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       # taz.de -- Kunst im Teilchenbeschleuniger: Neues Licht ins Dunkel
       
       > Im Hamburger Forschungsinstitut Desy trifft Kunst auf Wissenschaft. Dabei
       > wird deutlich, wie nahe sich beide sind.
       
   IMG Bild: Waren früher enger verbunden als heute: Im Hamburger Desy treffen Kunst und Wissenschaft aufeinander
       
       Naturwissenschaft ist exakt und zuverlässig, in Geisteswissenschaften und
       Kunst aber ist das Erfinden von Geschichten und neuen Zusammenhängen
       geradezu eine Voraussetzung für Kreativität. Doch so einfach lassen sich
       die Herangehensweisen an die Welt nicht aufteilen. Dass zumindest die doch
       anscheinend mit solider Materie befasste Physik ziemlich wahnwitzige Seiten
       hat, ist bei einem aktuellen Projekt im Hamburger Forschungszentrum
       Deutsches Elektronen-Synchrotron (Desy) in Hamburg-Bahrenfeld zu erfahren:
       „Art meets Science: Dark Matter“. Bei laufendem Betrieb sind dort jetzt an
       einigen wenigen Terminen nicht nur Forschungsstätten, Modelle und
       Dokumentationen zu besichtigen, sondern erstmalig auch künstlerische
       Interventionen von 14 Künstler*innen.
       
       Früher waren Kunst und Wissenschaft viel enger verbunden, Forschen und
       Gestalten viel weniger getrennt, das bekannteste Beispiel ist sicher der
       Renaissance- und eben Universalkünstler Leonardo aus Vinci. Wenn heute am
       Desy über 2.000 Mitarbeiter millionenteure Grundlagenforschung zum Wesen
       der Materie betreiben, ist das als seriöse Wissenschaft legitimiert, selbst
       wenn in manchen Bereichen nur wenige überhaupt noch verstehen können, was
       da gemacht und gedacht wird.
       
       Nicht nur solcher Elite-Charakter ist auch aus der Kunst bekannt; vor allem
       die notwendige Neugier und eine alles infrage stellende
       Experimentierfreudigkeit, die kreative Problembehandlung und – auch mal –
       das grandiose Scheitern verbinden Wissenschaftler und Künstler vielleicht
       mehr als ihnen manchmal lieb ist.
       
       Manchen Kunstkennern schienen bei der Eröffnungsveranstaltung die
       Ausführungen des Projektinitiators Physikprofessor Christian Schwanenberger
       jedenfalls die bessere Kunstperformance als manches, was von Künstlerseite
       kommt. Aber das mag daran liegen, dass die Suche nach „Dunkler Materie“ an
       sich schon eher nach Sci-Fi klingt als nach einem aktuellen
       Forschungsschwerpunkt – und ein angekündigter Vortrag über „Die Struktur
       des Nichts“ (ist man denn künstlerisch vorbelastet) doch schon etwas
       dadaistisch anmutet.
       
       ## Formen fürs Unbekannte
       
       Die Teilchenphysik hat unter anderem mit den großen Ringtunneln unterhalb
       des Desy, in denen Protonen mit annähernd Lichtgeschwindigkeit
       aufeinandergeschossen wurden, ein gutes Bild dessen ermöglicht, wie die
       Materie im Innersten aufgebaut ist, wie sich die bis 10-16 cm kleinen
       Quarks, Mesonen, Gluonen und andere verhalten. Das ist kompliziert, aber
       prinzipiell verstehbar.
       
       Doch mysteriös ist, dass all das nur auf knapp 15 Prozent der Materie
       zutrifft – der Rest des Universums besteht aus „dunkler Materie“. Die ist
       unsicht- und bisher nicht nachweisbar, ihre Existenz ist aber ein Postulat,
       das sich aus exakten Beobachtungen und Berechnungen zur Gravitation
       erschließen lässt. Wenn das Unbekannte schon nicht entdeckt werden kann,
       wird also nach einer Form für das Unbekannte gesucht – und das ist wiederum
       eine Gemeinsamkeit mit der Kunst.
       
       Vielleicht ist das Unsichtbare ja hörbar: Sieben Stockwerke unter der Erde
       im mit Großtechnik vollgestopften Tunnel des Teilchenbeschleunigers Hera
       kann das Staunen noch vergleichsweise einfach mit einer Sound-Installation
       gesteigert werden. In der Abstiegshalle hängt, einem Wolkendiagramm nicht
       unähnlich, ein großes Gemälde der Hamburger Mitorganisatorin Tanja Hehmann.
       Hier findet sich das Andere hinter und zwischen den gestischen
       Abstraktionen und informellen Schüttungen – natürlich in monochrom Schwarz.
       Dagegen malt Julia Münstermann technoide Bilder, die wie nur leeres Licht
       ausstrahlende, leuchtende Bildschirme anmuten.
       
