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       # taz.de -- Kretschmann zu grünen Fehlern: „Das Hemd näher als der Rock“
       
       > Die Grünen stecken im Tief. Baden-Württembergs Ministerpräsident über
       > Fehler in der Migrationspolitik – und welche Lehren die Partei ziehen
       > sollte.
       
   IMG Bild: „Politik mit Augenmaß“: Winfried Kretschmann (re.) mit Robert Habeck am 06.11.23 in Berlin
       
       Herr Ministerpräsident, Bund und Länder haben sich jüngst auf einen
       Migrationspakt geeinigt. Sie haben den Vorschlag der CDU-regierten Ländern
       für Asylverfahren in Drittstaaten mit eingebracht. Glauben Sie wirklich
       daran, dass das human und wirkungsvoll sein kann? 
       
       Ich halte das nicht für den zentralen Punkt unserer Einigung. Das können
       Sie ja schon an der Formulierung erkennen. Wir haben einen Prüfauftrag
       formuliert und klar betont, dass die rechtlichen Standards der Genfer
       Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention bindend
       sind. Für mich steht im Zentrum: Wir haben mit unserem Beschluss einen
       breiten demokratischen Konsens erreicht und einen ganz wichtigen Schritt zu
       mehr Ordnung in der Migrationspolitik gemacht.
       
       Werden Ihnen und Habeck die eigenen Leute auf dem Parteitag folgen? 
       
       Erstens: Diese Idee ist ja nicht neu, sie ist bereits im Koalitionsvertrag
       der Ampel formuliert. Die Partei ist dem also bereits gefolgt. Zweitens:
       Ich habe selbst betont, dass ich mit Blick auf die Umsetzung skeptisch bin,
       weil sie voraussetzungsreich und hochkomplex ist. Warum kann es trotzdem
       lohnenswert sein, sich dieser Idee zu öffnen? Wir sprechen von Humanität
       und Ordnung. Und wenn wir mehr Humanität wollen, müssen wir das Sterben auf
       dem Mittelmeer beenden. Und wir sollten uns in einer solch schwierigen
       Situation Ideen nicht von vornherein verschließen.
       
       Falls sich die Partei darüber zerstreitet: Hat es Potenzial, die Grünen
       wieder zurück in die Nische zu katapultieren? 
       
       Wir haben meiner Ansicht nach einen klaren Kurs mit der Zustimmung zur
       europäischen Einigung GEAS eingeschlagen und mit dem Migrationspaket 2
       bestätigt. Das wird jetzt mit dem Beschluss der
       Ministerpräsidentenkonferenz weitergeführt. Insofern sehe ich uns in der
       Breite da auf einem guten Weg. Ich habe diesen Kurs [1][im gemeinsamen
       Gastbeitrag mit Ricarda Lang] ja kürzlich auch nochmals skizziert.
       
       In Hessen wird dieser Pragmatismus gerade nicht belohnt. Boris Rhein will
       mit der SPD regieren. 
       
       Ich muss sagen: Dass wir ausgerechnet in Hessen mit einem höchst
       pragmatisch agierenden Landesverband [2][aus der Regierung fliegen], das
       ist schon extrem bitter. Und das muss uns als Partei wachrütteln. Der Kurs
       in der Migrationspolitik ist da ganz entscheidend: runter von der Bremse
       bei der Eindämmung der irregulären Migration.
       
       Manche in ihrer Partei nennen das Abschottung. 
       
