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       # taz.de -- Konzertempfehlung für Berlin: Klingendes Wunderwerk
       
       > Der Multiinstrumentalist Hermeto Pascoal ist ein Klangzauberer. Jetzt
       > spielt der 83-jährige Brasilianer beim „Right the Right“-Festival im HKW.
       
   IMG Bild: Hermeto Pascoal und seine Bandkollegen
       
       Eine zeitlebens genauso altersweise wie kindsköpfige, kapriziöse wie
       visionäre Erscheinung ist Hermeto Pascoal. Mit Paco de Lucía einst
       freundschaftlich und in gegenseitiger Bewunderung verbandelt, kam es vor
       lauter Ehrfurcht jedoch nie zum gemeinsamen Musizieren. Mit Miles Davis
       dagegen schon, um 1970 herum. Der pries den Tausendsassa aus Brasilien als
       einen der weltweit bedeutendsten Musiker.
       
       Fast ein halbes Jahrhundert Lebenszeit später treibt Pascoal, der auch
       gerade in politisch schwierigen Zeiten auf die Musik als ein starkes
       Bollwerk schwört, weiterhin unbeirrt sein stilistisch flirrendes,
       weitschweifiges Unwesen. Ein Ende scheint für den 83-Jährigen und seine
       Fans unvorstellbar oder zumindest nicht in Sicht zu sein.
       
       Und er war wieder nicht da in Las Vegas. Als man ihn, heute vor einer
       Woche, bei den 20. Latin Grammys mit einer Trophäe versah, war Hermeto
       Pascoal samt Band schon irgendwo zwischen Zürich und Bologna unterwegs. Und
       wer weiß, vielleicht pinselte er just im feierlichen Moment eins dieser
       großen Blätter mit einer neuen Partitur voll, um sie mit seinen Mitmusikern
       tags darauf, im nächsten Konzert bereits in die Tat umzusetzen?
       
       ## Freude über den Grammy
       
       Ein paar dieser allein optisch sehr lebhaft anmutenden Überraschungswerke
       finden sich in den Facebook-Posts zur bisherigen Tour. Dort liest man auch
       von der kollektiven Freude über die neuerliche Latin-Grammy-Auszeichnung.
       Nachdem 2018 ein Album mit Big Band den Latin-Jazz-Preis erhielt, wurde nun
       „Hermeto Pascoal e sua Visão Original do Forró“ in der Kategorie „ Bestes
       portugiesischsprachiges Roots-Album“ prämiert.
       
       In dieser – warum auch immer – erst fast 20 Jahre nach Entstehen
       veröffentlichten Aufnahme durchforstet Pascoal in vergleichsweise
       orthodoxer Gangart die vitale Tradition von Forró und Frevo: Zwei der
       potentesten, längst auch international bekannteren Musik- und Tanzstile aus
       dem Nordosten Brasiliens.
       
       Von dort, aus dem Bundesstaat Alagoas stammt auch der so ziemlich alles –
       vor allem Akkordeon, Blas- und Tasteninstrumente – versiert und
       einfallsreich spielende Autodidakt. Zudem umgibt sich der eher intuitiv
       vorgehende Multiinstrumentalist, der sich erst in seinen Vierzigern
       musiktheoretisch beschlug, auf der Konzertbühne und im Studio mit allerlei
       selbst gebautem Schlagwerk, klangspendenem Natur- und Alltagsobjekten – zum
       Beispiel einem kleinen Plastikschwein. Für den „Mago dos sons“, diesen
       konsequent eklektizistischen „Klangzauberer“, ist alles Musik, alles Klang;
       gibt es nichts Hierarchisches in deren Beschaffenheit und Entstehung.
       
       Als „universale Musik“ bezeichnet Pascoal, was er in diversen
       Bandkonstellationen zelebriert oder mitunter auch mal im Alleingang (wie
       auf dem von Sohn Fábio produzierten Album „Eu e Eles“ von 1999): „Eine
       Mischung aus Musikern der ganzen Welt, mit den unvorstellbarsten
       Einflüssen, die Sie sich nur denken können. Bei mir sind das vor allem
       meine Einflüsse, aber wir haben alle verschiedene. Ich selber sage, dass
       ich als Person Brasilianer, als Musiker aber universal bin“, so fasst
       Pascoal im Booklet des aktuellen Albums seine Maxime zusammen, der er sein
       Künstlerleben lang folgt und mit ihm seine nicht minder freiheitsliebenden
       Musiker.
       
       Vorneweg sein langjährigstes Bandmitglied, der Bassist Itiberê Zwarg. Der
       bestreitet samt seines Schlagzeug spielenden Sohns Ajurinã und drei
       weiteren Musikern, darunter der exzellente Pianist André Marques, auch die
       aktuelle Tour. Ajurinã Zwarg und Schwester Mariana, eine ebenso lustvoll
       zwischen Jazz und brasilianischen Traditionen vermittelnde Flötistin, sind
       durch ihren Vater durch und durch „hermetoisiert“, weil von klein auf in
       Tuchfühlung mit Pascoals so allumfassenden wie eigenwilligen Musikwelten.
       
       ## Band als Family Affair
       
       Und auch der 57-jährige Sohn Fábio Pascoal ist längst Teil dieser
       musikalisch agilen, nachhaltigen Family Affair. Der Perkussionist war
       ebenfalls 2015 in Ludwigsburg und Berlin mit dabei, als aus dem üppigen,
       inzwischen wohl schon um die 10.000 Kompositionen umfassenden Werk seines
       Vaters ein klitzekleiner Ausschnitt vom Andromeda Mega Express Orchestra
       beackert wurde.
       
       Laut Hermeto Pascoal spielte er bei jenen Gemeinschaftskonzerten mit dem
       18-köpfigen, musikalisch seelenverwandten Berliner Klangkörper seine eigene
       Musik erstmals von anderen arrangiert. Während der stets farbenfroh
       gewandete und strohbehütete Mann mit dem weißen Rauschebart diese damals
       neue Erfahrung offenbar vollends genoss, gab er sich bei einer anderen
       Premiere zehn Jahre zuvor, 2005 beim Berliner Jazzfest als mürrischer Divo
       zu erkennen:
       
       Im Zusammenspiel, der allerersten Begegnung überhaupt mit dem renommierten
       niederländischen Schlagzeuger Han Bennink warf der kleine, stämmige
       Temperamentsbolzen urplötzlich und kaum, dass es begonnen hatte, das
       Handtuch. Der Kollege spielte allein weiter, und Pascoal ließ sich erst mit
       seiner eigenen Band später wieder auf der Bühne blicken. Wer musikalisch
       außerordentlich, im besten, kreativsten Sinne verrückt ist, der kommt
       womöglich auch nicht ganz ohne solche Verschrobenheiten aus.
       
       20 Nov 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Wilke
       
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