen. Und vermeintlich
       kleine Dinge können bekanntlich oft etwas Großes anstoßen.
       
       29 Jan 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_deutscher_Erfinder_und_Entdecker
   DIR [2] /Gruene-attackieren-Scheuer/!5568177
   DIR [3] /Klimaschutz-in-der-Verkehrspolitik/!5566606
   DIR [4] /Windkraftraeder-in-Deutschland/!5378311
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lin Hierse
       
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