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       # taz.de -- Kulturaustausch mit Litauen: Steuern auf die Luft erheben
       
       > In dem Bühnenstück „Pozesijos obsesija“, einem kollektiven Monolog über
       > das Eigentum, wird das Publikum selbst zum Erzähler.
       
   IMG Bild: Szenenbild aus „Pozesijos obsesija“ mit She She Pop im Nationaltheater in Vilnius
       
       Den Platz in der letzten Reihe der kleinen Bühne des litauischen
       Nationaltheaters in Vilnius habe ich bewusst gewählt, von hier aus kann
       ich das Publikum gut beobachten. Denn ihm kommt in den nächsten 45 Minuten
       eine aktive Rolle zu, in der Aufführung von „Pozesijos obsesija“ über
       Eigentum und Besessenheit.
       
       Der Bühnenraum ist überschaubar gestaltet. Mittig hängt eine Leinwand von
       der Decke, die Dreh- und Angelpunkt des kommenden Stücks sein wird. Denn
       auf sie wird ein Text (auf Litauisch) projiziert werden mit der
       Aufforderung an das Publikum, ihn laut zu lesen. Die Beteiligten können
       entscheiden, welchen Chören sie angehören oder welche Rolle sie übernehmen
       wollen, an welchen Stellen sie mitlesen, stoppen oder auch schweigen
       werden.
       
       Das Format entspricht dem Stück „Besessen“ von She She Pop, doch der Text
       unterscheidet sich. Das deutsche Performancekollektiv prägte für dieses
       Format den Begriff des „kollektiven Monologs“. Die Chöre des Abends
       erzählen einen gemeinsamen Text. Eine augenblickliche Collage, die
       verschiedene Positionen und Probleme zu einem komplexen Monolog
       zusammenfügt.
       
       ## Auf Initiative litauischer Theatermacher*innen
       
       In Zusammenarbeit der litauischen Künstler Rimantas Kmitas, Mikas Žukauskas
       und Jonas Žukauskas mit She She Pop entstand eine litauische Textadaption
       des deutschen Stückes. Die Koproduktion kam auf Initiative litauischer
       Theatermacher*innen zustande.
       
       Sie planten, She She Pop zum jährlich stattfindenden internationalen
       Theaterfestival Sirenos nach Vilnius, dem Zentrum einer faszinierenden
       Kunst- und Kulturszene, einzuladen. Daraus ergab sich 2018 eine weitere
       Idee: Die Koproduktion „Pozesijos obsesija“, an der auch das
       Goethe-Institut beteiligt war.
       
       Der „kollektive Monolog“ beginnt knallhart: Die soziale Ungerechtigkeit
       kommt auf den Tisch. Dabei ergreifen zwei Chöre das Wort, die Gegenspieler
       sind: Die Reichen und Menschen, die vom Mindestlohn leben, der aktuell bei
       3,39 Euro pro Stunde liegt. Das Leben unter diesen Bedingungen erscheint
       teuer. Lebensmittel kosten etwa so viel wie in Deutschland. Das
       Durchschnitts-einkommen beträgt dagegen knapp 900 Euro.
       
       Der Chor der Pensionäre tritt mit einem zynischen Vorschlag auf: Man solle
       doch auch noch Steuern auf die Luft erheben. Die Lebensbedingungen zeitigen
       Wirkungen. Seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1990/91 haben über
       ein Viertel der Menschen das Land verlassen. Hatte es zu Beginn der 90er
       Jahre noch 3,7 Millionen Einwohner, so sind es jetzt knapp 2,8 Millionen.
       
       Die Reden im Chor steuern schon auf das letzte Drittel des Abends zu, als
       aus dem erleuchteten Zuschauerraum ein Mann zum Klavier läuft. Er beginnt
       sachte, eine Melodie zu spielen, das Publikum stimmt ein. Ein neuer Chor
       bildet sich. Alle sind jetzt zum Mitsingen aufgefordert. Sie singen
       textsicher, leise und zurückhaltend. Die Klänge strahlen trotzdem ein
       Selbstbewusstsein aus, das mich berührt.
       
       Ich werde das Lied noch ein weiteres Mal hören, aber in einem anderen
       Kontext. Es wird der 16. Februar sein, Nationalfeiertag und erster
       Unabhängigkeitstag Litauens im Jahr 1918. Das Lied „Laisvé“ (dt.: Freiheit)
       wird auf einer großen Bühne am Kopf des Gediminas-Prospekts aufgeführt
       werden.
       
       ## Unabhängigkeit von der Sowjetunion
       
       Das Schlichte aus dem Theatersaal hat es verloren. Ich verknüpfe das Lied
       gedanklich mit den kleinen litauischen Papierflaggen in den Händen vieler,
       der Suche nach einem Nationalgefühl und der Identifikation mit einem Staat,
       dessen Geschichte von Besatzungszeiten geprägt ist.
       
       Im Schutzraum des Theaters wirkt es auf mich wie eine kollektive Erinnerung
       an die Solidarität, die im Baltischen Weg 1989 greifbar wurde. Tausende
       Menschen bildeten zwischen Vilnius und Tallinn eine Menschenkette. Ihr
       gemeinsames Ziel: Unabhängigkeit von der Sowjetunion.
       
       Diese Solidarität wird im Laufe des Abends noch einmal gefunden. Mit dem
       Chor aller, die komplett enttäuscht sind. Sie beklagen das Zerplatzen der
       Hoffnungen, die mit der Revolution oder dem EU- und dem Nato-Beitritt 2004
       einhergegangen waren. Sie beklagen sich, nicht mitbekommen zu haben, wie
       sie zu Sklaven wurden. Denn sie gehen arbeiten und wissen am Ende des
       Monats trotzdem nicht, wie sie über die Runden kommen sollen.
       
       Mit der letzten Aufführung in Vilnius beende ich eine kurze Reise durch
       drei litauische Städte mit ihren Theatern, in denen der kollektive Monolog
       zur Aufführung kam. Zwei Vorstellungen fanden in den kleineren Städten
       Jonava und Panevėžys statt, die besonders mit der Problematik des Wegzugs
       junger Menschen konfrontiert sind. Umso wichtiger erscheint es, den Monolog
       in ländliche Zentren zu bringen. Denn er regt an. Zur Reflexion, zur
       Diskussion, zur Übung im Theaterraum.
       
       17 Apr 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Pia Martz
       
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