URI: 
       # taz.de -- Kurden im türkischen Diyarbakir: Eine Stadt wird zerstört
       
       > Diyarbakir ist das Zentrum des kurdischen Widerstands in der Türkei.
       > Teile der Altstadt sind zum Kriegsgebiet geworden.
       
   IMG Bild: 22. Dezember 2015: bürgerkriegsähnliche Zustände in Diyarbakir.
       
       Istanbul taz | Es war wie an den 17 Tagen zuvor: Mehrere tausend
       Demonstranten marschierten auf die Altstadt von Diyarbakır zu, doch noch
       bevor sie die Absperrungen erreichten, ging die Polizei mit Wasserwerfern
       und Tränengas auf die Menge los und trieb sie auseinander. Seit 17 Tagen
       demonstrieren die Einwohner von Diyarbakır jeden Tag dagegen, dass Polizei
       und Militär die Altstadt der kurdischen Metropole hermetisch absperren –
       mit einer kurzen Unterbrechung, die tausende Bewohner dazu nutzten, in die
       Neustadt zu fliehen.
       
       Diyarbakır ist eines der Zentren der Operation „Hendek“ die mehr als 10.000
       Soldaten und Polizisten seit Mittwoch letzter Woche in den kurdisch
       besiedelten Gebieten im Südosten der Türkei durchführen. Der Codename
       bedeutet „Gräben“, und angeblich geht es darum, Gräben zuzuschütten.
       
       Diese Gräben sind zumeist Teil von Barrikaden und anderen Absperrungen, die
       von PKK-nahen kurdisch-militanten Jugendlichen in mehreren Städten im
       Südosten aufgebaut wurden, um dort sogenannte Befreite Zonen einzurichten –
       Zonen, aus denen der türkische Staat vertrieben werden soll, um dort ein
       selbstverwaltetes Gebiet zu erkämpfen. In martialischen Worten verkündete
       Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan mehrmals, die Armee werde diese Zonen
       zurückerobern und so lange dortbleiben, bis das Gebiet von allen
       „Terroristen“ gesäubert ist.
       
       Eine dieser Zonen ist Sur, ein Bezirk, der etwa die Hälfte der historischen
       Altstadt der kurdischen Millionenmetropole Diyarbakır umfasst. Sur war
       schon immer ein Zentrum des kurdischen Widerstands, jetzt ist der Bezirk zu
       einem Kriegsgebiet geworden. Seit im Juli der Waffenstillstand zwischen der
       kurdischen Guerilla PKK und der türkischen Regierung von Staatspräsident
       Erdoğan aufgekündigt wurde, wird in Sur gekämpft.
       
       Seit dem 17. August gab es in Sur mehrfach Ausgangssperren, in denen die
       Bevölkerung ihre Häuser nicht verlassen durfte. Mit Panzern und schwerem
       Gerät geht die Armee gegen die Barrikaden vor. In einem regelrechten
       Häuserkampf zerstört die Armee die Häuser, in denen sie kurdische Militante
       vermutet. Nach und nach ist ein großer Teil der zuletzt 57.000 Bewohner von
       Sur aus der Altstadt geflohen, wer noch da ist, wird von der Armee als
       „Terrorist“ verfolgt.
       
       ## Eine Katastrophe für die Stadt
       
       „Die Armee hat das größte Hotel der Altstadt besetzt, auf dem Dach ihre
       Scharfschützen positioniert und schießt nun von dort auf alles, was sich
       bewegt“, berichtet Ercan Ayboğa, der in Diyarbakır zu dem Team gehört, das
       die Anerkennung der Altstadt als Weltkulturerbe durch die Unesco
       vorbereitet hat.
       
       „Im Juni kam die Anerkennung als Weltkulturerbe“, erzählt Ayboğa, „drei
       Wochen später gingen die Kämpfe los. Für die Stadt ist das eine
       Katastrophe. Die komplette Entwicklung der letzten Jahre wird vernichtet.“
       Nicht nur, dass das gesamte Leben stillsteht und der Tourismus zum Erliegen
       gekommen ist, auch jahrhundertealte Kulturdenkmäler werden zerstört. Eine
       Moschee aus dem 15. Jahrhundert brannte aus, auch die in den letzten Jahren
       wiederaufgebaute armenische Surp-Giragos-Kirche wurde beschädigt.
       
