URI: 
       # taz.de -- Krieg in Nahost: Die Kinder vom 7. Oktober
       
       > Über den Hamas-Angriff auf Israel kursieren seit Monaten unbelegte
       > Behauptungen. Ein Faktencheck zum Schicksal der israelischen Kinder an
       > jenem Tag.
       
   IMG Bild: Fest steht, dass Dutzende Kinder und Jugendliche am 7. Oktober getötet oder in den Gazastreifen entführt wurden. Dieses Foto vom 14. Oktober stammt aus dem Kibbuz Be'eri
       
       Berlin taz | Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock sagte jüngst
       bei einer Veranstaltung in Berlin, sie habe das Video einer Vergewaltigung
       gesehen, die sich beim Hamas-Angriff am 7. Oktober ereignet habe. Das war
       überraschend, denn die Existenz eines solchen Videos war bislang nicht
       bekannt.
       
       Auf schriftliche Nachfrage der taz, wo Baerbock das Video gesehen habe,
       antwortete ein Sprecher lediglich, es gebe „überhaupt keinen Zweifel, dass
       die Hamas bei ihrem Terrorangriff auf Israel Frauen missbraucht und
       vergewaltigt“ habe. Woher allerdings das erwähnte Video stammen soll, sagte
       er nicht.
       
       Der Angriff der Hamas auf Israel hat weltweit Entsetzen und Abscheu
       hervorgerufen. Rund 350 Soldaten und Polizisten und mehr als 800 Zivilisten
       wurden getötet, sowohl Israelis als auch Ausländer. Mehr als 250 Menschen,
       mehrheitlich Zivilisten, wurden als Geiseln in den Gazastreifen
       verschleppt. Die Täter selbst dokumentierten ihr Massaker mit Kameras, die
       sie dabeihatten.
       
       Die israelische Regierung fertigte aus diesen und anderen Aufnahmen später
       einen Videozusammenschnitt, den sie Journalisten und anderen vorführte,
       unter anderem in israelischen Botschaften weltweit. Überlebende und
       Rettungskräfte berichteten über die Taten und Journalisten recherchierten.
       Doch schon von Anfang an mischten sich in die Berichte über nachgewiesene
       Verbrechen Behauptungen, die nie belegt wurden – und offensichtliche
       Gräuelpropaganda.
       
       ## Auch Medien gaben Falschbehauptungen wieder
       
       Einige Propagandalügen sind selbst Monate später noch im Umlauf. So
       [1][behauptete der FDP-Abgeordnete Marcus Faber] im März im Bundestag
       unwidersprochen, beim Angriff der Hamas seien „vierzig Babys auf brutalste
       Art und Weise getötet“ worden. Die Babys seien „teilweise bei lebendigem
       Leib ins Feuer geschmissen“ worden, „während ihre Mütter dabei zugucken
       mussten“. Die Mütter seien „danach selber vergewaltigt“ worden. Nichts
       davon ist wahr.
       
       Auch andere erfundene Geschichten über Babys, die geköpft oder im Ofen
       verbrannt worden sein sollen, über gefolterte Kinder und eine schwangere
       Frau, deren Fötus aus dem Bauch herausgeschnitten wurde, wurden [2][von
       hochrangigen Stellen verbreitet], [3][bis hin zum US-Präsidenten]. Auch
       Medien gaben die Geschichten wieder. Bis heute sind viele Artikel mit
       nachweislich falschen Behauptungen online – auch in dieser Zeitung.
       
       Auf diese Geschichten folgte oft als Schlussfolgerung: kein
       Waffenstillstand, keine Verhandlungen mit solchen Monstern! Wer für diese
       Gräueltaten gegen Kinder verantwortlich ist, muss vernichtet werden.
       
       Besonders viel Abscheu erregten Berichte über angeblich systematische
       Vergewaltigungen am 7. Oktober. Das Ausmaß der Sexualverbrechen an jenem
       Tag wurde inzwischen [4][von der UN-Sonderbeauftragten für sexualisierte
       Gewalt in Konflikten ausführlich untersucht]. Sie fand zahlreiche Indizien
       für verschiedene Formen von sexualisierter Gewalt. Einige Fälle von
       Vergewaltigung, über die berichtet worden war, wertete sie als naheliegend,
       während sie andere als unbewiesen oder falsch einstufte.
       
       ## Unparteiische Untersuchungen fehlen
       
       Unparteiische Untersuchungen zum Schicksal der Kinder, die am 7. Oktober
       starben, fehlen dagegen bis heute. Über etliche Details herrscht weiter
       Unklarheit, auch weil viele Opfer ohne forensische Beweissicherung begraben
       wurden. Dennoch lässt sich [5][anhand von amtlichen] und [6][von
       Wissenschaftlern erstellten Datenbanken] sowie von Interviews mit
       Überlebenden und Familienmitgliedern, die in israelischen Medien
       veröffentlicht wurden, das Schicksal der Kinder nachzeichnen.
       