       Das ist doch Unsinn. Ohne Ordnung herrscht das Recht des Stärkeren.
       Humanität kann es nur in der Ordnung geben. Asyl heißt: Wer verfolgt wird,
       kann herkommen. Das heißt aber doch auch: Wer nicht verfolgt wird, kann
       eben über das Asylrecht nicht kommen, sonst wird das Asylrecht ausgehöhlt.
       Man braucht doch kein Asylrecht, wenn jeder kommen und bleiben kann, wie er
       möchte. Wir müssen die irreguläre Migration begrenzen, sonst kommt das
       Asylrecht unter die Räder. Wenn die Grüne Jugend jetzt von Abschottung
       redet, kann man nur fragen: Wo leben die denn? Wir haben gerade eine
       Million ukrainische Flüchtlinge aufgenommen, allein Baden-Württemberg hat
       doppelt so viele ukrainische Geflüchtete aufgenommen als Frankreich. Das
       ist das Gegenteil von Abschottung.
       
       Was ist es dann? 
       
       Es ist die Voraussetzung, damit die, die wirklich Schutz brauchen,
       aufgenommen, untergebracht und integriert werden können. Wir sind in einer
       Überlast. [3][Die Kommunen sind schlichtweg überfordert]. Es geht da nicht
       mal nur um die Unterbringung. Von den Geflüchteten 2015 haben wir etwa 60
       Prozent in Arbeit und damit auch 40 Prozent im Sozialsystem. Das heißt, mit
       jedem Schwung von Geflüchteten bleibt ein Sockel. Es ist klar, dass man
       irgendwann überlastet ist. Diese Politik ist Einsicht in das Notwendige.
       Das Asylrecht ist eine wichtige zivilisatorische Errungenschaft. Diese
       müssen und werden wir erhalten. Außerdem öffnet die Bundesregierung ja
       jetzt wirklich die Korridore für reguläre Einwanderung. Das klar zu
       trennen, ist zentral, wenn wir die Akzeptanz für Flüchtlinge erhalten
       wollen.
       
       Kritiker sagen, alle beschlossenen Maßnahmen bringen nichts, und das zahle
       dann auch wieder auf das Konto der Rechten ein . 
       
       Es geht doch erst mal darum, die Situation anzuerkennen. Und dafür muss
       meine Partei klären, ob sie überhaupt Begrenzung will. Die, die das nicht
       wollen, sagen meist, ihr bedient rechte Narrative. Die anderen sagen, es
       bringt nichts.
       
       Und Sie? 
       
       Ich glaube, das sind viele Bausteine, die zusammen was bringen. Es ist
       richtig, dass es den einen Hebel nicht gibt und wir die großen Fragen nur
       europäisch lösen können, deshalb ist die GEAS-Reform zum europäischen
       Asylsystem so zentral. Aber in dieser schwierigen Lage müssen wir bereit
       sein, auch kleine Hebel zu ziehen. Zum Beispiel die Bezahlkarte statt
       Bargeld. Das ist keine Abkehr von der Humanität. Aber wir reduzieren den
       Anreiz für irreguläre Migration, da es die Möglichkeiten für Asylbewerber
       einschränkt, Geld zurück in ihre Heimatländer zu überweisen. Wenn wir
       nichts tun in dieser Frage, dann entsteht der Eindruck, der Staat ist
       handlungsunfähig. Das ist die allergefährlichste Botschaft überhaupt! Das
       treibt die Menschen zu den Rechten.
       
       Die Umfragewerte Ihrer Partei gehen im Bund wie in Baden-Württemberg
       zurück. Sehen die Wähler die Grünen als Schönwetter-Partei, die man nicht
       mehr wählt, wenn es ernst wird? 
       
       Das könnte man meinen, aber es ist doch erstaunlich; denn wir haben als
       Partei in den letzten Monaten Enormes geleistet: Wenn man sieht, mit
       welcher Wucht die Außenministerin in der Ukrainekrise agiert hat – als
       Partei, die aus der Friedensbewegung entstanden ist – und wie Robert Habeck
       in der Energiekrise Gas in Katar gekauft und LNG-Terminals gebaut hat.
       Beide haben höchst entschlossen und klar agiert, und wir sind gut über den
       Winter gekommen. Das widerspricht dieser These. Aber es scheint trotzdem so
       zu sein.
       
