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       # taz.de -- Kurs der Keniakoalition in Sachsen: Menschlicher abschieben?
       
       > Sachsen will Geflüchtete künftig freundlicher in ihre Herkunftsländer
       > zurück zwingen. Nachtabschiebungen und Familientrennung bleiben.
       
   IMG Bild: Polizisten überwachen die Ankunft abgelehnter Asylbewerber auf dem Flughafen Leipzig
       
       Leipzig taz | Nach langem Streit hat sich die schwarz-rot-grüne
       Landesregierung in Sachsen auf den sogenannten Leitfaden Rückführungspraxis
       geeinigt. Dieser legt Regeln zur Abschiebung abgelehnter
       Asylbewerber:innen fest und soll dafür sorgen, dass Abschiebungen aus
       Sachsen künftig weniger unmenschlich ablaufen.
       
       Der Leitfaden ist Teil des 2019 geschlossenen Koalitionsvertrages. Nach
       fast zwei Jahren und mehreren Aufforderungen hatte das CDU-geführte
       Innenministerium im Oktober 2021 [1][erstmals einen Entwurf vorgelegt.]
       Diesen haben SPD und Grüne scharf kritisiert. Seither wurde der Leitfaden
       überarbeitet.
       
       Obwohl SPD und Grüne immer wieder gefordert haben, Familien mit
       minderjährigen Kindern nicht zwischen 20 Uhr abends und 6 Uhr morgens
       abzuschieben, verbietet der neue Leitfaden Nachtabschiebungen nicht – auch
       nicht von Familien. Zwar sollen Abschiebungen „soweit möglich“ tagsüber
       durchgeführt werden. Sei aber eine Abschiebung „zur Tagzeit nicht möglich,
       ist eine Vollstreckung zur Nachtzeit in Betracht zu ziehen, insbesondere,
       wenn dies im Hinblick auf den Abflugtermin erforderlich ist“, so steht es
       in dem 21 Seiten langen Papier.
       
       Darüber hinaus sollen Familien „möglichst“ nicht getrennt, sondern
       „grundsätzlich gemeinsam“ abgeschoben werden – Familientrennungen sind also
       nicht gänzlich untersagt. Weiterhin heißt es, dass Kleinkinder bis zu einem
       Alter von drei Jahren nicht von ihren Eltern, auch nicht nur von einem
       Elternteil, getrennt werden sollen.
       
       ## „Ein Fall von Kindeswohlgefährdung“
       
       Petra Čagalj Sejdi, die asylpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, hat
       diese Passage schon im Oktober scharf kritisiert: Es sei für alle Kinder
       traumatisierend, wenn sie von einem Elternteil getrennt würden, „auch für
       Kinder über zehn Jahre“.
       
       Der Leitfaden sieht außerdem vor, dass Minderjährige „grundsätzlich“ nicht
       aus der Kita oder der Schule zur Abschiebung abgeholt werden sollen, auch
       eine Abholung vom Arbeitsplatz solle „möglichst“ vermieden werden.
       Ausdrücklich verboten sind aber auch diese Maßnahmen künftig nicht.
       
       Noch im November 2021 wurde ein sieben Jahre alter Junge aus
       Tschetschenien in Delitzsch aus der Grundschule von der Bundespolizei
       abgeholt, um abgeschoben zu werden. Diesen Vorfall kritisierten Linke, SPD
       und Grüne stark. „Das entspricht nicht unserer Vorstellung von Humanität
       und ist ein Fall von Kindeswohlgefährdung“, sagte etwa die
       Grünen-Politikerin Čagalj Sejdi.
       
       Immerhin: In dem Leitfaden ist festgeschrieben, dass das Kindeswohl bei
       Abschiebungen stärker berücksichtigt werden soll. Künftig sollen sich
       Betreuer:innen um die anwesenden Kinder kümmern und ihnen die Situation
       kindgerecht erklären.
       
       ## Nur ein erster Schritt?
       
       Sowohl die CDU als auch die SPD und Grüne bezeichnen den Leitfaden als
       „Kompromiss“. Für Grünen-Politikerin Čagalj Sejdi und Albrecht Pallas, den
       innenpolitischen Sprecher der SPD im Sächsischen Landtag, sei der Leitfaden
       nur ein erster notwendiger Schritt hin zu mehr Menschlichkeit.
       
       Die Linksfraktion im Sächsischen Landtag erwarte aufgrund des Leitfadens
       keine tiefgreifenden Änderungen in der [2][„harten“ Abschiebepraxis
       Sachsens], wie die migrationspolitische Sprecherin Juliane Nagel der taz
       mitteilte. Statt eines Leitfadens fordere die Linksfraktion ohnehin,
       Abschiebungen generell zu vermeiden. „Menschen, die seit Langem hier leben
       und gut integriert sind, müssen die Chance auf einen sicheren Aufenthalt
       bekommen“, sagte Nagel der taz.
       
       Auch Dave Schmidtke vom sächsischen Flüchtlingsrat lehnt das Konzept
       Leitfaden für Abschiebungen ab: „Abschiebungen geschehen gegen den Willen
       der Menschen und zerstören in vielen Fällen Existenzen, die über Jahre
       aufgebaut wurden.“
       
       Nach Angaben des sächsischen Innenministeriums haben die Ausländerbehörden
       nun bis zum 1. Juni Zeit, um sich mit dem Leitfaden vertraut zu machen und
       ihre Abläufe an die neuen Regeln anzupassen.
       
       22 Feb 2022
       
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