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       # taz.de -- Krise der Sozialdemokratie: Ein wildes Buch
       
       > Der Ex-Linken-Abgeordnete Ulrich Maurer hat ein Buch zum Niedergang der
       > SPD veröffentlicht. Die Substanz ist dünn, die Lektüre lohnt trotzdem.
       
   IMG Bild: Ulrich Maurer 2009 auf dem Linken-Parteitag in Essen
       
       Berlin taz | Franz Walter, der vielleicht beste gegenwärtige Autor zur SPD,
       hat im Sommer eine Neuausgabe seines Bandes „Die SPD. Geschichte einer
       Partei“ veröffentlicht. Der Göttinger Politologe zählt zu den vielen linken
       Sozialdemokraten, [1][die an ihrer Partei leiden]. Dennoch ist sein Buch
       eine differenzierte Geschichte der SPD zwischen zu großer Utopie und zu
       großer Realpolitik.
       
       Selbst wenn es um die Zeit der Agenda 2010 geht und damit um die Fehler der
       Parteirechten, verschont Walter die SPD-Linke nicht: „Die parteiinterne
       Opposition hatte außer Defensivparolen wie ,Hände weg vom Sozialstaat'
       nicht viel zu bieten. Denn die sozialdemokratischen Opponenten drückten
       sich verstockt vor dem Problem, dass der beitragsfinanzierte deutsche
       Sozialstaat in der Tat wenig produktionsinvestiv war, dass er in Zeiten der
       Stagnation die Arbeitsmarktprobleme gar noch verschärfte und für
       staatliches Engagement diesseits der Sozial- und Rentenpolitik zu wenig
       Raum und Ressourcen übrig ließ“, schreibt er.
       
       Walter ist in den letzten Jahren wegen einer schweren Krankheit als Autor
       weitgehend ausgefallen. Wie sehr er fehlt, wurde am Freitag deutlich, als
       in Berlin der frühere Parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion im
       Bundestag, Ulrich Maurer, sein Buch „Wars das? Ein Nachruf auf die SPD“
       vorstellte. Maurer, 69, wechselte 2005 von der SPD zur WASG. Zuvor war er
       von 1987 bis 1999 Landesvorsitzender der SPD in Baden-Württemberg, bis 2003
       Mitglied des SPD-Bundesvorstands.
       
       Der Termin im Goldenen Saal des Berliner Jakob-Kaiser-Hauses war so wild
       wie das Buch selbst: Gregor Gysi, der das Buch vorstellen sollte, redete,
       was er immer redet (aber unterhaltsam); die wenigen anwesenden Journalisten
       hatten das Buch kaum gelesen (und fragten Allgemeines zur Linkspartei), der
       letzte Vorsitzende des DDR-Ministerrats, Hans Modrow, hielt
       zwischenzeitlich eine kurze Rede über Dies und Das (und die Vereinigung von
       Korea). Maurer selbst sprach viel zur Linkspartei und wenig zur SPD.
       
       ## Der Titel täuscht
       
       Das Buchtitel selbst täuscht: Die SPD selbst betreffen nur einige Kapitel,
       dazwischen geht es um Maurers Biographie, linke Programmatik, Wagenknechts
       Sammlungsbewegung und Care-Arbeit.
       
       Ein Sammelsurium, das schon im ersten Absatz des Prologs unfreiwillig
       komisch wirkt, wenn Maurer die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten am
       22. März 1918 mit der Berufung des Goldman-Sachs-Managers Jörg Kukies zum
       Staatssekretär durch Bundesfinanzminister Olaf Scholz fast auf den Tag
       genau 100 Jahre später in eine Reihe stellt – und dazu schreibt: „Der Kreis
       hat sich geschlossen.“
       
       Fünf Seiten sind der Frage gewidmet, „wie der Neoliberalismus über die SPD
       kam“, drei dem Agieren der SPD im Fall Maaßen, zwei dem in der
       Diesel-Krise. Die Gewichtung stimmt nicht.
       
       ## Lohnt sich trotzdem
       
       Und dennoch lohnt sich Maurers Buch – nicht nur wegen ein paar Anekdoten
       aus seinem Politikerleben. Maurers Nachruf auf die SPD zeigt die
       Gedankenwelt vieler, die nach 1968 in die SPD strömten: von der Ablehnung
       des Godesberger Programms (in Godesberg habe die SPD „programmatisch ihren
       Frieden mit dem Kapital gemacht“, schreibt Maurer) bis hin zu einem
       romantischen Antikapitalismus ohne präzise Wirtschaftskonzepte.
       
       Die Seeheimer, also den rechten Flügel der SPD, greift Maurer an, weil sie
       in einem Papier behaupteten, „die gewinnorientierte Motivation der
       Unternehmer“ löse „schnellere Bereitschaft zu Revisionen“ aus, wenn der
       Markt versage. Sie diene damit mehr als jedes andere Modell zur
       gesamtgesellschaftlichen Bedürfnisbefriedigung. Dies sei „nicht anderes als
       die vollständige Kapitulationserklärung gegenüber dem kapitalistischen
       System“, schreibt Maurer. Es sind die Stellen, die ratlos machen: Soll in
       Maurers Sozialdemokratie wieder der Staat alltägliche Gebrauchsgüter wie
       Jeans oder Smartphones herstellen?
       
       In Maurers Buch hat die Parteilinke immer Recht, die Parteirechte Unrecht.
       Aber nach 156 Seiten Lektüre lässt einen der Gedanke nicht los, dass die
       Agenda 2010-Befürworter auch deshalb so großen Einfluss in der SPD gewinnen
       konnten, weil die intellektuelle Substanz der Parteilinken zu dünn war.
       Heute kommen die in zwei Parteien organisierten Sozialdemokraten gemeinsam
       nicht einmal mehr auf 30 Prozent.
       
       2 Nov 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kommentar-zur-Sozialdemokratie/!5543275
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Reeh
       
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