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       # taz.de -- Kunstsymposium nach Nan Goldin-Protesten: Aufrüsten und stillstehen
       
       > In Berlin fand ein Symposium über Kunst und Aktivismus zur Ausstellung
       > der Künstlerin Nan Goldin zwar statt, wurde aber durch Boykottaufrufe
       > abgewürgt.
       
   IMG Bild: Einfach nur skandieren: Applaus für Künstlerin Nan Goldin nach ihrer Brandrede in der Neuen Nationalgalerie Berlin
       
       Kulturveranstaltungen sind zu einem Kampfplatz geworden, real und vor allem
       digital. Auch an diesem Sonntag schien man sich in Berlin für heftigste
       Auseinandersetzungen gewappnet zu haben. Eine streng dreinblickende
       Security-Garde verbarrikadierte den Glaseingang der Scharoun’schen
       Staatsbibliothek, scannte Taschen und Jacken, als bestünde die Gefahr eines
       Terroranschlags. Drinnen trat die sonst schick gekleidete
       Presseverantwortliche in robusten Multifunktionsklamotten auf, scheinbar
       für jeden Einsatz bereit.
       
       Als an diesem Sonntag ein Symposium mit dem Titel „Kunst und Aktivismus in
       Zeiten der Polarisierung“ zur Ausstellung der US-amerikanischen Künstlerin
       Nan Goldin in der Neuen Nationalgalerie und nur einige Meter von ihr
       entfernt ausgerichtet wurde, [1][war ihm schon ein Eklat nach dem anderen
       vorausgegangen.] Zuletzt bei Goldins Eröffnungsrede am Freitagabend, als
       die Tochter einer jüdischen Familie meinte, was sie in Gaza sehe, erinnere
       sie an die Pogrome, denen ihre Großeltern entkommen seien. Es folgte, was
       mittlerweile schon ein Ritual geworden ist: Menschen, verhüllt mit
       Palästinensertuch und Coronamaske, skandierten „Fuck Israel“ oder „Free,
       free Palestine“, überbrüllten den Direktor der Neuen Nationalgalerie, Klaus
       Biesenbach, als der nach Goldins Auftritt zumindest Widerrede geben wollte.
       Die sozialen Medien waren voll davon am nächsten Tag.
       
       Nan Goldin ist eine große Fotokünstlerin. In den siebziger und achtziger
       Jahren tauchte sie in die Subkultur New Yorks ein und dokumentierte mit
       ihren Bildern ein zerbrechliches Leben zwischen Sucht und Suche,
       Aids-Epidemie, Selbstzerstörung und Gemeinschaft auf eine warme,
       unmittelbare Weise. Ihre Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie mit dem
       Titel „This Will Not End Well“ ist traurig und schön. „Das Kunstwerk ist
       oft schlauer als die Künstlerin“, sagt während des Symposiums dann der
       Theatermann Remsi Al Khalisi. Das gilt wohl auch für Goldin, die
       Aktivistin, die in den USA erfolgreich gegen das [2][Kultursponsoring der
       Pharmakonzern-Familie Sackler antrat] – und seit dem 7. Oktober 2023 gegen
       den Staat Israel. Goldin versteht sich als Antizionistin, unterstützt die
       Israel-Boykottbewegung BDS. Darum wissend ließ Biesenbach ebenjenes
       Symposium ausrichten, kuratiert vom jüdisch-muslimischen Paar Saba
       Nur-Cheema und Meron Mendel.
       
       ## Es hätte schmerzlich werden können
       
       Es ging um die Rolle des Nahostkonflikts im Kunst- und Kulturbetrieb und um
       kulturellen Boykott, war ursprünglich sehr konträr besetzt. Die
       Diskussionen hätten schmerzlich werden können, aber vielleicht hätten
       endlich mal Argumente ausgetauscht werden können, wo sich doch seit über
       einem Jahr die Fronten vor allem durch Schlagworte auf Instagram verhärten:
       Die um Antisemitismuskritik bemühte Hito Steyerl war geladen, und die
       jüdisch-südafrikanische Künstlerin Candice Breitz, deren Ausstellung im
       Saarlandmuseum letztes Jahr [3][nach ihren israelkritischen Äußerungen
       abgesagt wurde], der Architekt-Autor-Aktivist Eyal Weizman und der Fotograf
       Raphael Malik, dessen Schau über muslimisches Leben in Berlin kurz nach dem
       7. Oktober nicht eröffnet werden konnte.
       
