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       # taz.de -- Krieg in der Ukraine: 12 Stunden zittern
       
       > Das Warten an der ukrainisch-polnischen Grenze hat System. Wer nicht
       > durchblickt, bleibt zurück. Ukrainische Männer trennen sich von ihren
       > Familien.
       
   IMG Bild: Autoschlange auf dem Weg zum Checkpoint Shehyni, um die ukrainisch-polnische Grenze zu überqueren
       
       Lwiw taz | Wie ein Speisesaal wirkt [1][der Bahnhof von Lwiw].
       Mineralwasser, geschmierte Brote, dampfende Suppentöpfe auf den Tischen in
       der Bahnhofshalle und überall viel Lärm. Doch niemand hält sich lange in
       dieser Suppenküche auf. Alle drängen nach draußen, mit so viel Gepäck, wie
       sie tragen können. Auch dort herrscht Suppenküchenatmosphäre, Rauch steigt
       auf von den riesigen Töpfen auf dem Bahnhofsvorplatz.
       
       Ich werde von zwei Frauen, Halina und ihrer Tochter Olga, abgeholt. Sie
       bieten mir ein wunderbares Essen an, lassen mich duschen und bringen mich
       dann mit ihrem Auto an die polnisch-ukrainische Grenze.
       
       Bei der Fahrt durch die Stadt Lwiw fällt auf, dass es hier entspannter
       zugeht als [2][in Kiew]. Einige Geschäfte, ja sogar Restaurants, sind
       offen, die Stimmung ist nicht so depressiv. „Noch wird bei uns nicht
       geschossen“, sagt Olga. „Aber schon in einer Woche kann das anders sein.“
       
       Überall an Straßeneinfahrten haben sich Bewaffnete verbarrikadiert – hinter
       Burgen aus weissen Sandsäcken. Man bereitet sich auf Straßenkämpfe vor.
       Gleichzeitig bringen häufige Checkpoints, Straßensperren und
       Wagenkontrollen den Verkehr in Lwiw und Umgebung zum Erliegen. Aus dem
       Autoradio kommen unablässig Warnungen vor einem möglicherweise
       bevorstehenden Luftangriff. Seltsame Männer liefen in der jüngsten Zeit
       durch die Stadt, sagt Olga, die Englisch-Lehrerin. Die seien keine
       Einheimischen und machten ihr Angst.
       
       ## Nur 12 Stunden warten
       
       Wir nähern uns der Grenze. „Da haben Sie aber Glück gehabt. Am Samstag war
       die Schlange der Wartenden zehn Kilometer länger. In 12 Stunden haben Sie
       das hinter sich“, sagt sie. Und sie wird Recht behalten, hätte vielleicht
       aber noch hinzufügen können, dass die Nacht wieder kalt werden würde.
       
       Aber auch das Warten an der Grenze hat seine Tücken. Ich stehe in der Kälte
       und sehe, dass es nicht vorangeht, irgendwie scheinen sich einige Leute
       immer mit den Grenzern zu einigen, kommen zügig voran, nur ich nicht. Doch
       dann zeigt sich, dass das Warten in Gruppen organisiert ist.
       
       Ich war wohl zunächst in der „falschen“ Gruppe, bei den Pakistanern. Und
       als ich mich bei deren Wortführer darüber beschwere, dass ich gar nicht an
       die Reihe komme, beschwert dieser sich über mich und fordert, ich solle
       seine Gruppe verlassen. So läuft das also.
       
       Dann muss ich mir eben eine andere Gruppe suchen. Ich entscheide mich für
       die Mütter mit Kind. Und nun läuft das Spiel. Diese Gruppe wird bevorzugt
       bedient. Man kommt sich schon etwas seltsam vor, wenn man als Mann mitten
       in einer Gruppe von hundert Frauen steht, die ihre Kinder an der Hand
       halten.
       
       ## Angst und Einsamkeit
       
       Bis zur Grenze sieht man vereinzelt auch Männer in der Gruppe. Doch die
       gehen kurz vor der Grenze wieder. Männer zwischen 18 und 60 dürfen das Land
       nicht verlassen. Sie fahren zurück in ihre Wohnung, wo sie die nächsten
       Tage ohne Frau und Kinder mit ihrer Angst und Einsamkeit alleine fertig
       werden müssen.
       
       An der Grenze ist auf polnischer Seite alles gut organisiert. Alle werden
       von der polnischen Caritas mit einem Imbiss empfangen. Dann geht es mit
       einem Bus weiter Richtung Korczowa, zu einer großen Flüchtlingsunterkunft.
       
       Hunderte von Betten reihen sich hier in einer riesigen Halle aneinander.
       Und ständig stellen polnische Soldaten neue olivgrüne Klappbetten auf.
       Männer, Frauen, Kinder – alle haben sie diesen erschöpften Blick. Und
       ständig kommen weitere Busse von der Grenze und bringen neue Flüchtlinge.
       Über Lautsprecher wird auf Ukrainisch angesagt, wann der nächste Bus nach
       Warschau oder Deutschland fährt.
       
       2 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
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   DIR Bernhard Clasen
       
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