       Wie kann Ihre Partei Vertrauen zurückgewinnen? 
       
       Wir müssen Lehren aus den letzten Monaten ziehen und zeigen, dass wir
       Politik mit Augenmaß und Pragmatismus machen können – gerade bei der
       Migrationsfrage. Und in der Klimapolitik müssen wir klar in den Zielen,
       aber offen in den Wegen sein. Da nutzt es nichts, wenn man sagt: Die
       Wissenschaft sagt uns aber, das ist ganz dringlich.
       
       Warum nicht? Ist das für die Leute schon zu komplex? 
       
       Den Leuten ist halt das Hemd näher als der Rock, das ist evolutionäre
       Prägung. Die Leute haben weniger Angst vor der nächsten Flutkatastrophe,
       als vor der Finanzierung der nächsten Heizung. Deshalb ist der Satz „Wir
       müssen die Menschen mitnehmen“ eben keine leere Floskel. Macht entsteht,
       nach Hannah Arendt, wenn sich die Menschen um eine Idee versammeln und
       handeln. Wenn sich die Menschen wieder zerstreuen, dann verliert man Macht.
       Wenn die Zustimmung im Volk abnimmt, kommt Kritik aus allen Ecken und es
       wird schwergängig.
       
       Ein wachsender Teil der gesellschaftlichen Mitte hatte sich seit 2018 um
       die grüne Idee versammelt – jetzt sind Teile davon wieder weg. Was ist die
       neue Idee, die diese Leute anzieht? 
       
       Im Moment dominieren nachvollziehbar andere Themen: Migration, Inflation,
       Kriege. Da ist eine tiefe Verunsicherung, die tief in die Mitte reicht und
       Verlustängste auslöst: Unternehmen, die sich fragen, ob sie unter diesen
       Bedingungen noch auf dem Weltmarkt reüssieren können. Familien, die Sorge
       haben, keinen bezahlbaren Wohnraum zu finden. Familien, die es sich
       plötzlich nicht mehr leisten können, zu bauen. Statt Aufstiegszuversicht
       sind das eher Abstiegsängste, die das gesellschaftliche Klima beherrschen.
       
       Was hat die Grünen genau zurückgeworfen? 
       
       Ich fang andersrum an: Wir waren immer dann stark, wenn wir uns als Partei
       erkennbar was zugemutet haben – vom Kosovokrieg bis zum Kohlekompromiss.
       Beim Heizungsgesetz hat sich das umgekehrt. Da ist bei vielen am Anfang das
       Gefühl entstanden: Es wird über uns hinweg entschieden. Man verliert dann
       erst mal Vertrauen. Das sieht man an den Kompetenzzuschreibungen, sogar bei
       der Klimapolitik. Unser Aufstieg ist ja einem Führungsduo zu verdanken …
       
       … Annalena Baerbock und Robert Habeck … 
       
       … das anders aufgetreten ist als die Vorgänger, die sich wöchentlich
       öffentlich gestritten haben. Sie haben einen neuen Kurs eingeschlagen: Wir
       sind eine Bündnispartei, die Mehrheiten jenseits der eigenen
       Stammwählerschaft sucht. Dieser Kurs hat uns stark gemacht. Aber vielleicht
       hat es beim ein oder anderen auch ein Stück dazu geführt, dass etwas von
       der nötigen Demut verloren gegangen ist.
       
       Hätte man beim Gebäudeenergiegesetz mehr aufs Volk hören müssen? 
       
       Ja. Das ist ja jetzt auch bei allen angekommen. Von der Anlage her kommt
       bei uns Grünen oft auch ein Moment großer Staatsgläubigkeit dazu. Aber wir
       leben in einer sozialen Marktwirtschaft. Kein staatliches Konzept kann so
       innovativ sein, wie ein Markt, in dem Tausende von Menschen Ideen haben. Da
       braucht man eher Preissignale, um das zu lenken. Es geht darum, dass wir
       ein kopierfähiges Modell von klimafreundlichem Wohlstand und erfolgreichem
       nachhaltigem Wirtschaften entwickeln, das andere Länder übernehmen, weil
       sie sehen, dass es funktioniert.
       
