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       # taz.de -- Kritik an Islamismus: Tödliche Ideologie
       
       > Während Rechte den Islamismus pauschal mit dem Islam gleichsetzen,
       > bagatellisieren ihn Linke oft. Dabei hat er einen globalen
       > Herrschaftsanspruch.
       
   IMG Bild: Diese êzîdische Frau ist dem IS entkommen und lebt jetzt in einer Einrichtung in Plochingen
       
       Für mich ist der Islamismus nie weit weg gewesen und nie abstrakt. Ich
       kenne Islamismus von meinen Aufenthalten in den kurdischen Gebieten in
       Irak, Syrien und der Türkei. Ich habe gesehen, was Islamismus anrichtet,
       wenn Frauen sich nicht von ihren gewalttätigen Männern trennen können, weil
       islamisches Recht gilt und den Männern im Falle einer Scheidung die Kinder
       zugesprochen würden. Ich habe gesehen, was Islamismus anrichtet, wenn
       Ladenbesitzer, die Alkohol verkaufen, um ihr Leben fürchten müssen. Ich
       habe gesehen, was Islamismus anrichtet in den vielen Flüchtlingscamps im
       Nordirak, wo diejenigen leben, die dem Terror, aber nicht dem Trauma
       entkommen sind.
       
       Islamismus ist der Grund, weshalb meine Großmutter, mein Onkel und seine
       Familie sowie der Großteil meiner êzîdischen Verwandtschaft aus Syrien und
       Irak fliehen mussten.
       
       Doch Islamismus beschränkt sich nicht auf den Nahen Osten, sondern ist eine
       globale Ideologie mit weltweitem Herrschaftsanspruch. Islamismus bedient
       sich religiöser Sprache und Inhalte, um seine politischen Ziele
       durchzusetzen. Islamismus hat viele Gesichter. Islamist*innen können auch
       weiße Deutsche sein, wie der Youtube-Salafist Pierre Vogel, der ehemals
       Linksextreme Bernhard Falk oder die IS-Anhängerin Jennifer W., die nach
       Syrien gereist ist, um sich dem „Islamischen Staat“ (IS) anzuschließen, und
       gerade in München wegen Mordes an einem fünfjährigen êzidischen Mädchen
       angeklagt ist.
       
       Islamist*innen können gewaltbereit sein, sich Terrorgruppen wie al-Qaida,
       IS, Hamas oder Hisbollah anschließen oder als Einzeltäter im Sinne einer
       islamistischen Ideologie handeln, die nicht in eine Organisation
       eingebunden ist. Islamismus kann terroristisch sein, aber auch
       legalistisch. [1][Legalistischer Islamismus lehnt Gewalt ab], versucht
       seine Ziele politisch durchzusetzen und kommt oft harmlos daher, wie
       beispielsweise Milli Görüş, Ditib und die Deutsche Muslimische Gemeinschaft
       (DMG), die der Bayerische Verfassungsschutz den Muslimbrüdern zuordnet. Es
       gibt Islamisten, die Bart und Pluderhose tragen, andere tragen Jeans und
       Hemd.
       
       ## Der Begriff emotionalisiert
       
       Egal wie er daherkommen mag: Jeder Islamismus bedroht unsere Gesellschaft.
       Islamismus, nicht der Islam. Das eine ist Ideologie, das andere Religion.
       Und über Ideologie müssen wir sprechen, auch aus einer linken Perspektive.
       Einfach ist das nicht. Allein das Wort „Islamismus“ emotionalisiert.
       
       Die Linke tut sich schwer mit einer klaren Haltung zum Islamismus. Sie
       schwankt zwischen pauschalisierender und rassistisch anmutender Islamkritik
       und [2][Relativierung des Islamismus als Teil des antikolonialen
       Widerstands].
       
       Auch im linksliberalen Spektrum wird Islamismus kaum thematisiert. Unter
       dem Banner „gemeinsam gegen rechts“ werden Querfronten gebildet, wie bei
       dem Bündnis #Unteilbar, bei dem der Zentralrat der Muslime (ZDM)
       Erstunterzeichner ist. Zum ZDM gehören unter anderem der Verband der
       türkischen Kulturvereine in Europa (ATB), der den Grauen Wölfen zugerechnet
       wird, und das Islamische Zentrum Hamburg, das dem obersten Geistlichen des
       Irans untersteht.
       
