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       # taz.de -- Kostenloser Nahverkehr in Luxemburg: In vollen Zügen genießen
       
       > Mit Bus und Bahn umsonst durchs ganze Land: Ein soziales und ökologisches
       > Musterbeispiel oder nur ein Prestigeprojekt?
       
   IMG Bild: Geschlossene Fahrkartenschalter: Bahnhof Pfaffenthal-Kirchberg in Luxemburg
       
       Thionville/Luxemburg-Stadt taz | Die Mosel führt Hochwasser, oben auf der
       Brücke ist reichlich Betrieb. Um kurz nach halb acht an diesem frischen
       Montagmorgen bewegt sich ein stetiger Fluss meist gut gekleideter Menschen
       aus dem Zentrum von Thionville hinüber in Richtung Bahnhof. Auf Gleis F
       steht der 7.47-Uhr-Zug bereit. Sitzplätze gibt es keine mehr, die Fahrgäste
       drängen aus dem Türbereich bis in die Gänge. „Luxembourg“, ruft der
       Lokführer einem heraneilenden Mann zu, der eben noch einsteigen kann, bevor
       der Zug sich in Bewegung setzt.
       
       In Thionville, einem französischen grenznahen 40.000-Einwohner-Städtchen,
       beginnt jeder Arbeitstag so. Nutzten im Jahr 2006 noch 1,9 Millionen
       Passagiere die Verbindung nach Luxemburg-Stadt, sind es nun 4,5 Millionen –
       das ist ein Fünftel aller Passagiere der luxemburgischen
       Eisenbahngesellschaft CFL. Nun müssen sie ab der Grenze nichts mehr
       bezahlen (siehe Kasten). Ist es dadurch voller am Bahnsteig?
       
       Der französische Schaffner auf Gleis C schüttelt den Kopf. Stoßzeit in
       Thionville sieht immer so aus. Die lothringische Grenzregion stellt knapp
       die Hälfte des Pendleraufkommens in Richtung des Großherzogtums.
       
       Unterdessen hat sich der Bahnsteig erneut gefüllt. Zehn Minuten später geht
       die nächste Fuhre nach Luxemburg ab. Soeben ist ein gut besetzter Zug aus
       Metz angekommen, erklärt Badr Boushabi beim Einsteigen. Dutzende Passagiere
       hasten die Treppen hinunter und erscheinen sogleich wieder auf Gleis C.
       Boushabi, ein trotz grauen Barts jugendlich wirkender Asset Manager,
       arbeitet seit 12 Jahren wie sehr viele Mitpendler in der Finanzindustrie
       Luxemburgs. Den Gratisverkehr hält er für eine gute Idee. „Ich hoffe, dass
       es funktioniert. Aber ich denke, dass die Menschen, die in Kirchberg
       arbeiten, dem neuen Bankenzentrum, weiter das Auto nehmen. Sonst brauchen
       sie eine halbe Stunde länger.“
       
       ## Nur die Wenigsten wollen das Auto stehenlassen
       
       Badr Boushabi könnte durchaus recht behalten. Dafür spricht zumindest eine
       Umfrage der Zeitung Luxemburger Wort, die veröffentlicht wurde, kurz bevor
       Luxemburg am Sonntag als erstes Land der Welt [1][Busse und Bahnen gratis]
       machte. Von knapp 1.500 Teilnehmern wollten nur 15 Prozent ihr Auto
       „künftig stehen lassen“. Fünfundzwanzig Prozent möchten dem öffentlichen
       Verkehr eine Chance geben, sind jedoch „skeptisch“. Der Rest bleibt lieber
       beim Auto: 31 Prozent, weil dies „schneller und komfortabler“ sei, 28
       Prozent, weil der Job „eine Anfahrt mit Zug oder Bus nicht zulässt“.
       