       Das sagen Sie immer. 
       
       Weil's stimmt. Selbst mit der radikalsten Klimapolitik in Baden-Württemberg
       könnte ich das globale Phänomen des Klimawandels nicht aufhalten. Wir
       müssen zeigen, dass damit der Wohlstand zu sichern ist. Das ist zu sehr in
       den Hintergrund geraten. Der frühere Bosch-Chef hat mal gesagt: „Wir können
       Strukturwandel, aber keine Strukturbrüche“. Ob das bei uns ein, zwei Jahre
       länger oder kürzer dauert, ist am Ende nicht entscheidend.
       
       Sie haben sich in der Unterstützung von Wirtschaftsminister Habeck beim
       Heizungsstreit sehr zurückgehalten. 
       
       Entscheidend war die Korrektur, die er gemacht hat, die verbindliche
       Wärmeplanung der Kommunen: Das haben wir in Baden-Württemberg schon sehr
       früh auf den Weg gebracht. Dabei ist es nicht so, dass wir den Menschen in
       Baden-Württemberg nicht auch Ordnungspolitik zumuten. Wir haben im ersten
       Schritt eine Photovoltaikpflicht für Nicht-Wohngebäude eingeführt und im
       zweiten Schritt für Wohnneubauten und für Bestandsgebäude bei grundlegenden
       Dachsanierungen. Es gab da nur ein leises Grummeln, aber keinen Protest,
       weil es ein klar umgrenzter Eingriff ist, mit überschaubaren Kosten. Wir
       haben seitdem einen steilen Anstieg an Photovoltaik.
       
       Die grüne Sprechformel lautet neuerdings, man habe jetzt so viel in so
       kurzer Zeit gemacht, man müsse das – Zitat Habeck – „einwirken lassen“. Ist
       das nur eine Umschreibung für Kapitulation? 
       
       Sehe ich nicht so. Politik ist die Kunst des Möglichen. Es ist also sehr
       weise, das anzuerkennen. Ich glaube, dass wir den Leuten zurzeit
       offensichtlich auf die Nerven gehen. Die Leute haben das Gefühl, wir sagen
       ihnen, wie sie heizen sollen, wie sie sich fortbewegen sollen, wie sie
       essen sollen, und wir sagen ihnen zum Schluss sogar, wie sie reden dürfen
       und wie nicht.
       
       Das ist das Narrativ der Grünengegner. 
       
       Ja und das geht den Leuten einfach auf den Zeiger. Darum bin ich ganz der
       Meinung von Robert Habeck: Wichtige Dinge haben wir jetzt klimapolitisch
       eingeleitet, und entscheidend ist, dass wir uns nicht im Klein-Klein
       verzetteln, sondern die Dinge kraftvoll anpacken, die richtig viel bringen.
       Ob wir jetzt innerdeutsch fliegen oder nicht, ist größenordnungsmäßig
       einfach irrelevant. Wir müssen Windräder bauen, wir müssen Photovoltaik auf
       die Dächer bringen, wir müssen schnell aus der Kohlekraft aussteigen, und
       wir müssen grüne Technologie massiv vorantreiben, die Produktion
       ressourcen- und energieeffizienter hinkriegen. Etwa, was wir mit der
       Zementindustrie machen. Aber wir müssen nicht auch noch fragen, ob die
       Feuerwehr-Autos auch klimaneutral fahren, denn die fahren nur rum, wenn sie
       zum Einsatz müssen – und das spielt keine Rolle in der Gesamtabrechnung.
       Die Menschen haben genug zu tun mit allem Möglichen, was auf sie
       eindonnert.
       