       Man will möglichst divers sein, intersektional. Mit wem man sich eigentlich
       verbündet, ist oft zweitrangig, XYZ sei ja schließlich von Rassismus
       betroffen und man selbst weiß, deswegen nicht in der richtigen
       Sprecher*innenposition. Dazu kommt häufig die Angst, rassistisch zu sein
       oder als rassistisch zu gelten. Aber auch in Antira- und Bipoc-Communitys
       wird geschwiegen und relativiert, etwa mit dem Argument, es gebe weitaus
       mehr Todesopfer rechter als islamistischer Gewalt in Deutschland.
       
       Ich finde es zynisch, Todesopfer gegeneinander aufzurechnen. Oft habe ich
       Muslim*innen klagen hören, es werde zu viel über den 11. September, den
       Terror des „Islamischen Staats“ in Irak und Syrien geredet. Das würde doch
       nur antimuslimische Ressentiments verstärken. Auch das finde ich als
       Ezîdin, deren Familie von diesem Terror betroffen ist, zynisch.
       
       Kritisiere ich diesen Islamismus und das Schweigen, wird mir
       Nestbeschmutzung vorgeworfen. Es heißt: „Du spaltest“, „für die Nazis sind
       wir eh alle gleich“. Mir wurde auch schon gesagt, dass Ezîd*innen per se
       antimuslimische Rassist*innen sind. Da Ezîd*innen als Minderheit in
       islamischen Gesellschaften seit Jahrhunderten verfolgt werden, ist das eine
       perfide Täter-Opfer-Umkehr.
       
       In dieser Gemengelage ist ein Sprechen über Islamismus kaum möglich. Hinzu
       kommt, dass es an Grundwissen fehlt. Da wird eine Ditib-Moschee mal als
       salafistisch bezeichnet. Der Unterschied zwischen Salafismus – eine
       islamistische Strömung, die die Rückkehr zu den so angenommenen Wurzeln des
       Islams anstrebt – und Ditib, die der türkischen Religionsbehörde Diyanet
       untergeordnet ist und einen türkischen Staatsislamismus vertritt, wird
       übersehen. Wobei es nicht nur ein Nichtwissen, sondern oft auch ein
       Nicht-wissen-Wollen ist. Sprechen über Islamismus ist anstrengend, aber das
       war antifaschistische Arbeit schon immer.
       
       ## Universale Gewalt
       
       Islamismus ist faschistisch, totalitär und antidemokratisch: der globale
       Herrschaftsanspruch, die Vorstellung eines reinen Islams, die radikale
       Auslegung von Koran und Haditen, die keine Ambivalenzen erlaubt, das in
       sich geschlossene Weltbild, das Propagieren einer Umma, der Gemeinschaft
       aller Muslime, von der bedingungslose Loyalität erwartet wird und die von
       Abweichlern und anderen Gruppen (wie die sogenannten „Kafir“, Ungläubige,
       Homosexuelle und Jüd*innen) zu reinigen ist.
       
       Islamismus ist gefährlich. Im Namen einer islamistischen Ideologie wurde
       2014 ein Genozid an Ezîd*innen begangen. Weltweit wurden islamistische
       Terroranschläge verübt, auch in Deutschland 2016, beim Anschlag auf den
       Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz.
       
       Auch der legalistische Islamismus bedroht Feminist*innen, queere Menschen
       und Minderheiten, er bedroht mich. Ich kann mich noch gut an eine
       Demonstration erinnern, 2014 in München, als gerade der IS in Shingal, das
       êzîdische Siedlungsgebiet im Irak, eingefallen war, auf der Salafisten die
       überwiegend êzîdischen Demonstrant*innen angriffen, bedrohten und
       beleidigten und die Polizei einschreiten musste. Oder daran, dass 2014
       Ezîd*innen in Herford und Celle von Salafisten angegriffen wurden. Ich kann
       mich an êzîdische Geflüchtete erinnern, die aus Angst vor Anfeindungen in
       den Flüchtlingsheimen ihre êzîdische Identität geheim hielten. Ich kann
       mich daran erinnern, wie ich auf Social Media als Kafir, Ungläubige,
       beschimpft wurde.
       