       Es steht fest, dass beim Angriff der Hamas insgesamt 37 Minderjährige ums
       Leben gekommen sind: drei Babys (0 bis 2 Jahre alt), zehn Kinder (5 bis 12)
       und 24 Jugendliche (13 bis 18). Zwei Babys, 20 Kinder und 13 Jugendliche
       wurden in den Gazastreifen entführt – allein das ist ein schweres
       Kriegsverbrechen. Fast alle von ihnen wurden Ende November freigelassen –
       außer zwei Brüdern, neun Monate und vier Jahre alt. Beide sollen laut Hamas
       in Gaza durch israelische Bomben ums Leben gekommen sein; Israel hat das
       nicht bestätigt.
       
       Die Verantwortung für all diese Toten liegt bei der Hamas. Dennoch
       entspricht die Realität nicht der anfangs aus Israel verbreiteten Version.
       Belegt ist, dass am 7. Oktober vier Kinder und drei Jugendliche durch
       palästinensisches Raketenfeuer getötet wurden – hauptsächlich in
       beduinischen Gemeinden fernab des Invasionsgeschehens, wo es weder
       Schutzräume noch Raketenalarm gab. Das jüngste Opfer war ein neugeborenes
       Mädchen, dessen Schicksal erst nach einem Monat bekannt wurde: Eine
       beduinische Frau war auf dem Weg ins Krankenhaus, um zu entbinden, als das
       Auto der Familie beschossen wurde. Sie wurde im Bauch getroffen, das Baby
       verletzt. Nachdem es zur Welt kam, starb es wenige Stunden später.
       
       Zwei Babys, zwei Kinder und drei Jugendliche kamen in Schutzräumen ums
       Leben – entweder durch Schüsse von außen oder weil sie erstickten, nachdem
       ihre Häuser in Brand gesetzt wurden. Zwei Kinder und vierzehn Jugendliche
       wurden offenbar gezielt aus der Nähe getötet. Zwei Kinder wurden entführt
       und starben am gleichen Tag durch israelisches Panzerfeuer.
       
       ## Falschbehauptungen zu Propagandazwecken
       
       Wie vier weitere Jugendliche ums Leben kamen, ist noch immer unklar –
       einschließlich einer 17-jährigen Behinderten im Rollstuhl. Es ist
       wahrscheinlich, dass auch sie gezielt von Angreifern getötet wurden. Anders
       als bei einigen erwachsenen Opfern gibt es derzeit aber keine Belege dafür,
       dass auch nur einer der 37 Minderjährigen geköpft, gefoltert oder
       vergewaltigt wurde.
       
       Woher aber kamen die falschen Gräuelgeschichten? Die meisten stammten von
       einzelnen israelischen Soldaten sowie von Mitgliedern der ultraorthodoxen
       Gruppe Zaka – einer Freiwilligenorganisation, die Leichen von Gewaltopfern
       einsammelt.
       
       Warum sie falsche Behauptungen in die Welt setzten, darüber kann nur
       spekuliert werden. Dass zahlreiche israelische Verantwortliche sie
       weiterverbreiten, diente aber eindeutig propagandistischen Zwecken. So
       wurde ein extrem brutales Vorgehen Israels gegen die palästinensische
       Bevölkerung moralisch vertretbar gemacht.
       
       Die Folgen zeigen sich im Gazastreifen. Seit dem 8. Oktober wurden
       [7][mehr als 36.000 Todesopfer gemeldet], um die 10.000 Menschen werden
       noch vermisst. Bis Ende April konnten durch medizinisches Personal, selbst
       Opfer der israelischen Invasion, [8][der Tod von knapp 8.000 Kindern] und
       Jugendlichen mit Sicherheit verifiziert werden. Die tatsächliche Zahl
       [9][dürfte noch deutlich höher liegen].
       
       ## Ehrliche Aufarbeitung der Gewalt weit entfernt
       
       In vielen Fällen waren die minderjährigen Opfer keine zufälligen
       Kollateralschäden, sondern eine einkalkulierte, vielleicht sogar gewollte
       Konsequenz des massiven Bombardements durch die israelische Armee. Dies
       haben Investigativjournalisten [10][des britischen Guardian] und des
       israelischen [11][Magazins +972] in einer gemeinsamen Recherche
       dargestellt.
       