       Brauchen wir mehr Moral, aber Moralausstoß wirkt bei vielen auch
       kontraproduktiv. Oder brauchen wir weniger Moral, aber noch weniger gelebte
       Moral als wir gerade bei der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen
       praktizieren, wird auch schwierig? 
       
       Wir haben die nötige Moral und die heißt einfach: Wir haben kein Recht,
       diesen Planeten zu zerstören, wir haben ihn nämlich nicht selber gemacht,
       und es ist auch moralisch unumstritten, dass wir unseren Kindern keine
       schlechtere Welt hinterlassen dürfen, als wir sie vorgefunden haben. Das
       genügt an moralischer Fundierung. Die Debatten können wir uns echt sparen.
       
       Was braucht es dann? 
       
       Was wir brauchen, ist mehr Pragmatik, mehr Umsetzung, mehr ökologische
       Marktwirtschaft, mehr Innovationen und vor allem mehr Geschwindigkeit. Wir
       hätten doch überhaupt kein Problem, wenn wir nicht so schnell sein müssten.
       Der Wandel hat ja längst begonnen. Das einzige Problem ist doch die
       Geschwindigkeit: Wir müssen in 20 Jahren das in Ordnung bringen, was die
       Menschheit vorher in 250 Jahren erst unbewusst, dann bewusst angerichtet
       hat. Da haben wir jetzt ganz wichtige Stellschrauben gedreht. Etwa mit dem
       „Wind-an-Land-Gesetz“, das den Ausbau der Regenerativen zum überragenden
       öffentlichen Interesse erklärt. Der Ausbau der Windkraft überragt also
       andere, konkurrierende Interessen, die zurückstehen müssen. Darauf kommt es
       an.
       
       Das ist die Kretschmann/Habeck-Sprechstrategie des ‚Wir sind auf einem
       guten Weg‘. Auf Ihrem Transformatioskongress unlängst hat
       Geschichtsprofessorin Hedwig Richter Ihnen deshalb „Simulation der
       Normalität“ vorgeworfen. Klimaaktivisten fordern, man müsse sagen, wie
       schlimm es wirklich stehe. 
       
       In Panik trifft man keine vernünftigen Entscheidungen. Der Mensch trägt
       atavistische Züge in sich, da muss man nur zur Hamas gucken oder nach
       Russland. So ist die Menschheit, und deswegen ist man einfach immer im
       Kampf und im Krisenmodus. Schon Adenauer hat gesagt: Die Politik ist immer
       in der Not. Aber auf Angst lässt sich keine gute Zukunft aufbauen, sondern
       nur auf Zuversicht.
       
       Woraus speist sich dann im Moment ihre Zuversicht? 
       
       Zum Beispiel daraus, dass die Sonne uns in einer Stunde so viel Energie
       gibt wie die Menschheit in einem Jahr braucht. Das heißt, wenn wir jetzt in
       eine Sonnenenergiewirtschaft gehen, machen wir auf jeden Fall nichts
       falsch. Das werden wir jetzt einfach machen, und zwar so zügig, wie wir es
       ohne Disruptionen hinbekommen. Wir brauchen einfach Handwerker, um es mal
       platt zu sagen, die jetzt die Dinger auf die Dächer schrauben.
       
       Früher waren die Grünen für Apokalypse-Rhetorik zuständig und das schien
       auch Teil der progressiven Kultur zu sein. Heute machen das AfD, CSU,
       Friedrich Merz und Teile der FDP. Das ist ja schon auch ironisch. 
       