       Doch nicht nur Ezîd*innen sind betroffen. Erst Mitte Juni wurden auf einem
       Friedhof in Ludwigsburg alevitische Gräber geschändet. Die Liste
       islamistischer Gewalttaten ist lang. Nicht zuletzt werden sie an
       Muslim*innen verübt.
       
       ## Rechtfertigung für Rassismus
       
       Oft wird versucht, Kritik am Islamismus mit antimuslimischem Rassismus
       gleichzusetzen. Im Jahr 2014 veröffentlicht die [3][Seta-Stiftung, das
       wissenschaftliche Sprachrohr der Erdoğan-Regie]rung, den Europäischen
       Islamophobie-Report, in dem Kritiker*innen des Islamismus [4][pauschal des
       antimuslimischen Rassismus bezichtigt werden]. Unter den Kritisierten
       befinden sich der muslimische Theologe Mouhanad Khorchide, die
       Menschenrechtsaktivistin Saida Keller-Messahli, der Psychologe Ahmed
       Mansour, die Journalisten Tunca Öğreten und Bülent Mumay.
       
       Rechte nutzen den Islamismus dabei tatsächlich, um ihren antimuslimischen
       Rassismus durch die Gleichsetzung von Islamismus und Islam zu legitimieren.
       Und auch sie instrumentalisieren die Opfer von Islamismus. 2018 war ich in
       der kurdischen Autonomieregion Irak. Dort erzählte mir ein Ezîde, dass ein
       Bundestagsabgeordneter ezîdische Überlebende des Genozids besucht habe.
       Weitere Unterstützung sei von ihm aber nicht gekommen. Wie sich dann
       herausstellte, [5][war es der AfD-Bundestagsabgeordnete Ulrich Oehme].
       
       Rechten und Islamist*innen geht es nicht um eine pluralistische
       Gesellschaft. Zum Glück gibt es Stimmen, die den Kampf gegen Islamismus und
       den gegen Rechtsextremismus zusammendenken.
       
       Ich muss an die Autorin Sineb El Masrar denken, die sich für einen
       islamischen Feminismus einsetzt, in ihren Büchern gegen das Patriarchat
       anschreibt. An die Rapperin und Wissenschaftlerin Reyhan Şahin, die zum
       muslimischen Kopftuch geforscht hat. Ich muss an Düzen Tekkal denken, die
       Menschenrechtsaktivistin, die in ihrem Buch, „Deutschland ist bedroht“ von
       den „bösen Zwillingen“ spricht, die unsere Freiheit gefährden: die
       Islamisten und die Rechten.
       
       Der Kampf gegen den Islamismus ist Teil des antifaschistischen Kampfes.
       Deshalb müssen wir solidarisch sein mit den Opfern des Islamismus. Mit den
       religiösen Minderheiten, den Alevit*innen, Assyrer*innen, Chaldäer*innen,
       Armenier*innen, Zoroastrier*innen, Kakai, und vielen mehr, aber auch mit
       den queeren Menschen im Nahen Osten, den Atheist*innen und nicht zuletzt
       den vielen Muslim*innen, die vor islamistischer Gewalt fliehen.
       
       Der Islamismus wird nicht verschwinden, wenn wir ihn ignorieren.
       Beschweigen wir ihn, verlieren wir alle.
       
       9 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.verfassungsschutz.bayern.de/islamismus/situation/legalistischer_islamismus/index.html
   DIR [2] https://www.marx21.de/31-12-12-antirassismus/
   DIR [3] /Interview-mit-Stiftungsleiter/!5551843
   DIR [4] https://www.falter.at/zeitung/20191213/die-denunziation-der-islamkritiker
   DIR [5] https://www.freiepresse.de/die-reisediplomatie-der-afd-mit-touristenvisum-nach-kurdistan-artikel10155633
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ronya Othmann
       
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