       An Bord der Züge auf der Strecke bestätigt sich dieses Bild. Wen man auch
       fragt in diesen Tagen, allesamt sind die Reisenden im Rhythmus der
       täglichen Arbeit unterwegs. Das Gratiskonzept wird durchweg begrüßt,
       monatliche Reisekosten, heißt es, sollten etwa von 88 Euro auf 40 Euro
       sinken – weil jenseits der luxemburgischen Grenze ja weiter für die
       Beförderung gezahlt werden muss.
       
       Die 30-jährige Sandy aus Thionville, auf einem der Klappsitze im Gang
       kauernd, arbeitet seit drei Jahren als Rezeptionistin in einer Bank in
       Luxemburg. Die Bezahlung sei deutlich besser als bei einer vergleichbaren
       Position in Frankreich. Auch viele ihrer Bekannten arbeiteten in Luxemburg.
       Etwa die Hälfte der Grenzgänger, schätzt sie, komme mit dem Auto.
       
       Welchen Stellenwert der Pendelverkehr in den letzten Jahren bekommen hat,
       sieht man in Hettange Grande. Der kleine Ort liegt auf halbem Weg von
       Thionville zur Grenze. Pascal Rith und seine Frau sind hier gerade nach
       einer langen Arbeitswoche angekommen. In der Dämmerung zeigt Rith, der bald
       in Rente geht und bei einer Versicherung in Luxemburg angestellt ist, auf
       das alte verlassene Bahnhofsgebäude. „Seit 2000 hält der Zug wieder hier,
       und zwar wegen der Grenzgänger. Wir haben jetzt 8.000 Einwohner statt
       früher 6.000, und die Mietpreise sind stark gestiegen.“
       
       Monsieur Rith, der seit fast 30 Jahren in Luxemburg arbeitet, findet den
       Gratisverkehr „nur positiv“. Zu bedenken gibt er, dass nicht alle Pendler
       flexible Arbeitszeiten und gut bezahlte Jobs im Finanzsektor hätten. Die
       Züge seien stetig voller geworden und hätten wegen all der Baustellen oft
       Verspätung. Just im Winter hätten schon häufiger Angestellte aus Frankreich
       ihre Arbeit verloren, weil die Chefs das ständige Warten leid waren.
       
       Karine Kouao kommt daher nur dann mit dem Zug, wenn ihre Arbeitsschichten
       es erlauben, so wie an diesem Montag. Auch sie stammt aus dem Lothringer
       Grenzgebiet, und wenn sie zu spät käme, müsste sie wie die anderen Pendler
       wohl auf ihre exquisiten Törtchen verzichten, die es bei der
       prestigeträchtigen Bäckerei Oberweis am Hauptbahnhof in Luxemburg-Stadt zu
       kaufen gibt. Die gut situierte Kundschaft nimmt sich gerne etwas davon mit
       auf die Arbeit oder die Heimfahrt. Karine hat gerade die erste Rushhour
       hinter sich, seit die Fahrt gratis ist. Und wie war sie? “„Sehr voll“, sagt
       sie und verdreht die Augen.
       
       ## Großes Tamtam zur Einführung
       
       Ein paar Kilometer sind es von „der gare“, wie der Bahnhof in der
       Landessprache Lëtzebuergesch heißt, nach Kirchberg, dem neuen
       Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum mit seinen Glasfassaden, das auf einem
       Plateau oberhalb der Stadt liegt. Wenige Tage vor dem Start des
       kostenfreien Nahverkehrs hat das Verkehrsministerium zur feierlicher
       Vorstellung geladen – in ein Kulturzentrum beim neuen Messegelände, das
       sich neben der Wartungshalle der 2017 eingeweihten Tram befindet. Wie stark
       der Wind der Innovation durch das Großherzogtum weht, sieht man nirgends
       mehr als in Kirchberg.
       