       Es gibt kein Leben ohne Ironie. Da kommt der russische Angriffskrieg auf
       die Ukraine, und wir stellen die Außenministerin, und die muss sich mit
       Verve für Waffenlieferungen einsetzen. Dass eine Partei mit pazifistischen
       Wurzeln gerade dann an die Macht kommt, wenn ein brutaler Angriffskrieg
       Europa heimsucht, das ist nicht nur bittere Ironie, das ist das, was Hannah
       Arendt meint, wenn sie sagt, dass Wunder geschehen können in der Politik.
       Jemand macht etwas, von dem man gedacht hätte, das würde der nie machen.
       Durch solche Dinge entsteht doch Bewegung und Dynamik. Diese
       Prognosenmeister wollen immer alles vorausberechnen, und das kann man halt
       nicht, im gutem wie im schlechten. Schauen Sie, ich war als Studierender
       ein linksradikaler Maoist, und jetzt werde ich als konservativer Grüner
       gelistet. Das war ja auch nicht gerade zu erwarten.
       
       Parteiinterne Kritiker halten das nicht für ein Wunder, sondern für eine
       Abstiegsgeschichte. 
       
       Auch das ist das Schöne an einer Demokratie: Wir müssen schauen, dass
       Tatsachen, dass Wahrheiten nicht unter die Räder kommen, aber Urteile
       stehen jedem frei.
       
       In der Bundespolitik gibt es derzeit zwei Munkelbehauptungen: Die nächste
       Bundesregierung werde auf jeden Fall ohne die Grünen sein. Erfolgreiche
       Klimapolitik müsse von anderen gemacht werden und nicht von den Grünen. 
       
       Die Zeiten sind heute so schnelllebig, was politische Stimmungen und
       Verschiebungen angeht, da wäre ich vorsichtig an der Stelle derer, die
       jetzt denken, es ist alles schon ein gemähtes Wiesle und die Grünen können
       wir jetzt mal vergessen. Wir Demokraten haben ein ganz anderes Problem, als
       immer nur zu glotzen, wie man selber gerade da steht: der rasante Aufstieg
       von Rechtspopulisten, praktisch auf der ganzen Welt. Der [4][Lichtblick
       durch die Polenwahl] zeigt aber, dass man so einen Aufstieg auch ausbremsen
       und umkehren kann. Genau darum sollten wir uns alle mehr kümmern, und in
       diesem Sinne so sorgsam miteinander umgehen, dass es einem nachher nicht
       auf die Füße fällt, wenn es Koalitionsfähigkeit unter Demokraten bedarf.
       Das kann ja gut sein, wenn ich an die kommenden Wahlen im Osten denke.
       Deswegen rate ich: Bleiben wir bei den Sachauseinandersetzungen und suchen
       wir nicht einen „Hauptfeind“ unter den demokratischen Parteien. Der
       Hauptfeind sind die Kräfte, die mit der Demokratie an sich im Streit
       liegen.
       
       Wenn man jetzt auf die gesunkene Zustimmung auch für die
       Baden-Württemberg-Grünen schaut: Wird durch eine Abschwächung des berühmten
       Kretschmann-Effekts die Suche nach Ihrem Nachfolger für die Partei noch
       schwieriger? 
       
       Ich regiere jetzt erst mal ordentlich zu Ende.
       
       Einen anderen grünen Ministerpräsidenten zu wählen, das hätte ja auch ihr
       Koalitionspartner erklärtermaßen nicht mitgemacht. 
       
       Ja. Ich habe aber schon vorher immer gesagt, ich bleibe ich bis zum Ende
       der Legislatur. Vorausgesetzt, ich bleibe gesund und geistig frisch. Ich
       bin ja auch erst durch die Hälfte der Legislaturperiode, da muss man jetzt
       nicht schon über einen Nachfolger reden.
       
       12 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.tagesspiegel.de/die-zentralen-aussagen-der-grunenspitze-zur-migration-der-vorschlag-der-grunen-die-reaktion-der-union-10716787.html
   DIR [2] /CDU-beendet-Schwarz-Gruen-in-Hessen/!5969307
   DIR [3] /Vor-dem-Bund-Laender-Gipfel-zu-Migration/!5968246
   DIR [4] /Regierungsbildung-in-Polen/!5972212
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Stieber
   DIR Peter Unfried
       
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