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       # taz.de -- Künstliche Intelligenz: Die Deutschen waren früh dran
       
       > 1988 entstand das Deutsche Forschungszentrum für KI – also lange Zeit vor
       > Google, Amazon und Meta. Warum wurde ChatGPT dennoch in den USA
       > entwickelt?
       
   IMG Bild: Deutsche waren mal führend: Ein Mitarbeiter des Forschungszentrums für KI demonstriert im Jahr 1995 ein Sprachmodell
       
       Berlin taz | Donald Trump steht und hebt die Faust, nachdem er den
       Mordanschlag im Juli 2024 knapp überlebt hat. Die Leibwächter drumherum
       machen amüsierte Gesichter. Ist dieses Foto wahr oder gefälscht? Ein
       KI-Programm findet es schnell heraus. In diesem Fall stammt die
       [1][Künstliche-Intelligenz]-Software aus Deutschland – und mal nicht aus
       den USA oder China.
       
       Um die Frage zu beantworten, sucht das Programm zum Beispiel weitere Fotos
       vom Attentat im Internet, vergleicht sie, prüft die Aufnahme-,
       Bearbeitungsdaten, Quellen und präsentiert die Ergebnisse auf einer
       übersichtlichen Seite. Das ist eine große Hilfe für Journalist:innen, die
       schnell die Echtheit von Fotos kontrollieren müssen. Das Ergebnis lautet
       „Fake“. Denn auf diesem Foto wurden die freudigen Gesichter manipuliert und
       Personen hinzugefügt, die tatsächlich nicht da waren.
       
       Gretchen AI (Artificial Intelligence) heißt die Firma, die das Programm
       entwickelt. Inspiriert von Goethes Faust soll es Gretchenfragen beantworten
       wie „Lüge oder Wirklichkeit?“ Dafür stellt Sprind, die Bundesagentur für
       Sprunginnovationen, bis zu 700.000 Euro Fördermittel zur Verfügung. Das
       Rechercheprodukt zur Aufdeckung von schwer zu erkennenden Desinformationen
       – sogenannten Deepfakes – basiert auf längerer Zusammenarbeit mit der
       Deutschen Presseagentur. Ende dieses Jahres soll es wohl marktreif sein.
       
       „Aber unsere Technik kann man auch für weitere Zwecke verwenden“, sagt
       Co-Gründer Tim Polzehl. „Schließlich geht es grundsätzlich um das Finden
       und Verifizieren von Texten, Fotos, Tönen und anderen Medieninhalten.“
       Gelingt es zum Beispiel dem Kunden eines Internetanbieters nicht,
       seinen neuen Rooter anzuschließen, könnte die jeweilige Firmen-Hotline
       anhand eines hochgeladenen Fotos automatisiert feststellen, dass das
       Datenkabel in der falschen Buchse steckt. Mit solchen und anderen
       Anwendungen will Gretchen AI von 2026 an am Markt Geld verdienen.
       
       ## Warum hinkt Europa so hinterher?
       
       Komplett selbst ausgedacht hat sich die Firma ihr Programm nicht. Es ist
       abgeleitet von sogenannten Großen Sprachmodellen aus den USA, die ähnlich
       wie ChatGPT selbstständig sinnvolle Texte produzieren können. Auf dieser
       Grundlage entstand mittels einer speziell trainierten Datenarchitektur ein
       kleineres Expertenmodell, wie Daniel Röder erklärt, ein anderer Co-Gründer
       des Berliner Start-ups.
       
       Damit stellen sich weitere Gretchenfragen: Warum kommen die großen
       Sprachmodelle aus den USA oder China, nicht aber aus Europa? Angesichts der
       wirtschaftlichen und politischen Neuaufteilung der Welt könnte es durchaus
       Vorteile für die ökonomische Unabhängigkeit und die technologische
       Souveränität des Kontinents bieten, wenn hier eigene Modelle entwickelt
       würden.
       
       ## Die Deutschen waren bei KI früh dran
       
       Bei der Suche nach Antworten hilft das [2][Deutsche Forschungszentrum für
       Künstliche Intelligenz] mit seiner Niederlassung am Berliner Spreeufer
       weiter. Das DFKI, an dem etwa 1.500 Forschende überwiegend mit öffentlichen
       Mitteln arbeiten, wurde schon 1988 gegründet. Damit waren die Deutschen bei
       dem Thema eigentlich früh dran. Die heutigen Hard- und Softwareriesen
       Microsoft und Apple waren noch klein, Google, Amazon und Facebook gab es
       gar nicht.
       
       Als Expertin für maschinelles Lernen braucht DFKI-Forscherin Vera Schmitt
       bei ihrer Arbeit immer wieder extrem leistungsstarke Computer. Deshalb
       kooperiert sie oft mit dem ebenfalls vorwiegend staatlich finanzierten
       Forschungszentrum Jülich. „Dort muss man die Nutzung von Rechenleistung
       allerdings beantragen“, berichtet Schmitt. Die Nutzungszeiten sind
       beschränkt. Klappt irgendetwas nicht, kann es beim neuen Antrag zu
       Wartezeiten kommen. Das Rechenzentrum Jülich ist technisch zwar auf
       modernstem Stand, seine Rechenkapazität aber oft ausgebucht, weil es so
       viele Forschende nutzen wollen.
       