       Dabei hatte Diyarbakır sich in den letzten zehn Jahren relativen Friedens
       zwischen Staat und PKK enorm entwickelt. Um die Altstadt herum entstanden
       Neubauviertel, in denen Parks und Sportplätze ein für den kurdischen
       Südosten bis dahin völlig neues Lebensgefühl entstehen ließ. In Diyarbakır
       entwickelte sich eine ökonomisch gefestigte Mittelschicht, die jetzt mit
       Entsetzen hinnehmen muss, das der vermeintlich überwunden geglaubte Krieg
       zurück ist.
       
       „Es gibt natürlich auch etliche Leute, die die PKK dafür verantwortlich
       machen“, sagt Ercan Ayboğa. „Aber die Mehrheit sieht doch in Erdoğan und
       seiner Regierung das Hauptproblem.“ Diese Einschätzung wird dadurch
       bestätigt, dass fast alle Geschäftsleute immer wieder aus Protest ihre
       Läden schließen. „Am Montag“, sagt Ayboğa, „waren 99 Prozent aller
       Geschäfte in der gesamten Stadt geschlossen.“ Seit auch HDP-Co-Chef
       Selahattin Demirtaş vor wenigen Tagen zum Widerstand aufrief, nahmen die
       Proteste noch erheblich zu.
       
       „Beide Seiten, sowohl die regierende AKP als auch die kurdische Bewegung,
       fühlen sich im Moment stark“, sagt Ercan Ayboğa. „Ich glaube nicht, dass
       die Kämpfe bald aufhören oder der Widerstand zusammenbricht. Eher muss sich
       der Staat zurückziehen.“
       
       22 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
       ## TAGS
       
   DIR Kurden
   DIR Diyarbakir
   DIR Schwerpunkt Türkei
   DIR PKK
   DIR Recep Tayyip Erdoğan
   DIR Schwerpunkt Syrien
   DIR Kurden
   DIR Schwerpunkt Türkei
   DIR PKK
   DIR Schwerpunkt Türkei
   DIR Schwerpunkt Türkei
   DIR PKK
   DIR Schwerpunkt Türkei
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Attentate in der Türkei: Syrischer Filmemacher ermordet
       
       Nadschi Dscherf, der die Gräueltaten des „Islamischen Staates“ in
       Nordsyrien dokumentierte, wurde am Sonntag im Zentrum von Gaziantep
       erschossen.
       
   DIR Kurdischer Protest in Düsseldorf: 15.000 gegen türkische Offensive
       
       Ursprünglich ging man nur von 7.000 TeilnehmerInnen aus: In Düsseldorf fand
       am Samstag eine Demo gegen das Vorgehen der Türkei in den Kurdengebieten
       statt.
       
   DIR Protokoll aus Diyarbakir: Vorbei, der Krieg ist da
       
       Im türkischen Kurdistan geht der Staat brutal gegen jede Opposition vor.
       Unser Autor fragt, wo die deutsche Empörung über die Gewalt bleibt.
       
   DIR Kommentar Eskalation Kurdenkonflikt: Europas dröhnendes Schweigen
       
       Der Konflikt zwischen Türken und Kurden eskaliert. Europa hält sich zurück.
       Dabei sollte gerade Deutschland vermitteln – in eigenem Interesse.
       
   DIR Konflikt in der Türkei: Deutschland sponsort Gewalt
       
       Grüne und Linkspartei fordern einen Stopp: Alleine 2014 genehmigte die
       Regierung Export von Rüstungsgütern in Millionenhöhe in die Türkei.
       
   DIR Türkei geht gegen PKK vor: Häuserkampf im Wohngebiet
       
       Mit Panzern und Scharfschützen kämpfen türkische Sicherheitskräfte gegen
       die PKK. Mehr als 100 Menschen sind bereits getötet worden.
       
   DIR Brandanschlag auf Moschee in Stuttgart: Ein Echo aus der Türkei
       
       Nach der Attacke deutet viel darauf hin, dass die Täter aus dem PKK-Umfeld
       stammen. Migrantenverbände warnen vor kurdisch-türkischen Spannungen.
       
   DIR Türkischer Staat gegen Kurden: 23 Menschen getötet
       
       Panzer fahren in den Straßen, Soldaten dringen in Häuser ein. Die Situation
       in der Südosttürkei spitzt sich zu. Der Einsatz ist gegen die PKK
       gerichtet.