       Dass es mit kleinen Brötchen in Luxemburg vorbei ist, spricht auch aus der
       Free-Mobility-Kampagne dieses Winters. Sie vergleicht die kostenfreien
       Bahnen und Busse mit nicht weniger als der Mondlandung. An diesem
       Nachmittag steigt der bekannte Sänger Serge Tonnar als Kontrolleur
       verkleidet vor der internationalen Presse aus einer der bunten neuen Trams.
       „Wir schwanken zwischen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn“, erklärt
       er selbstironisch das Luxemburger Seelenleben.
       
       Verkehrsminister [2][François Bausch] ist einer der profiliertesten Köpfe
       der Luxemburger Grünen, die als Juniorpartner gemeinsam mit Liberalen und
       Sozialdemokraten die Regierung in dem Großherzogtum stellen. Die Bedeutung
       des Themas in dieser Ampelkoalition sieht man am Feuerwerk aus Grafiken und
       Slogans, das er zündet. Dies ist, so viel wird klar, eher politische
       Werbung denn eine Pressekonferenz. Bausch betont dabei neben der
       ökologischen auch die sozialen Ambitionen seiner Regierung: Steuerlich
       finanziert beteilige das Gratiskonzept im Nahverkehr die Gutverdiener
       stärker als die Mittel- und Unterschicht.
       
       Die Feier in Kirchberg ist eben beendet, als die taz Mylène Bianchy ans
       Telefon bekommt. Die Präsidentin der luxemburgischen Eisenbahngewerkschaft
       Syprolux lässt an den Plänen der Regierung kaum ein gutes Haar: Mehr als
       zehn Jahre lang habe man den Bereich Mobilität derart vernachlässigt, dass
       die Bus- und Einsenbahninfrastruktur die angepeilten zusätzlichen
       Passagiere nicht verkraften könne. „Wir sind nicht gegen Gratisverkehr,
       aber das Land ist dafür nicht vorbereitet. Wir befürchten, dass die Leute
       eher vergrault werden. Dies ist ein Bling-Bling-Projekt!“
       
       Sorgen macht sie sich auch um die Menschen, die ihre Gewerkschaft vertritt.
       „Die Schalterbeamten verschwinden. Für unser Personal soll es Umschulungen
       geben. Man will sie zum Beispiel mit einem Tablet auf die Bahnsteige
       schicken, um die Reisenden zu informieren. Es ist aber auch wichtig, dass
       Bahnhöfe besetzt sind, dass es Bahnpersonal gibt, schon aus Gründen der
       Sicherheit.“ Immerhin, sagt Bianchy, habe die Regierung zugesichert, dass
       es keine Entlassungen geben werde.
       
       Für die Schalterbeamten selbst ist die nähere Zukunft eine Wundertüte –
       wenn auch keine sonderlich aufregende. Für den Fahrkartenverkäufer Yannick
       Groff beginnt die neue Zeit eher langweilig. Einen Tag vor der Umstellung
       auf den kostenfreien öffentlichen Nahverkehr liegt an diesem Samstag eine
       museal anmutende Stille über seinem Arbeitsplatz, den er sich mit einem
       anderen jungen Kollegen teilt. „Sie sind mein vierter Kunde in anderthalb
       Stunden“, sagt er und macht einen Vermerk auf einer Liste.
       
       Er klingt dabei so trübe wie er sich fühlt: „Wo wir nun eingesetzt werden,
       wissen wir noch nicht. Wir haben uns für einen Job mit den Kunden
       entschieden, aber der ist nun nichts mehr wert.“ Der Kollege pflichtet ihm
       bei. Sicher sind sie sich dagegen bei etwas anderem: „Das Verkehrsproblem
       wird so nicht gelöst. Wenn noch viele Leute auf den Zug umsteigen, können
       wir die gar nicht unterbringen.“
       
       3 Mar 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Luxemburg/!t5018773/
   DIR [2] https://gouvernement.lu/de/gouvernement/francois-bausch/CV.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Müller
       
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