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       # taz.de -- Kritik an Berliner Abschiebepolitik: Die Polizei kommt gern nachts
       
       > Die versuchte Abschiebung eines Senegalesen bei Nacht war rechtswidrig,
       > sagen Flüchtingsorganisationen. Berliner Innenverwaltung weist Kritik
       > zurück.
       
   IMG Bild: Ein Großteil der Abschiebungen aus Berlin findet inzwischen nachts statt
       
       Berlin taz | Flüchtlingspolitische Initiativen kritisieren erneut eine
       versuchte Abschiebung als „rechtswidrig“. Der Mann aus Senegal, um den es
       geht, sei nicht nur nachweislich psychisch krank, sein Asylverfahren sei
       zudem gar nicht abgeschlossen – schon deswegen hätte er nicht abgeschoben
       werden dürfen, erklären acht Berliner Organisationen in einer gemeinsamen
       Pressemitteilung. Gesetzwidrig sei auch seine Abholung mitten in der Nacht,
       zudem sei die Polizei ohne Richterbeschluss in seine Wohnung eingedrungen.
       „Der Fall zeigt erneut, dass Polizei und Ausländerbehörde in Berlin bei
       Abschiebungen systematisch gegen Recht und Gesetz verstoßen“, sagt Nora
       Brezger vom Flüchtlingsrat.
       
       Nach Darstellung der Organisationen, darunter Moabit Hilft und die Kontakt-
       und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migrant_innen (KuB), lebt der an
       Schizophrenie und Epilepsie erkrankte Diallo T. (Name geändert) seit 2018
       in Berlin. Aktuell laufe sein Asylfolgeverfahren. Dennoch sei die Polizei
       am 19. Oktober 2021 um 2:24 Uhr in das Zimmer des Mannes „eingedrungen“,
       nachdem der Mitbewohner die Tür der gemeinsamen Wohnung geöffnet habe.
       
       Wie so oft bei Abschiebungen hätten Polizist*innen Diallo T. das Handy
       abgenommen und damit verhindert, dass er seinen Anwalt kontaktierte. Mit
       Fußfesseln sei er zum Flughafen BER und von dort nach Brüssel gebracht
       worden. Von dort sollte er in den Senegal abgeschoben werden. Doch der
       Pilot habe sich geweigert, ihn mitzunehmen, aufgrund „der offensichtlichen
       psychischen Probleme“.
       
       Die Ereignisse hätten Diallo T. schwer retraumatisiert, sagen die
       Organisationen. Aus Brüssel zurück habe er zeitweilig in einer
       psychiatrischen Klinik untergebracht werden müssen, sagt Andreas Tölke vom
       Verein Be an Angel. Zuvor habe er einen Deutschkurs und ein Praktikum als
       Mechatroniker absolviert, ein Angebot für einen Ausbildungsplatz habe
       vorgelegen.
       
       ## „Rückführung“ geht auch krank
       
       Die Innenverwaltung erklärte, die besagten Krankheiten hätten einer
       „Rückführung“ nicht im Wege gestanden, was gerichtlich bestätigt worden
       sei. Auch seine Reisefähigkeit sei am selben Tag ärztlich bestätigt worden.
       Dazu muss man wissen, dass Amtsärzte fast immer die Reisetauglichkeit von
       Geflüchteten bestätigen – egal was ärztliche Gutachten besagen.
       
       Was den laufenden Asylfolgeantrag angeht, erklärte die Innenverwaltung,
       dieser habe „nach Aktenlage des Landesamts für Einwanderung (LEA) nicht
       vorgelegen“. Jedoch liegt der taz eine Mail vom Bundesamt für Migration und
       Flüchtlinge (Bamf) vom 22. Juli 2021 an T.s Anwalt vor, die bestätigt, dass
       der Asylfolgeantrag bei der Behörde eingegangen ist.
       
       Merkwürdig ist auch: T. hatte nach Tölkes Angaben sogar einen Termin beim
       LEA, um für das Folgeverfahren eine Duldung zu bekommen. Doch er und seine
       Begleitung seien am fraglichen Tag im Amt nicht vorgelassen worden.
       
       Wenig überzeugend ist auch, was die Innenverwaltung zur nächtlichen
       Abholung sagt: Diese sei nötig gewesen wegen des Nachtflugs von Brüssel in
       den Senegal. Allerdings ist laut Aufenthaltsgesetz Paragraf 58, Absatz 7,
       die „Organisation der Abschiebung“ explizit kein Grund, der ein nächtliches
       Abholen rechtfertigt.
       
       ## Abholung meist nachts
       
       Trotzdem werden inzwischen für einen Großteil aller Abschiebungen aus
       Berlin die Menschen nachts abgeholt: [1][2020 in 611 von 986 Fällen], in
       [2][2021 bis Ende Juni in 406 von 516 Fälle]n. Dass ausgerechnet unter
       Rot-Rot-Grün de facto regelmäßig gegen das Gesetz verstoßen wird, beklagt
       der Flüchtlingsrat ebenso regelmäßig wie erfolglos.
       
       Auf die Kritik am Eindringen in die Wohnung ohne Richterbeschluss erwiderte
       die Verwaltung wie üblich, dies sei keine „Durchsuchung“ gewesen, die einen
       solchen erfordere. Die Beamten hätten die Wohnung nur „betreten“, was ohne
       Richterbeschluss gehe. Mehrere Gerichtsbeschlüsse haben diese
       Rechtsauffassung allerdings zurückgewiesen. [3][Erst kürzlich verlor das
       LEA einen ähnlichen Fall] vor dem Berliner Verwaltungsgericht.
       
       Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage, „unter welchen
       Umständen eine richterliche Anordnung erforderlich ist, hat das LEA die
       Zulassung der Berufung beantragt“, erklärte der Sprecher der
       Innenverwaltung, Martin Pallgen, nun anlässlich des neuen Falls.
       
       Für T. fordern die Organisationen ein humanitäres Bleiberecht – und einen
       generellen Stopp von Abschiebungen psychisch Kranker.
       
       17 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/18/SchrAnfr/s18-24586.pdf
   DIR [2] https://fluechtlingsrat-berlin.de/wp-content/uploads/s18-28238_abschiebungen_berlin_1halbjahr2021.pdf
   DIR [3] /Gerichtsurteil-zu-Abschiebungen/!5804409
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
       
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