       Erst vergangene Woche gingen verifizierte Aufnahmen von durch Bomben
       verkohlte Kinderleichen aus Rafah um die Welt. Besonders das Bild eines
       schreienden Mannes, der ein kopfloses Baby in den Händen hält, sorgte für
       Empörung. Die Drohung des israelischen Premierministers am Abend des 7.
       Oktobers scheint sich bewahrheitet zu haben. Benjamin Netanjahu sagte
       damals: „Die Rache für das Blut eines kleinen Kindes hat sich Satan noch
       nicht ausgedacht.“
       
       Angesichts dieser Situation ist es für die Mehrheit der Palästinenser
       schwer zu glauben, dass die Hamas und andere Gruppen aus Gaza schreckliche
       Taten begangen haben – Taten, die von keinem Recht auf Widerstand gedeckt
       sind. [12][Behauptungen der Hamas, ihre Kämpfer hätten Kinder nicht
       absichtlich getötet], sind nachweislich falsch.
       
       Dass staatliche israelische Stellen in einigen Fällen bewusst Fake News
       verbreitet haben und zahlreiche Medien ihre fehlerhafte Berichterstattung
       bis heute nicht korrigiert haben, spielt indes all jenen in die Hände, die
       die Brutalität der Hamas in Gänze leugnen. Solange es im Gazastreifen
       keinen Waffenstillstand gibt und die Verbrechen der Hamas – real oder
       fabriziert – weiterhin benutzt werden, um andere Verbrechen zu
       rechtfertigen, scheint eine ehrliche Aufarbeitung der Gewalt beider
       Kriegsparteien weit entfernt.
       
       5 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.bundestag.de/mediathek?videoid=7609095#url=L21lZGlhdGhla292ZXJsYXk/dmlkZW9pZD03NjA5MDk1&mod=mediathek
   DIR [2] https://www.lemonde.fr/en/les-decodeurs/article/2024/04/03/40-beheaded-babies-the-itinerary-of-a-rumor-at-the-heart-of-the-information-battle-between-israel-and-hamas_6667274_8.html
   DIR [3] https://www.businessinsider.com/biden-pictures-terrorists-beheading-children-white-house-2023-10
   DIR [4] /Sexualisierte-Gewalt-der-Hamas/!5996758
   DIR [5] https://laad.btl.gov.il/Web/He/TerrorVictims/Default.aspx
   DIR [6] https://yuval-harpaz.github.io/alarms/oct_7_9.html
   DIR [7] https://www.ochaopt.org/
   DIR [8] https://www.ochaopt.org/content/reported-impact-snapshot-gaza-strip-31-may-2024
   DIR [9] /Tote-in-Gaza/!6007459
   DIR [10] https://www.theguardian.com/world/2024/apr/03/israel-gaza-ai-database-hamas-airstrikes
   DIR [11] https://www.972mag.com/lavender-ai-israeli-army-gaza/
   DIR [12] https://www.palestinechronicle.com/wp-content/uploads/2024/01/PDF.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Yossi Bartal
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
   DIR Israel
   DIR Hamas
   DIR Annalena Baerbock
   DIR GNS
   DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
   DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
   DIR Palästinenser
   DIR Israel
   DIR Antisemitismus
   DIR Annalena Baerbock
   DIR Theater
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Bericht zum Hamas-Massaker: Besser nie als zu spät
       
       Knapp 10 Monate brauchte Human Rights Watch, um festzustellen, dass die
       Hamas Kriegsverbrechen begangen hat. Das ist so absurd wie entlarvend.
       
   DIR Krieg zwischen Israel und der Hamas: Vier Geiseln aus Gaza gerettet
       
       Das Militär befreit vier Entführte, darunter Noa Argamani. Die Freude in
       Israel ist groß – doch noch immer sind 120 Menschen in der Gewalt der
       Hamas.
       
   DIR Palästinensische Kinder: Feinde in Windeln
       
       Es besteht ein rassistischer, verzerrender Blick auf palästinensische
       Kinder. Das trägt dazu bei, ihr tausendfaches Sterben in Gaza hinzunehmen.
       
   DIR Hisbollah-Angriffe auf Israel: Netanjahu will zurückschlagen
       
       Israels Regierung erwägt ernsthaft einen größeren Angriff auf die Hisbollah
       im Libanon. Das Raketenfeuer der Miliz hatte großflächige Brände
       verursacht.
       
   DIR Debatte um TU-Präsidentin: Kein weißer Rauch in Sicht
       
       Die Gremien der Technischen Universität Berlin sollen die Zukunft von
       Präsidentin Rauch klären. Studierende erklären sich für sie.
       
   DIR Deutschlands Rolle im Nahost-Konflikt: Gedankenspiele über Gaza
       
       Baerbock erwägt die deutsche Beteiligung an einem Friedenseinsatz in Gaza.
       Zahlreiche Bedingungen müssten vorher erfüllt sein. Allen voran: Frieden.
       
   DIR Theaterstück über 7. Oktober in Israel: Die Grenzen der Mimesis
       
       Doron Rabinovici hat einen Text über das Massaker der Hamas geschrieben.
       „Der siebente Oktober“ besteht aus Protokollen und letzten Worten.