       Wenn schon die Malerei immer Türen ins Unsichtbare hinter der Leinwand und
       zwischen den Farben öffnet, sollte es nicht auch winzig kleine
       Erscheinungsformen des Unbekannten mitten in der Alltagsrealität geben? Jan
       Köchermann hat auf ein altes DDR-Gefährt einen Trichtersauger montiert, mit
       dem hier in der sichtbaren Welt nach kleinen schwarzen Löchern gesucht
       wird. Die skurrile Rekonstruktion des „Frassek Space Collectors“ soll sich
       auf eine legendäre grenzwissenschaftliche Versuchsanordnung von 1967 des
       unbekannten DDR-Teilchenphysiker Hubertus M. Frassek beziehen.
       
       Auch Baldur Burwitz analogisiert die Teilchenforschung mit Fahrzeugen: Er
       hat im Kreisverkehr des Geländes mit viel Festgejubel zwei Autos
       gegeneinander fahren lassen – bis zum unvermeidlichen Crash. Analog geht
       auch das Künstlerduo „We Are Visual“ (Felix Jung und Marc Einsiedel) die
       Forschung nach dunkler Materie an. Für ihre „Dunkle Angelegenheit“ haben
       sie zuerst eine Art Bunker aus tonnenschweren Abschirmsteinen bauen lassen.
       Dann ermöglichen sie einzelnen Personen nach genauen Vorschriften etwas zu
       erleben, was einer Geisterbahn sehr nahekommt: den Angriff von etwas
       Unbekanntem aus dem Dunkel.
       
       Am Ende einer Teilkopie des Tunnels für den XFEL, den derzeit stärksten und
       schnellsten Röntgenblitzlaser der Welt, schwebt wie ein außerirdisches
       Fundstück eine klumpige Form. Sie braucht in dem Video von Sibylle Neumeyer
       24 Stunden, um sich um ihre eigene Achse zu drehen, verändert sich also in
       der Geschwindigkeit der Erdumdrehung: kaum zu bemerken.
       
       Die Frage, was von dem, was der Fall ist, überhaupt zu beobachten ist und
       wann gar die Beobachtung eine neue Realität konstruiert, gilt seit
       Heisenbergs Unschärferelation für alle Wissenschaft und Kunst. Bei Jana
       Schumacher braucht es nicht allzu viel Aufwand, um einen Blick ins
       Universum zu ermöglichen: Kleinste Löcher in einer geodätischen Kuppel
       erwecken mitten in einer Werkshalle das subjektive Gefühl, im Zentrum
       unendlicher Sternansammlungen zu sein.
       
       ## Gefilterte Blicke
       
       In dem Kontrollraum, in dem das Desy rund um die Uhr mit dem
       Kernforschungszentrum Cern in Genf verbunden ist, zeigt Jan Peters seine
       Fotos und die Filme, die dort während seines Künstlerstipendiums entstanden
       sind. Da am Cern derartig viele Daten erzeugt werden, dass die jede
       Rechner- und Verarbeitungsmöglichkeit übersteigen, müssen sie gefiltert
       werden. Analog dazu hat Peters von seinen 2.400 Filmeinstellungen nur die
       ausgewählt, die die Endnummer 42 hatten – nicht ganz zufällig auch jene
       Zahl, die der Universalcomputer „Deep Thought“ in der kultigen
       Romantrilogie „Per Anhalter durch die Galaxis“ als Sinn des Lebens
       verkündet hat.
       
       Es kann einem schwindelig werden – nicht nur, wenn Swen Erik Scheuerling
       ein Treppenhaus in Rotation versetzt. Aber am Desy bleibt der kühle
       Forschergeist dominant. Und so wird auch dieses Projekt selbst im Winter
       Gegenstand der Forschung: Ein Workshop soll die Erfahrungen auswerten, um
       neues Licht auf die dunkle Materie zu werfen, die wenigstens metaphorisch
       dem Universum der Kunst nicht ganz fremd ist.
       
       „Dark Matter Day“: Di, 31. 10., 15 Uhr; „Desy Day“: 4. 11., 12–24 Uhr;
       Vortrag + Führung: 8. 11., 19 Uhr; Finissage: 9. 11., 19 Uhr, Desy,
       Notkestraße 85, Hamburg. [1][www.desy.de]
       
       28 Oct 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.desy.de
       
       ## AUTOREN
       
   DIR hajo schiff
       
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