       ## Es fehlt an Kapital und Rechenleistung
       
       Um bei der Künstlichen Intelligenz mithalten zu können, mangelt es in
       Deutschland also anscheinend an Rechenkapazität, nicht nur in den teilweise
       öffentlich bezahlten Einrichtungen. Auch die Datenzentren von Unternehmen
       weisen eine deutlich geringere Rechenleistung auf, als sie Forschenden und
       Entwickler:innen in den USA und China zur Verfügung steht.
       
       Der Grund dafür? „Hierzulande fehlt es oft an Kapital“, sagt Andreas
       Schepers, Sprecher des DFKI in Berlin. Bevor ein Unternehmen ein Programm
       wie ChatGPT auf die Welt loslässt, sind Milliarden US-Dollar in
       Entwicklung, Rechnerleistung und Datentraining geflossen. Diese großen
       Summen investieren Kapitalgeber in den USA offenbar eher als Finanziers in
       Europa. Hier reichen die Mittel nur für kleinere Modelle und Programme, die
       Spezialaufgaben erledigen – wie etwa die Deepfake-Erkennung von Gretchen.
       
       ## Hunderte Unternehmen entwickeln KI
       
       Jörg Bienert, Vorstand des KI-Bundesverbands, teilt die Analyse. „In den
       USA stehen KI-Unternehmen mehr Kapital und Rechnerleistung zur Verfügung.“
       Seiner Einschätzung nach „hat das teilweise mit der mangelnden
       Risikobereitschaft europäischer Investoren zu tun“. In dieser Lesart sind
       US-Firmen und Geldgeber bereit, größere Summen lockerzumachen, selbst wenn
       das Risiko des Verlusts nicht von der Hand zu weisen ist. Gedeckt wird die
       Einschätzung durch eine Untersuchung der Unternehmensberatung EY von 2024,
       derzufolge die Forschungs- und Entwicklungsausgaben großer
       US-Aktiengesellschaften deutlich über denen entsprechender EU-Firmen
       liegen.
       
       Trotz des Rückstandes gegenüber den USA und neuerdings auch China arbeiten
       hierzulande aber Hunderte, wahrscheinlich Tausende [3][kleine und mittlere
       Unternehmen], die von modernen KI-Produkten gut leben. Zum Beispiel die
       Merantix Gruppe in Berlin, die unter anderem als Investor, Entwickler und
       Beratungsfirma agiert. In der weitläufigen Besprechungsetage, wo sich die
       Sitzgruppen zwischen großen grünen Pflanzeninseln verstecken, erklärt
       Medizininformatiker Thomas Wollmann ein Beispielprojekt.
       
       ## Europäer interessieren sich für spezielle Anwendungen
       
       Für das Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim entwickelte Merantix ein
       KI-Programm, das stundenlange Tiervideos auf das Verhalten von Mäusen hin
       analysiert, denen Wirkstoffe für neue Arzneimittel verabreicht wurden. „Der
       KI-Algorithmus kann manche Aufgaben schnell und gut erledigen und den
       Menschen massiv unterstützen“, sagt Wollmann. Für ihn zeigt das
       gleichzeitig, wie europäische Unternehmen mit KI umgehen. Sie
       interessierten sich besonders für „spezielle Endanwendungen, und nicht nur
       für breite Grundlagentechnologien“.
       
       KI-Verbandsvorstand Bienert, der auch Partner bei der Merantix-Tochter
       Momentum ist, betrachtet eine solche Haltung allerdings skeptisch. „Dass
       europäische Unternehmen keine großen KI-Modelle entwerfen, aber mit
       Spezialanwendungen Geld verdienen wollen, halte ich für eine Ausrede und
       einen Fehler.“ Denn die großen Modelle seien „die Basis für die nächsten
       Schritte, etwa die humanoide Robotik“ – Maschinen, die menschliche
       Bewegungen und Verhaltensweisen kopieren. „Europa braucht so etwas wie ein
       Airbus-Projekt für die KI“, fordert Bienert.
       
       Das europäische Airbus-Konsortium ist neben US-Konkurrent Boeing der
       führende Flugzeugbauer weltweit. Vielleicht hatte
       EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auch dieses Vorbild im Kopf,
       als sie im Februar 2025 den neuen Fonds für sogenannte KI-Gigafabriken in
       Höhe von 20 Milliarden Euro ankündigte. Ein solches extrem leistungsstarkes
       Rechenzentrum geht demnächst in Jülich in Betrieb – die „Jupiter“ genannte
       KI-Fabrik. Viele Forscher:innen hoffen darauf, dass sich die Knappheit
       an Rechenkapazität damit zumindest vorläufig verringert.
       
       22 May 2025
       
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   DIR [2] https://www.dfki.de/web
   DIR [3] /Kuenstliche-Intelligenz-in-der-Medizin/!6081229
       
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