       Doch die zum Boykott deutscher Kulturinstitutionen aufrufende Gruppe Strike
       Germany hatte erfolgreich zugeschlagen. Selbst hinter der Anonymität eines
       Instagram-Accounts versteckt (ja, wer verbirgt sich denn dahinter, wüsste
       man gerne), forderte die Gruppe ein „Shut it down“ der Veranstaltung,
       bezeichnete Hito Steyerl als „bekannte, antideutsche Künstlerin“. Nan
       Goldin sah offenbar keinen Widerspruch darin, sich von öffentlichen,
       deutschen Geldern eine opulente Schau mitfinanzieren zu lassen und
       gleichzeitig Strike Germany mit ihren Likes zu versorgen. Zunächst sprang
       Hito Steyerl ab, dann cancelten sich reihenweise all jene selbst, die dem
       deutschen Kulturbetrieb seit dem 7. Oktober 2023 ein „Silencing“
       israelkritischer Stimmen vorwerfen: Candice Breitz oder [4][Eyal Weizman].
       Als dann das hoch gerüstete Symposium tatsächlich stattfand, gab es gar
       keinen Grund mehr für die Ausrüstung: kaum streitbare Positionen, wenig
       Gegensätze, gesittetes Publikum.
       
       „Man sagte mir, ich könne in einem Saal vor 450 Leuten sprechen, und was
       ich sehe, sind dünn besetzte Reihen“ ist Ruth Patir dann beim Panel
       enttäuscht. Die Künstlerin, die den israelischen Pavillon bei der
       [5][diesjährigen Kunstbiennale in Venedig] bespielt hatte, hätte gerne die
       argumentative Konfrontation mit denjenigen gehabt, die etwa zuvor unter dem
       Namen Art Not Genocide Alliance (ANGA) auf Instagram mit reger digitaler
       Unterstützung der internationalen Kunstwelt die Schließung ihrer
       Ausstellung forderte. [6][Und tatsächlich hat sie nie eröffnen können.]
       
       Ruth Patir erzählt, wie sie derzeit als Professorin an der Kunsthochschule
       in Tel Aviv zunehmend kulturell isoliert wird, sie ihren Student:innen
       etwa die Kunst einer Nan Goldin gar nicht zeigen kann – weil sie an einer
       israelischen Kulturinstitution arbeitet. Ein Austausch sei auch im
       Westjordanland nicht möglich, betont wiederum der palästinensische Künstler
       Osama Zatar, in der abgeschirmten Region gebe es kaum eine kulturelle
       Infrastruktur.
       
       ## Gefährliche Allianzen
       
       Sollten dann wiederum diejenigen boykottiert werden, die zum Boykott
       aufrufen, war eine Frage an Remsi Al Khalisi. Man müsse in jedem Einzelfall
       genau schauen, antwortet der, wie radikal die Person wirklich ist. Das
       hatte wohl die Kuratorin María Inés Plaza Lazo übersehen, als sie, der die
       unrühmliche Rolle zukam, alle nun nicht mehr am Symposium teilnehmenden,
       israelkritischen Stimmen zu subsumieren, die Aktivistin Hebh Jamal als
       eines der auch von Goldin zitierten 180 Cancel-Opfer deutscher
       Kulturinstitutionen beklagte. Jamal hatte sehr bald nach dem 7. Oktober
       2023 den Terroranschlag der Hamas auf Tiktok damit gerechtfertigt,
       „Dekolonialisierung“ sei eben „schmutzig“, aber „absolut notwendig“. Wo
       bleibt bei solch harten Formeln noch die Menschlichkeit? An die appellierte
       auch taz-Redakteur Andreas Fanizadeh und erinnerte: Willentlich oder
       unwillentlich würden Aktivist:innen mit Aussagen wie denen von Hebh
       Jamal auch gefährliche Allianzen eingehen. Das theokratische Regime im Iran
       würde von derartigen postkolonialen Verdrehungen des Nahostkonflikts nur
       profitieren.
       
       Aber eine BDS-Resolution oder eine Antisemitismusklausel, das sahen die
       meisten Panelisten so, könne Antisemitismus nicht aufhalten. Antisemitismus
       sei eine Kulturtechnik, man müsse sich mit ihm ästhetisch
       auseinandersetzen, forderte der Künstler Leon Kahane. Dennoch fehlten
       diejenigen auf dem Podium, die sonst in Hintergrundgesprächen und anonymen
       Social-Media-Kommentaren postulieren, solch Resolutionen würden den
       Kulturbetrieb in Deutschland regelrecht aussieben. Findet das wirklich
       statt? Wie? Das wüsste man gerne.
       
       Auch Nan Goldin hätte sprechen können, an dem Tag. Warum wollte sie das
       nicht? Weil das Symposium zwar in ihrem Wissen, aber nicht mit ihrer
       Erlaubnis organisiert wurde, was das gute Recht einer jeden, autonomen
       Kulturinstitution ist? Diese [7][Autonomie hatte die Neue Nationalgalerie]
       auch versucht, am Sonntag zu behaupten. Doch der Boykottaufruf von Strike
       Germany hat ganz schön an ihr gesägt. Das bedeutet vor allem Stillstand in
       der Kultur. Menschenleben in Gaza werden dadurch nicht gerettet.
       
       25 Nov 2024
       
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